Russlands BIP-Wachstum: Prognosen 2021 deutlich gestiegen

Trotz wohl gesunkenem Bruttoinlandsprodukt im Juli und August

In der jüngsten Konjunktur-Umfrage der russischen Zentralbank bei Banken und Forschungsinstituten stieg die Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 4,2 Prozent. Die Konjunkturforschungsabteilung der Moskauer „Higher School of Economics“ rechnet für 2021 jetzt sogar mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 4,6 Prozent.

Allerdings hat sich der Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank seit April nicht weiter fortgesetzt. Im Juli nahm das BIP gegenüber Juni um 0,6 Prozent ab. Es war damit rund ein Prozent niedriger als im April. Die in der letzten Woche veröffentlichten Ergebnisse der IHS-Markit-Umfrage bei russischen Unternehmen deuten außerdem auf einen weiteren Rückgang der Produktion im August hin.

Optimistische HSE-Prognose für 2021: +4,6 Prozent

Nikolay Kondrashov, Konjunkturforscher der Moskauer „Higher School of Economics“, kommt in einer detaillierten Analyse der Wirtschaftsentwicklung in den beiden ersten Quartalen 2021 zum Ergebnis, dass sich das Wachstum des Brüttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2021 gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt auf 2,3 Prozent beschleunigte. Im gesamten ersten Halbjahr 2021 sei die gesamtwirtschaftliche Produktion 4,7 Prozent höher gewesen als im ersten Halbjahr 2020 (laut ersten Rosstat-Berechnungen betrug der Anstieg 4,8 Prozent).

Im dritten und vierten Quartal erwartet Kondrashov aber nur noch einen schwachen weiteren Produktionsanstieg. Er geht davon aus, dass das BIP von Quartal zu Quartal nur noch um jeweils 0,2 Prozent steigen wird und im Jahresvergleich 2021/2020 eine Wachstumsrate von 4,6 Prozent erreicht wird.

Für ein weiteres, wenn auch stark abgeschwächtes Wachstum im zweiten Halbjahr nennt Kondrashov folgende Argumente:

  • Russlands Ölförderung wird entsprechend den Vereinbarungen der OPEC+ monatlich um 1 Prozent erhöht. Dabei ist mit einer Stabilisierung der Ölpreise bei 70 Dollar/Barrel zu rechnen.
  • Die staatlichen Ausgaben sollen in diesem Jahr wachsen.
  • Die Zinserhöhungen der Zentralbank werden die Konjunktur nicht sofort dämpfen.
  • Die Erholung der Weltwirtschaft setzt sich fort. Der IWF rechnet 2021 mit einem Wachstum von 6 Prozent.
  • Die „dritte Welle“ der Pandemie, die im Juni und Juli an Kraft gewann, wirkte sich im Juni nur schwach auf die Wirtschaftsleistung aus. Es ist zu erwarten, dass sie viel geringere Auswirkungen auf die Wirtschaft haben wird als die „zweite Welle“.

Selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Halbjahr stagniert, wird es laut Kondrashov im Gesamtjahr 2021 gegenüber 2020 um 4,4 Prozent wachsen.

Sberbank-Chef Gref: Auch der Rückgang der Einkommen wird 2021 aufgeholt

Einen ähnlich starken Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion hält German Gref, Vorstandsvorsitzender der Sberbank, für möglich. Er meinte kürzlich in einem TV-Interview, Russlands Wirtschaft könne im Jahr 2021 um rund 4,5 Prozent wachsen. Niemand habe mit einem Wirtschaftswachstum von gut 10 Prozent im zweiten Quartal gerechnet. Alle Prognosen seien davon ausgegangen, dass das Bruttoinlandsprodukt bestenfalls Ende 2021 oder vielleicht im ersten Quartal 2022 wieder auf dem vor der Krise im Jahr 2019 erreichten Niveau sein werde. Der Produktionsrückgang des letzten Jahres sei aber schon im ersten Halbjahr 2021 vollständig aufgeholt worden. Am Ende des Jahres 2021 werde auch der Rückgang der Einkommen der Bevölkerung ausgeglichen sein.

DekaBank: Einmalzahlungen stützen Russlands Konjunktur

Daria Orlova, Russland-Expertin der Frankfurter DekaBank, hob in den „Emerging Markets Trends“ am Freitag mit Hinweis auf die starke Produktionssteigerung im zweiten Quartal ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 3,8 auf 4,5 Prozent an.

Gleichzeitig macht sie aber darauf aufmerksam, dass Indikatoren am aktuellen Rand auf eine Verlangsamung des Aufschwungs im zweiten Halbjahr hindeuten. So sei zum Beispiel der Einkaufsmanagerindex im verarbeitenden Gewerbe im August erneut zurückgegangen und notiere nun den dritten Monat in Folge unterhalb der Rezessionsschwelle von 50 Punkten (August: 46,5).

Unterstützung werde Russlands Konjunktur von den Einmalzahlungen an Rentner, Militär und Sicherheitskräfte sowie an Haushalte mit Schulkindern erhalten, die vor der Parlamentswahl im September angekündigt wurden. Die Zahlungen in Höhe von umgerechnet 120 bis 180 Euro dürften primär in den Konsum und nicht in die Ersparnis fließen. Nachdem die „Nachkrisenerholung“ abgeschlossen ist, erwartet die DekaBank, dass die russische Wirtschaft zu dem niedrigen Wachstum zurückkehrt, das  aufgrund struktureller Probleme bereits vor der Krise zu verzeichnen war. 2022 werde sie nur noch um 2,2 Prozent wachsen.

Wachstumsprognosen für 2021 in Analysten-Umfragen stark gestiegen

Auch die jüngsten Umfragen bei Banken und Forschungsinstituten ergaben kräftig gestiegene Wachstumsprognosen für 2021. In der August-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters wird jetzt ein Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent erwartet (Juli-Umfrage: +3,9 Prozent). In der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage der Zentralbank wurde eine Wachstumsprognose von 4,2 Prozent ermittelt Sechs Wochen zuvor rechneten die Befragten noch mit lediglich 3,5 Prozent Wachstum.

Eine Vedomosti-Umfrage ergab im Vergleich mit den jüngsten Reuters- und Zentralbank-Umfragen eine etwas niedrigere Wachstumserwartung von 3,9 Prozent. Der Präsident des Industriellen- und Unternehmerverbandes, Alexander Shokhin, meinte beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok die gesamtwirtschaftliche Produktion werde 2021 um 3,5 bis 4,0 Prozent steigen. Gleichzeitig unterstrich er, dass im nächsten Jahr ein Rückgang der Wachstumsrate auf 2,5 Prozent zu erwarten sei.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202120222023
DekaBank, Frankfurt03.09.214,52,2 
Commerzbank, Frankfurt03.09.213,93,1 
Helaba, Frankfurt03.09.213,02,0 
Zentralbank-Umfrage02.09.214,22,42,2
Vedomosti-Umfrage01.09.213,92,5 
Reuters-Umfrage31.08.214,32,6 
Higher School of Economics30.08.214,62,5 
Vnesheconombank Institute25.08.214,5 Urals 64 $/b2,4 Urals 56 $/b2,3 Urals 54 $/b
Raiffeisen Bank International Wien18.08.213,01,3 
Economist Intelligence Unit, London17.08.213,52,61,9
Alfa Bank, Moskau16.08.214,4  
OPEC, Wien12.08.213,22,5 
Higher School of Economics-Umfrage11.08.214,02,52,2
Interfax-Umfrage04.08.213,92,3 
FocusEconomics Consensus03.08.213,52,62,3
CMASF, Moskau02.08.213,62,3 
RIA Rating, Moskau30.07.214,0  
Sberbank29.07.214,23,3 
Internationaler Währungsfonds27.07.214,43,1 
Russische Zentralbank23.07.214,0 bis 4,5 Urals 65 $/b2,0 bis 3,0 Urals 60 $/b2,0 bis 3,0 Urals 55 $/b
Wirtschaftsministerium08.07.213,8 Urals 65,9 $/b3,2 Urals 64,8 $/b3,0 Urals 60,8 $/b

2022 wird meist nur noch rund 2,5 Prozent Wachstum erwartet

Wie Shokhin und auch das HSE-Institut rechnet die große Mehrheit der Beobachter im nächsten Jahr mit einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums auf rund 2,5 Prozent. Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank, über dessen jüngste mittelfristige Prognose Ostexperte.de in der letzten Woche berichtete, geht ebenfalls davon aus, dass sich das Wachstum von 4,5 Prozent in diesem Jahr auf 2,4 Prozent im nächsten Jahr abschwächt.

Etwas mehr als 3 Prozent Wachstum, wie die Ende Juli veröffentlichte IWF-Prognose, erwarten für 2022 nur wenige Beobachter. Das Wirtschaftsministerium dürfte in wenigen Tagen seine neuen Prognosen veröffentlichen. In seinem Entwurf für die Haushaltsplanung ging es Anfang Juli davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum von 3,8 Prozent im Jahr 2021 auf 3,2 Prozent im nächsten Jahr abschwächt.

Die Zentralbank bestätigte am Freitag in einer Veröffentlichung zu den Leitlinien der Geldpolitik ihre bisherige Einschätzung, dass die russische Wirtschaft 2022 voraussichtlich nur noch um 2 bis 3 Prozent wächst (nach einem Anstieg um 4 bis 4,5 Prozent in diesem Jahr).

VEB-Institut: Im Juli sank das BIP gegenüber Juni

Im Verlauf der Monate Mai, Juni und Juli hat sich die gesamtwirtschaftliche Produktion nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank bereits etwas abgeschächt. ImJuli sank sie gegenüber Juni saison- und kalenderbereinigt um 0,6 Prozent. Seit April ist das Bruttoinlandsprodukt damit nach Schätzung des VEB-Instituts um insgesamt rund ein Prozent zurückgegangen.

Index des Bruttoinlandsprodukts; Schätzung (Jan. 2014=100)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review; 03.09.2021

Rückläufig war die Produktion im Juli laut VEB-Institut in den Industrie-Bereichen „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ und „Verarbeitendes Gewerbe“, sowie in der Bauwirtschaft und im Transportgewerbe.

Vor allem der reale Umsatz der Dienstleister brach im Juli ein

Wie die folgende Abbildung zeigt, sank die Produktion aber auch im Einzelhandel sowie im Dienstleistungsbereich. Der reale Einzelhandelsumsatz (schwarze Linie) ging den dritten Monat in Folge zurück (Juli/Juni: – 0,3 Prozent). Der reale Umsatz der Dienstleistungsunternehmen (dunkelgrüne Linie) brach im Juli angesichts von Einschränkungen der Produktion zur Bekämpfung der Pandemie gegenüber Juni um 5,0 Prozent ein. Dabei waren die Reallöhne (graue Linie) im Juni 4,9 Prozent höher als vor einem Jahr.

Reallöhne und Privater Verbrauch (Jan. 2014 = 100)

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review; 03.09.2021

Wo die Produktion noch niedriger ist als vor zwei Jahren

Dass viele Bereiche der russischen Wirtschaft den Produktionsrückgang im Lockdown des Jahres 2020 überwunden haben, zeigt sich, wenn man die Produktion in den ersten sieben Monaten des Jahres 2021 mit der Produktion in den ersten sieben Monaten des „Vorkrisenjahres“ 2019 vergleicht. Olga Belenkaya, Analystin des Finanzportals FINAM, hat dazu in ihrem Konjunkturbericht für Juli eine Tabelle und zahlreiche Abbildungen veröffentlicht. Im Vergleich Januar bis Juli 2021 gegenüber Januar bis Juli 2019 wurden folgende Wachstumsraten erreicht.

  • Industrieproduktion insgesamt: + 2,0 Prozent
  • Verarbeitendes Gewerbe: + 6,0 Prozent
  • Realer Einzelhandelsumsatz: + 4,3 Prozent
  • Bauproduktion: + 6,0 Prozent
  • Agrarproduktion: + 3,7 Prozent

Niedriger als vor zwei Jahren war die Produktion im Januar bis Juli 2021 in folgenden Bereichen:

  • Bergbau, Förderung von Rohstoffen: – 3,9 Prozent
  • Transportgewerbe: – 0,9 Prozent
  • Dienstleistungen für die Bevölkerung: – 2,0 Prozent
Olga Belenkaya; Finam.ru: Russian economy in July – growth slowdown after recovery; 02.09.2021

Die Konjunkturerholung zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote sank im Juli 2021 auf 4,5 Prozent. Ein Jahr zuvor betrug sie 6,3 Prozent.

Im August ist laut Einkaufsmanager-Umfrage die Produktion erneut gesunken

Erste Hinweise, ob die gesamtwirtschaftliche Produktion auch im August gesunken ist, bietet die „Einkaufmanager-Umfrage“ von IHS Markit. Auf der Basis von Befragungen von Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungsbereichs ermittelt IHS Markit einen „kombinierten Produktionsindex“. In der folgenden Abbildung ist die monatliche Entwicklung dieses „Composite PMI Output Index“ (schwarze Linie, linke Skala) der vierteljährlichen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (rote Linie, rechte Skala) gegenübergestellt.

Jüngster Wert für die Produktionsentwicklung ist der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2021 um 10,3 Prozent gegenüber dem zweiten Quartal 2020.

Der von IHS Markit berechnete „kombinierte Produktionsindex“ sank von Juli auf August von 51,7 Indexpunkten auf 48,2 Indexpunkte. Damit wurde – wie in der Abbildung erkennbar – die „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten unterschritten. Ein Unterschreiten von 50 Indexpunkten gilt als Hinweis, dass die Produktion im Vergleich mit dem Vormonat gesunken ist. IHS Markit überschreibt die folgende Abbildung deswegen:

„Erneuter Rückgang der Produktion des privaten Sektors im August“

IHS Markit: Russia Services PMI: August sees first contraction in activity since December; 03.09.2021

IHS Markit: Niedrigere Produktionserwartungen für das kommende Jahr

Zur Entwicklung von Produktion, Aufträgen, Preisen und Beschäftigung berichtet IHS Markit aufgrund der Befragung vom August:

Der Produktionsrückgang wurde zum Teil durch eine Abnahme des Auftragseingangs im privaten Sektor verursacht. Sowohl aus dem Inland als auch aus dem Ausland gingen weniger Aufträge ein.

Das führte auch zu einer Abnahme der Zahl der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich. Der Anstieg der Einkaufspreise war zwar der niedrigste in den letzten sieben Monaten, blieb aber auch im August auf einem hohen Niveau. Die Verkaufspreise wurden scharf erhöht.

Angesichts der schwächeren Nachfrage und der steigenden Preise nahmen die Unternehmen ihre Produktionserwartungen für das kommende Jahr zurück. Obwohl sich die Stimmung im Verarbeitenden Gewerbe verbesserte, sank die Zuversicht der Unternehmen in die weitere Entwicklung insgesamt auf den niedrigsten Stand seit November 2020.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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