Russlanddeutsche: “Wer die Geschichte kennt, ist achtsamer”

Erinnerungsprojekt über Deutsche in Wolhynien

Über das Schicksal der sogenannten Spätaussiedler herrscht viel Unwissen – nicht nur in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch bei den Russlanddeutschen selbst, wie Irina Peter erzählt. Eine Reise auf den Spuren ihrer Großeltern inspirierte sie zu einem Erinnerungsprojekt.

Wenn Irina Peter früher Freunde zum Spielen erwartete, versteckte sie zuerst die Tassen mit dem sowjetischen Muster. “Ich wollte so deutsch sein, wie nur möglich”, erzählt sie. Selbst ihr russischer Vorname war ihr peinlich, und der ostpreußische Dialekt ihrer Eltern mit den altertümlichen Begriffen sowieso. “Ich habe alles dafür getan, um angepasst zu sein.” Trotzdem hatte sie immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen: Warum sieht sie nicht kasachisch aus, wenn sie dort geboren ist, warum hat sie einen russischen Vornamen, warum spricht sie so gut Deutsch?

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Irina Peter in Kasachstan, bevor sie mit ihren Eltern 1992 nach Deutschland zog. Ihre Vorfahren gehören zur Gruppe der deutschen Siedler im russischen Reich. Über 200 Jahre lang lebten die “Russlanddeutschen” in den weitläufigen Gebieten an der Wolga, im Schwarzen Meer oder in der Ukraine. Unter Stalin wurden sie nach Kasachstan deportiert, in Arbeitslager gesteckt oder erschossen.

“Das wird oft vergessen. Wir sind nicht nur aufgrund unserer Herkunft nach Deutschland ausgewandert, sondern auch weil wir über Generationen Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren mussten.” Das Feindbild des Deutschen Faschisten sei jahrzehntelang aufrechterhalten worden.  Zurück in Deutschland waren die Spätaussiedler dann einfach “die Russen”, mussten mit Behörden und Bewohnern um Anerkennung kämpfen. Irina Peter spricht von einer “doppelten Ausgrenzerfahrung”.

“Unwissen auf beiden Seiten”

2018 reiste Irina Peter in das ukrainische Dorf, aus dem ihre Großeltern deportiert wurden.

Doch nicht nur die Deutschen in der BRD, auch viele Russlanddeutsche würden über die Geschichte gar nicht mehr Bescheid wissen. “Manche aus der zweiten und dritten Generation sehen sich als Russen.” Viele Junge hätten idealisierte Vorstellungen, würden das Land und seinen Präsidenten gar verherrlichen. “Das ist mir echt ein Rätsel, wie die diese Verbindung herstellen. Allerdings findet das Thema russlanddeutsche Geschichte im Unterricht auch kaum statt. Auch innerhalb russlanddeutscher Familien wird oft wenig über die Zeit unter Stalin gesprochen, weil diejenigen, die die Jahre miterlebt hatten, ihre Erfahrungen aus Angst nicht weitergaben.”

Auch bei ihr hat es gedauert, bis sie sich auf die Spuren der Vergangenheit begab. “Ich war super assimiliert, konnte gar kein Russisch mehr und habe mich auch von der Kultur völlig entfernt.” Doch eine Sache ließ sie nicht los: Die Sehnsucht ihrer Großeltern nach ihrer alten Heimat, der Region Wolhynien im Nordwesten der Ukraine. “Ich habe leider nur wenig bewusste Erinnerungen, aber ich weiß, dass sie immer davon erzählt haben, Lieder gesungen haben. Ich musste selbst sehen, wonach sie sich so gesehnt hatten.”

2018 macht sie sich auf in die Ukraine, zusammen mit der Autorin Katharina Martin-Virolainen, die das gleiche Schicksal teilt: Auch sie hat Vorfahren, die aus Wolhynien nach Kasachstan deportiert wurden. Gemeinsam besuchen sie die ehemaligen Dörfer ihrer Großeltern, Orte die es gar nicht mehr gibt, die längst neue Namen und neue Bewohner haben. “Ich war völlig überwältigt, extrem mitgenommen”, sagt Irina Peter. Ein Familienforscher hilft ihnen, einen vergessenen deutschen Friedhof im Wald aufzufinden. Darüber wird Peter später schreiben:

„Plötzlich packt auch mich der Schmerz. Als hätte er die ganze Zeit hinter einem Baum gelauert. Er schüttelt mich, hält mich dabei fest in seinem Griff und schlägt mir Tränen in die Augen. Diese kleine, hölzerne Gedenkstätte ist mein Schlüssel. Sie beweist: Unsere Groß- und Urgroßeltern haben wirklich existiert. Genau hier, wo wir jetzt stehen. Diese Erde war ihre Heimat. Wie sehr müssen sie sich nach dieser Landschaft mit ihren grünen Hügeln voller Obstbäume gesehnt haben. Wie brutal war der Kontrast zur kargen, kasachischen Steppe, in die Stalin und seine Leute sie geschickt haben.“ [1]

Erinnerungs-Workshop für junge Autoren

Weil Peter und Martin-Virolainen ihre Erfahrungen teilen wollen, haben sie das Projekt “Deutsche Geschichte in Wolhynien” initiiert. Dabei handelt es sich um einen Workshop für Nachwuchsautoren aus Deutschland und der Ukraine.

Auf ihrer Reise befragten sie Dorfbewohner nach den deutschen Siedlern. Die meisten sind allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg hergezogen.

Zehn junge Menschen werden sich Ende Oktober in Wolhynien mit der Geschichte deutscher Siedler befassen, mit Zeitzeugen sprechen, und Archive besuchen. Ihre Ergebnisse verarbeiten sie dann in Reportagen, Kurzgeschichten, Gedichten und einem Dokumentarfilm –  unter Anleitung von erfahrenen Journalisten und Videokünstlern aus Deutschland und der Ukraine. Die Teilnehmer lernen also gleichzeitig Geschichte und journalistische Darstellungsformen.

Dabei steht nicht allein die Ausgrenzung der Russlanddeutschen im Vordergrund, denn: “In der Geschichte mussten aus jeder Gruppe Menschen leiden”, sagt Irina Peter. Es gehe bei dem Projekt vor allem um Völkerverständigung und Frieden. “Wenn man die Geschichte kennt, ist man achtsamer, wenn bestimmte Bestrebungen wieder aufflackern. Geschichtskenntnis ist eine Voraussetzung für Demokratie.”

Interessierte können sich bis zum 1. September bewerben.
Alle Infos zum Projekt unter deutsche-in-wolhynien.de.

Irina Peter
Irina Peter wurde in Kasachstan geboren und lebt in Mannheim. Sie arbeitet als Journalistin, PR-Beraterin und Kulturschaffende. Artikel von ihr über die Geschichte ihrer Großeltern und ihre Perspektive als Russlanddeutsche findet ihr hier.

[1] Literaturalmanach „ZwischenHeimaten“ 2019 

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Fotos: privat
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