„Weniger über Werte, mehr über gemeinsame Interessen reden“

Alexander Rahr im Interview über sein neues Buch: „Anmaßung – Wie DEUTSCHLAND sein Ansehen bei den RUSSEN verspielt“

Eine diplomatische Krise jagt die andere, die Beziehungen mit Russland sind an einem Tiefpunkt angelangt – und immer wieder kommt die Frage: Was sollen wir noch von den Russen halten? Allerhöchste Zeit, diese Frage umzudrehen, findet der Politologe und Publizist Alexander Rahr. Was denken die Russen eigentlich über uns Deutsche? Darüber hat der Russlandexperte nun ein Buch geschrieben. Im Interview mit Ostexperte.de verrät er die Antwort.

 

Herr Rahr, am Montag erschien Ihr neues Buch mit dem Titel „Anmaßung – Wie DEUTSCHLAND sein Ansehen bei den RUSSEN verspielt“. Ein provokanter Titel. Was hat Sie dazu bewegt, das Buch zu schreiben?

Ganz einfach: ich finde, dass die Sicht der Deutschen auf die Russen, und wie kritisch wir Russland sehen, mehr als bekannt ist. Darüber berichten die Medien hierzulande ständig, das Fernsehen, auch die Fachpresse. Was aber wirklich fehlt, ist die ehrliche Auseinandersetzung mit der russischen Argumentation, nämlich ein Dialog. Und ich habe die Befürchtung, dass ein Grund unserer Entfremdung und Abkehr voneinander damit zu tun hat, dass wir die russischen Argumente und Sichtweisen partout als Propaganda abtun, zum Beispiel auch das, was russische Stiftungen im Westen machen. Damit tun wir den Russen großes Unrecht. Und auch uns selbst, denn wir müssen eine Kulturnation wie die Russische ja wenigstens versuchen zu verstehen. Wir müssen sie nicht akzeptieren, aber ihre Argumente kennen. Nur so können wir einen Dialog führen und zur Normalität zurückfinden. Und deshalb habe ich das Buch geschrieben. Ganz absichtlich um den russischen Standpunkt, und zwar nicht den einen von Herrn Lawrow oder Putin, sondern den der einfachen Russen, des Normalbürgers aus unterschiedlichen Schichten, hier wiederzugeben. Dieses Buch handelt darüber, welche Ansprüche die Russen an uns stellen, wie sie uns sehen. Und ich glaube, dass vielen hier im Westen, positiv wie negativ, die Augen geöffnet werden.

Was stört denn die Russen am meisten an Deutschland? 

Ich antworte mal mit dem folgenden Aspekt: wenn Sie einen Russen fragen, was ihm an Deutschland gefällt oder missfällt, wird er sagen: von den Deutschen erwarten wir Pragmatismus, und von den Deutschen wollen wir vieles lernen. Und wir sind bereit, obwohl wir stolz sind, von den Deutschen zu lernen. Denn die können das, sie haben es immer geschafft, vorne mitzuspielen. Wir wollen wirtschaftlichen Handel, wir wollen unsere gemeinsamen Interessen auskundschaften und pflegen.

Wenn Sie einen Deutschen fragen, kommt eine ganz andere Antwort: Die Russen müssen so werden wie wir. Sie müssen den westlichen Wertekanon annehmen, sie müssen demokratischer werden, sie müssen Menschenrechte achten. Das ist eine Schieflage in der gegenseitigen Perzeption. Und dann kommt natürlich bei den Russen mit der Zeit der Gedanke hoch, dass sie kultiviert und belehrt werden sollen. An diesem Punkt der Geschichte sind wir nun. Ein ganz gefährlicher Moment, aus dem man wieder herausmuss, damit es nicht noch schlimmer wird.

Im Buch kommen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu Wort. Gibt es Unterschiede zwischen der Sicht von den Politikexperten und Diplomaten, und von den einfachen Leuten auf der Straße?

Das Buch soll authentisch sein, deshalb kommen eben auch normale Leute zu Wort. Experten kennen wir ja schon, davon gibt es viele. Aber das reicht nicht. Diese Damen und Herren sind hierzulande hinlänglich bekannt. Was wir brauchen ist eine Revitalisierung des zivilgesellschaftlichen Dialogs, und zwar von unten. In dieser Weise habe ich auch das russische Jugendforum bemüht, und die Jugendnetzwerke gebeten, meine Fragen zu beantworten, und zu den verschiedenen Sichtweisen im Buch beizutragen. Sie haben mir geholfen und das war für mich das Wesentliche. Dass nicht nur Deutschland-Experten im Buch sprechen, sondern die Normalbürger, aus verschiedenen Schichten und Generationen. Nur so wird klar, was der normale Russe von uns denkt, denn das unterscheidet sich schon von der Meinung der Politiker.

Sind Russen eher dazu bereit, über ihre Meinung zu Deutschland zu sprechen, als Deutsche über ihre Meinung zu Russland?

Ich finde ehrlich gesagt, ohne wem zu nahe treten zu wollen, die Deutschen in unseren Expertenkreisen kennen und verstehen die heutigen Russen viel schlechter als die heutigen russischen Experten Deutschland verstehen. Man muss nicht immer danach gehen, was die Russen in ihren Artikeln schreiben. Aber man kennt sich doch seit 30 Jahren und weiß, wie eng und akribisch und mit welchem Herzblut viele von Ihnen Deutschland studiert haben, seine Politik und Geschichte. Russland hat sich Deutschland ausgesucht als Anwalt seiner Interessen. Die Chance, dass Deutschland wieder Anwalt russischer Interessen wird, oder bleibt, ist nicht weg. Wir in Deutschland sollten diese Rolle nicht negieren, und uns auch nicht vor anderen EU-Staaten schämen diese Rolle anzunehmen, weil von uns sehr viel abhängt.

Russland ist der größte Flächenstaat Europas und muss so oder so mit Europa verbunden werden. Um das zu bewerkstelligen, ist viel zu wenig strategisches Wissen angehäuft worden ist.

Aktuell gibt es wenig Hoffnung auf Verbesserung der Beziehungen zu Russland, aber Wirtschaftsprojekte wie Nord Stream 2 laufen dennoch weiter. Findet hier denn eine Annäherung statt?

In der Wirtschaft läuft es am einfachsten und pragmatischsten, hier kann man schnell zueinander finden. Ich würde aber sagen, dass das auch zivilgesellschaftlich funktionieren kann. Wir müssen allerdings drei Fehler begradigen, die passiert sind:

Erstens: Nach der Wende haben wir im Westen die deutsche Frage gelöst und Deutschland fest in der EU und NATO verankert, Deutschland wurde so Führungsmacht in Europa. Die deutsche Frage ist damit gelöst – aber die russische nicht. Und niemand interessiert sich für die russische Frage, dabei ist sie wichtig. Nochmal: Russland ist das größte und bevölkerungsreichste Land in Europa, ohne Russland ist Europa kastriert. Das ist den heutigen Generationen völlig fremd. Russland ist in Europa, man kann es nicht nach Asien „abschieben“, also brauchen wir die Klärung der russischen Frage. Die Östliche Partnerschaft und Assoziierungsabkommen mit postsowjetischen Ländern ist alles Schnee von gestern. Ein Zukunftsprojekt sollte ein gemeinsames Europa von Lissabon bis Wladiwostok sein: jedes Land sollte die gleichen Rechte haben und aufgehen in gemeinsamer Sicherheit.

Zweitens: Wir dürfen nicht aus der Warte der Werte reden, wie es unsere Medien und viele Politiker tun – mit den Russen hauptsächlich und fast ausschließlich über Wertefragen diskutieren. Damit schafft man einen strategischen Dialog ab und Russland bleibt immer der Bösewicht, weil es aus unserer Sicht nicht auf dem Niveau westlicher liberaler Demokratien steht. Und dann ist der Westen immer der Oberlehrer, und Russen sind die ungehörigen Schüler. Das funktioniert auf Dauer nicht, wir müssen mehr über gemeinsame Interessen als über Werte reden.

Drittens: Deutschland kann sich zu Russland nicht nur an der polnischen oder baltischen Haltung orientieren. Als Frau Merkel Kanzlerin wurde, sagte sie, sie werde nach Russland nur über Warschau fliegen. Ein fatal falscher Satz. Damit signalisierte man von Anfang an, dass uns die verbündeten östlichen EU-Mitgliedsländer viel näher sind als Russland. Verbündete sind natürlich immer näher, gleichzeitig hätte Frau Merkel einen geopolitischen, einen historischen Blick auf Europa werfen müssen und verstehen, dass solche Aussagen Russland wegschieben. Hilfreich wäre eine Abfederungspolitik wie unter Kohl oder Schröder gewesen, die Russland miteinschließt, möglicherweise durch eine Stärkung der OSZE.

Neben EU und NATO sollte die OSZE als drittes Standbein aufgebaut werden, um diese europäischen Sicherheits-Fragen zu lösen. Die Ansicht, dass Europa vom Westen aufgebaut wird und der Osten die Schulbank zu drücken hat, ist antiquiert. Das war in den 90ern richtig. Ein Dialog ist jetzt unumgänglich.

Aber die Entfremdung voneinander nimmt zu – könnte es sein, dass der Kontakt zwischen den Ländern ganz abbricht? Und was wäre dann?

Vor 10 Jahren hätte ich so eine Entwicklung auch nicht für möglich gehalten. Das ist ja fast schon ein neuer Kalter Krieg, oder sogar schlimmer. Weil im Kalten Krieg ein amerikanischer Präsident seinen russischen Kollegen keinen „Killer“ nannte. Es ist noch nichts zu spät, aber die Entwicklung ist gefährlich und man muss mit dem Schlimmsten rechnen. Vielleicht wird es keinen eisernen, aber einen anderen Vorhang geben. Auch Außenminister Heiko Maas warnt richtigerweise davor, dass Russland dann Verbündete suchen wird – und das wird China sein. Ein russisch-chinesisches Militärbündnis ist für Europa eine Horrorvorstellung.

Und was müssen wir jetzt machen, damit die Russen uns wieder mögen?

Weniger belehren, sondern einfach Respekt zeigen. Das ist nicht schwer.

 

 

„ANMAẞUNG Wie DEUTSCHLAND sein Ansehen bei den RUSSEN verspielt“, ist im Verlag „Das neue Berlin“ der Eulenspiegel Verlagsgruppe erschienen, ISBN 978-3-360-01376-7.

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Titelbild: Alexander Rahr