Russische Wirtschaft: Regierung will Wachstumsprognose für 2021 senken

2020 war das Bruttoinlandsprodukt nur 3,0 Prozent niedriger als 2019

„Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung wird seine Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2021 senken.“ Das kündigte Wirtschaftsminister Reschetnikow am 2. April an. Mitte April will er die neue Prognose veröffentlichen. Viele werden sich gewundert haben, dass die Regierung ihre Wachstumsprognose (bisher: + 3,3 Prozent) senken will. Noch Ende März hatte die Weltbank ihre Prognose für Russlands BIP-Wachstum im Jahr 2021 von 2,6 Prozent auf 2,9 Prozent angehoben. Warum will die Regierung ihre Prognose senken?

2020 war das BIP höher als erwartet

Zur Erklärung verwies der Minister laut Finmarket.ru darauf, Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion habe 2020 weniger stark abgenommen als die Regierung bei ihrer letzten Prognose im September erwartete. Damals ging sie für 2020 von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,9 Prozent aus. Tatsächlich ist die gesamtwirtschaftliche Produktion im letzten Jahr aber nur 3,0 Prozent niedriger gewesen als 2019. Das teilte das Statistikamt Rosstat in seiner zweiten Schätzung am 01. April mit.

Im September hatte die Regierung der russischen Wirtschaft für 2021 einen Anstieg der Produktion um 3,3 Prozent gegenüber 2020 zugetraut. Im letzten Jahr war das Bruttoinlandsprodukt tatsächlich aber merklich höher als sie damals erwartete. Im Vergleich mit diesem gestiegenen Basiswert rechnet die Regierung laut Reshetnikov jetzt für 2021 mit einem etwas geringeren prozentualen Wachstum.

Damit wird sie sich vielen anderen Prognosen nähern. Bei einer Anfang April veröffentlichten Interfax-Umfrage bei russischen Banken und Institute ergab sich für 2021 eine durchschnittliche Wachstumserwartung von 2,9 Prozent. Bei der internationalen Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics wurde im Februar auch ein Durchschnittswert von 2,9 Prozent ermittelt.

Die Zentralbank ging in ihrer mittelfristigen Prognose vom Februar für 2021 von einem BIP-Wachstum von 3,0 bis 4,0 Prozent aus. Sie will ihre Prognose am 24. April aktualisieren.

Vierteljährliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zeigt die Erholung

Rosstat berichtete am 01. April auch über die vierteljährliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts.

  • Im zweiten Quartal 2020, als der Lockdown verhängt wurde, war das Bruttoinlandsprodukt im Vorjahresvergleich um 7,8 Prozent eingebrochen.
  • Im dritten Quartal schwächte sich der BIP-Rückgang gegenüber dem Vorjahr bereits um gut die Hälfte auf 3,5 Prozent ab.
  • Im vierten Quartal verlangsamte er sich sogar auf 1,8 Prozent. Die Nachfrage der privaten Haushalte erholte sich weiter. Russlands Ausfuhren von Energie waren jedoch wegen der im Rahmen der OPEC+ vereinbarten Einschränkungen weiterhin niedriger als im Vorjahr.

Minister Reschetnikov erwartet, dass sich das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2021 voraussichtlich etwa auf dem im vierten Quartal 2020 erreichten Stand gehalten hat. Berücksichtige man, dass das Jahr 2020 ein Schaltjahr mit einem zusätzlichen Tag war, könne die Wirtschaftsleistung „kalenderbereinigt“ etwas gewachsen sein.

Rosstat: Das BIP sank im Gesamtjahr 2020 nur um 3,0 Prozent

Im Blick auf das gesamte Jahr 2020 zeigen die Rosstat-Daten: Zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,0 Prozent trug im Bereich „Handel/Dienstleistungen“ hauptsächlich die niedrigere Produktion der Branchen „Groß- und Einzelhandel, KFZ-Gewerbe“ (-2,9 Prozent gegenüber 2019) sowie „Transport“ (- 10,6 Prozent) bei.

Noch stärkere Einbrüche gab es im Hotel- und Gaststättengewerbe (- 24,5 Prozent) und im Bereich „Kultur, Sport, Erholung“ (-11,4 Prozent). Ihre Anteile am Bruttoinlandsprodukt sind aber relativ gering (0,7 bzw. 0,9 Prozent).

In der Industrie sank 2020 insbesondere die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (- 9,5 Prozent), der 9,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stellt. Das „Verarbeitende Gewerbe“ (BIP-Anteil: 14,8 Prozent) erholte sich hingegen im Verlauf des letzten Jahres trotz der corona-bedingten Behinderungen der Produktion rasch. Im letzten Vierteljahr 2020 war seine Produktion 2,0 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Im Jahresdurchschnitt 2021 hielt sich die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe auf dem Vorjahresstand.

Die Krise traf vor allem den privaten Verbrauch

Bei der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts für Verbrauch und Investitionen zeigt sich, dass 2020 vor allem die privaten Haushalte unter der Krise zu leiden hatten. Ihr Verbrauch nahm um 8,6 Prozent ab. Der Staatsverbrauch wurde zur Stützung der Produktion hingegen um 4 Prozent erhöht. Die Anlageinvestitionen sanken um 4,3 Prozent. Insgesamt nahmen die Investitionen aber nur um 2 Prozent ab. Dazu trug die Erhöhung der Lagervorräte bei.

Die Einfuhren nach Russland wurden im Krisenjahr 2020 um rund 12 Prozent eingeschränkt. Die Abwertung des Rubels verteuerte ausländische Produkte. Auslandsreisen waren kaum möglich. Viel schwächer als die Einfuhren sanken die Ausfuhren der russischen Wirtschaft (- 4,3 Prozent). Die außenwirtschaftliche Entwicklung federte damit den Einbruch der Inlandsnachfrage ab.

Die folgende Abbildung aus der gerade veröffentlichten Präsentation der Zentralbank für Investoren zeigt die Beiträge der Verwendungsbereiche zum Rückgang des BIP im Jahr 2020 in Prozentpunkten (allerdings noch auf der Basis der ersten Rosstat-Schätzung, die einen Rückgang des BIP um 3,1 Prozent ergab).

Beiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten zur Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die Weltbank erhöhte ihre Wachstumsprognose für 2021 auf 2,9 Prozent

Kurz vor der Veröffentlichung der neuen Rosstat-Schätzung zur Entwicklung des BIP im Jahr 2020 hob die Weltbank Ende März ihre Prognose für das BIP-Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2021 von 2,6 auf 2,9 Prozent an. Auch für 2022 erwartet sie mit 3,2 Prozent jetzt ein stärkeres Wachstum als bisher (3,0 Prozent).

Zur Begründung verweist die Weltbank auf die rasche Lockerung der COVID-19-bedingten Beschränkungen der Aktivitäten der Unternehmen in Russland. Auch der unerwartet schwache Rückgang des BIP im Jahr 2020 wird von der Weltbank als Hinweis auf eine stärkere Wachstumsdynamik gesehen.

Gleichzeitig betont die Weltbank, dass es weiterhin erhebliche Unsicherheiten und Abwärtsrisiken für Prognosen gebe. Die wirtschaftliche Erholung hänge von der Wirksamkeit der Impfstoffe und der Impfbereitschaft der Bevölkerung ab. Ein weiteres Risiko seien neue Sanktionen.

Weltbank: Die Inflation beschleunigt sich 2021 auf 4,3 Prozent

Im Jahresdurchschnitt 2020 stiegen die Verbraucherpreise in Russland um 3,4 Prozent. Die Weltbank weist darauf hin, dass der Verbraucherpreisanstieg Ende 2020 mit 4,9 Prozent das Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent deutlich übertraf. Ursachen dafür seien hauptsächlich höhere Lebensmittelpreise und die Abschwächung des Rubels gewesen.

Die folgende Abbildung aus der Präsentation der Zentralbank für Investoren zeigt, dass die Lebensmittelpreise (grüne Linie) seit dem Frühjahr 2020 weit stärker gestiegen sind als die Verbraucherpreise insgesamt (rote Linie; CPI, headline). Die Preise im Bereich der Dienstleistungen, der durch die Corona-Pandemie besonders starke Umsatzeinbrüche verzeichnete, stiegen hingegen seit dem Frühjahr 2020 deutlich unterdurchschnittlich (gelbe Linie).

Leitzins der Zentralbank (schwarze Linie) und
Veränderung der Verbraucherpreise gegenüber Vorjahresmonat in Prozent
(Kerninflationsrate; Inflationsrate insgesamt; Preise für Nahrungsmittel, Nicht-Nahrungsmittel und Dienstleistungen)

Zentralbank: „Russia’s Economic Outlook and Monetary Policy“; Seite 10; 05.04.2021

Im Januar und Februar 2021 beschleunigte sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise weiter. Im März 2021 erreichte er voraussichtlich – wie bereits im Februar – 5,7 Prozent. Mitte März dürfte die Inflationsrate aber ihren Höhepunkt überschritten haben.

Im Jahresdurchschnitt 2021 erwartet die Weltbank einen Anstieg der Inflationsrate auf 4,3 Prozent. Die russische Zentralbank geht in ihrer mittelfristigen Prognose für den Jahresdurchschnitt von einem etwas stärkeren Anstieg aus (4,4 bis 4,8 Prozent).

Für Dezember 2021 rechnet die Zentralbank mit einer Preissteigerungsrate von 3,7 bis 4,2 Prozent. Die Inflationserwartungen in der jüngsten Interfax-Umfrage liegen jetzt am oberen Rand dieser Spanne (4,2 Prozent).

Wirtschaftsminister Reschetnikow meinte kürzlich, die durchschnittliche jährliche Inflation werde 2021 höher als 4 Prozent sein. Im Dezember 2021 könnte das Ziel von 4 Prozent aber möglicherweise erreicht werden. Das berichtet Banki.ru.

2022 und 2023 wird sich der Anstieg der Verbraucherpreise laut Weltbank wie von der Zentralbank angestrebt und auch in der Interfax-Umfrage erwartet bei 4 Prozent stabilisieren.

Das Haushaltsdefizit wird abgebaut, die Verschuldung bleibt „beherrschbar“

Nach Einschätzung der Weltbank wird sich das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit Russlands von 4,0 Prozent des BIP im Jahr 2020 auf 1,8 Prozent des BIP im Jahr 2021 verringern. 2022 werde es voraussichtlich wieder einen Überschuss von 0,5 Prozent des BIP geben.

Die Gesamtverschuldung des russischen Staates hat sich laut der Weltbank-Prognose zwar von 14,0 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf schätzungsweise 17,8 Prozent im Jahr 2020 erhöht. 2021 werde sie voraussichtlich weiter auf 19,1 Prozent wachsen und 2023 rund 20 Prozent erreichen. Die Schuldenquote bleibe damit aber „beherrschbar“. Angesichts der relativ geringen Staatsverschuldung verfügt Russland nach Meinung der Weltbank über ausreichenden fiskalischen Spielraum um die Sozialausgaben und die Hilfen für die Regionen zu erhöhen.

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Titelbild: Unsplash.com

Lesetipps und Quellen:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Das BIP ist im Jahr 2020 nur um 3,0 Prozent gesunken; zweite Rosstat-Schätzung

Konjunkturprognosen für Russland

Wöchentliche Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

BOFIT (Bank of Finland): BOFIT Weekly (Russland und China im wöchentlichen Wechsel; donnerstags finnische; freitags englische Ausgabe); BOFIT Russia Statistics

Marina Voitenko; politcom.ru: Wirtschaftspolitischer Wochenrückblick; meist donnerstags

Vnesheconombank Institute:World Economy and Markets Review“ mit Russland-Themen:

Sberbank: Wochenbericht „Global Economic News“ mit folgenden Russland-Themen:

Higher School of Economics: Comments on state and business; Charts: Macro-Monitor

Sonstige periodische Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Konjunkturberichte von Wirtschaftsministerium und Rosstat für Februar 2021

Zentralbank-Veröffentlichungen zu Konjunktur- und Preisentwicklung

Weitere Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

Politik in Russland; deutsch-russische Beziehungen

Pressesschau: Karenina; DRF; Suchen zu: „Russland“; „Nawalny“, „Sanktionen“; NEWSTRAL; Boersentreff.de;RND; sna; n-tv; Phoenix; ARD-Audiothek; ARD-Mediathek