Ende August veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat weitere Daten zur Konjunkturentwicklung im Juli. Nach ersten Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums war die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands im Juli 5,0 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Zeitraum Januar bis Juli übertraf Russlands Bruttoinlandsprodukt sein Vorjahresniveau laut dem Ministerium um 2,1 Prozent. Das lässt einige Beobachter für das Gesamtjahr 2023 ein noch kräftigeres Wachstum erwarten.
Die „Financial Times“ konstatiert allerdings in einem Kommentar, Russland zeige inzwischen „klassische Symptome einer Kriegswirtschaft“. Bei einem Mangel an verfügbaren Arbeitskräften und steigenden Haushaltsdefiziten ziehe die Inflation an. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sieht in Russland aber keine „totale Kriegswirtschaft“. Die Regierung, die russische Wirtschaft und die russische Gesellschaft stellten sich aber offenbar auf einen langen Krieg ein. Angesichts der starken russischen Handelsbilanz und beträchtlicher fiskalischer Reserven könne Russland diese Strategie durchhalten.
Die Wachstumsprognosen für Russlands Wirtschaft reichen jetzt bis 3 Prozent
Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, rechnet jetzt damit, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2023 im Vorjahresvergleich nicht nur um 2,5 Prozent, sondern um 3,0 Prozent wächst. Das Forschungsinstitut der Wneschekonombank hatte seine Prognose für Russlands diesjähriges Wirtschaftswachstum bereits vor einer Woche auf 2,7 Prozent erhöht. Beide Prognosen sind deutlich höher als das Ergebnis einer Analysten-Umfrage des Moskauer Reuters-Büros von Ende August. Die zwölf Teilnehmer prognostizierten im Durchschnitt für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 2,0 Prozent – wie bereits einen Monat zuvor.
BIP-Prognosen 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Auch Dr. Michael Heise (Chefökonom HQ Trust) meinte im Podcast der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer „Zaren, Daten, Fakten“ zu den Perspektiven der deutschen und russischen Wirtschaft, ein Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts um 2 Prozent sei in diesem Jahr durchaus möglich (ab Min. 17).
VEB-Institut: Die Rezession ist aufgeholt
Den Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank in ihrem jüngsten Wochenbericht zufolge hat Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion ihren Rückgang im Jahr 2022 inzwischen wieder aufgeholt. Das zeigt die folgende Abbildung.
Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)
saison- und kalenderbereinigt
Wneschekonombank Institut: „World Economy and Markets Review“, 01.09.23
Im Juli stagnierte die gesamtwirtschaftliche Produktion laut VEB-Institut aber
Die Produktionsentwicklung im Juli schätzt das VEB-Institut aber merklich negativer als das Wirtschaftsministerium ein. Nach ersten vorläufigen Berechnungen des VEB-Instituts ist das reale Bruttoinlandsprodukt im Juli gegenüber dem Vormonat nicht wie vom Wirtschaftsministerium angegeben um 0,5 Prozent gestiegen, sondern es hat auf dem im Juni erreichten Niveau stagniert. Damit sei es 4,8 Prozent höher gewesen als vor einem Jahr im Juli 2022.
Wachstumsimpulse erhielt die gesamtwirtschaftliche Produktion im Juli im Vergleich mit dem Vormonat laut dem VEB-Institut vom Verarbeitenden Gewerbe, von der Produktion der Unternehmen der Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie vom Groß- und Einzelhandel.
Diese Wachstumsimpulse wurden aber durch einen Rückgang der Produktion von Juni auf Juli hingegen in den folgenden Bereichen ausgeglichen: Bergbau, Bauwirtschaft, Personenverkeht, Dienstleistungen, Gastronomie und Landwirtschaft.
Der reale Einzelhandelsumsatz holt kräftig weiter auf
Über den vom VEB-Institut errechneten Anstieg der Industrieproduktion im Juli um 0,8 Prozent gegenüber Juni berichtete Ostexperte.de bereits vor einer Woche. In seinem jüngsten Wochenbericht vom letzten Freitag vergleicht das Institut in der folgenden Abbildung die Entwicklung der Reallöhne (graue Linie) mit der Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes (schwarze Linie) und der Entwicklung des realen Umsatzes mit Dienstleistungen für die privaten Haushalte (dunkelgrüne Linie).
Reallöhne und realer Umsatz im Einzelhandel und mit Dienstleistungen
(Januar 2014 = 100)
Wneschekonombank Institut: „World Economy and Markets Review“, 01.09.23
Der reale Einzelhandelsumsatz (schwarze Linie) erholte sich im Juli 2023 gegenüber dem Vormonat Juni saison- und kalenderbereinigt nach den ersten Berechnungen des VEB-Instituts kräftig weiter um 1,4 Prozent. Im Juni war er um 0,8 Prozent und im Mai um 1,1 Prozent gegenüber dem jeweiligen Vormonat gestiegen. Trotz der raschen Erholung im Verlauf des Jahres 2023 ist der reale Einzelhandelsumsatz aber noch merklich niedriger als am Jahresanfang 2022 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.
Der reale Umsatz mit Dienstleistungen für private Haushalte (dunkelgrüne Linie) sank im Juli gegenüber Juni um 0,4 Prozent. Im Juni war er gegenüber Mai bereits um 0,2 Prozent gesunken. Anders als der Einzelhandel hat der Dienstleistungsbereich aber schon im Verlauf des zweiten Halbjahres 2022 seinen Rückgang nach dem Beginn des Ukraine-Krieges aufgeholt.
Die Reallöhne waren im Juli 10,5 Prozent höher als vor einem Jahr
Hintergrund für den Anstieg des realen Einzelhandelsumsatzes ist der Anstieg der Reallöhne (graue Linie). Die Reallöhne stiegen im Juni 2023 (Juli bisher nicht verfügbar) um 1,6 Prozent gegenüber dem Vormonat. Sie waren 10,5 Prozent höher als vor einem Jahr.
Alfa Bank: Mehr Wachstum bei rekordniedriger Arbeitslosigkeit
Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, sieht Russlands aktuelle Konjunkturentwicklung in einem Finam.ru-Artikel so:
Die rasante Erholung der russischen Wirtschaft setzte sich im Juli fort. Das vom Wirtschaftsministerium errechnete Wachstum des Bruttoninlandsprodukts um 5,0 Prozent im Jahresvergleich entspricht fast genau dem im zweiten Quartal erreichten Produktionsanstieg (+ 4,9 Prozent).
Die Alfa-Bank sieht angesichts des Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 2,1 Prozent in den ersten sieben Monaten nun für das Gesamtjahr 2023 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 3,0 Prozent als „wahrscheinlichstes Szenario“.
Da die Industrieproduktion von Januar bis Juli im Jahresvergleich um 2,6 Prozent wuchs, hebt die Alfa Bank auch ihre Prognose für den diesjährigen Anstieg der Industrieproduktion auf 4,0 Prozent an.
Die Arbeitslosenquote fiel im Juli auf einen neuen Tiefststand von 3,0 Prozent. Der Arbeitsmarkt ist, so Orlova, „angespannt“.
Die Löhne sind schneller als von der Alfa Bank bisher erwartet gestiegen. Der Durchschnittslohn war im Juni real 10,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Im ersten Halbjahr 2023 stiegen die Reallöhne um 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wenn die Durchschnittslöhne im zweiten Halbjahr auf dem Niveau vom Juni bleiben, dürfte der Anstieg der Reallöhne nach Einschätzung der Alfa Bank im Gesamtjahr 2023 rund 15 bis 17 Prozent erreichen.
Aufgrund der steigenden Einkommen geben die russischen Verbraucher auch mehr aus. Im Juli stiegen die Einzelhandelsumsätze real um 10,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im zweiten Quartal 2023 waren sie im Vorjahresvergleich bereits um 9,0 Prozent gestiegen. Die Erholung des Konsums verläuft nach Einschätzung der Alfa Bank damit zwar „relativ langsam“. Sie meint aber, dass sich das Konsumwachstum angesichts des schnellen Wachstums der Einkommen jederzeit weiter beschleunigen könnte.
Alfa Bank: Die rasche Erholung verschärft die Inflationsrisiken
Natalia Orlova weist gleichzeitig darauf hin, dass die beschleunigt steigenden Löhne und die rekordniedrige Arbeitslosigkeit Inflationsrisiken bergen. Auch die Inflationserwartungen der privaten Haushalte und der Unternehmen seien gestiegen. Dazu habe die deutliche Abwertung des Rubels in den letzten beiden Monaten beigetragen.
Die Alfa-Bank erwartet, dass die Zentralbank Mitte September ihren Leitzins um weitere 50 Basispunkte auf 12,5 Prozent erhöht.
VEB-Institut: Die jährliche Inflationsrate stieg Ende August auf 5,1 Prozent
Die Abwertung des Rubels verteuert Russlands Einfuhren. Die gestiegenen Einfuhrpreise trugen dazu bei, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat von April bis Juli von 2,3 Prozent auf 4,3 Prozent beschleunigt hat.
Nach Berechnungen des VEB-Instituts hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise in der Woche zum 28. August auf 5,1 Prozent verschärft.
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent
Beiträge von Lebensmitteln, Nicht-Lebensmitteln und Dienstleistungen zur Inflationsrate in Prozentpunkten; Schätzung des VEB-Instituts
Wneschekonombank Institut: „World Economy and Markets Review“, 01.09.23
Die Abbildung zeigt, dass zum beschleunigten jährlichen Preisanstieg im Juli die Preise von Lebensmitteln und Nicht-Lebensmitteln beitrugen. “Inflationstreiber” waren aber wie im Juni vor allem die Dienstleistungspreise (dunkelgrüner Säulenabschnitt).
Financial Times: Russland zeigt „klassische Symptome einer Kriegswirtschaft“
Tony Barber meint in einem Kommentar in der Financial Times, die russische Wirtschaft zeige „ viele klassische Symptome einer Kriegswirtschaft“: Inflation, Mangel an Arbeitskräften, steigende Staatsausgaben und wachsende Haushaltsdefizite.
Er verweist dazu unter anderem darauf, dass die russische Zentralbank den jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise in den letzten drei Monaten auf 7,6 Prozent veranschlagte, das Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent also weit verfehlt werde (siehe Presseerklärung der Zentralbank zur Leitzinserhöhung am 15. August).
Die russische Regierung verfügt, so Barber, aber noch über Möglichkeiten, diese „militarisierte Wirtschaft“ weiter zu finanzieren. Zum Beispiel könnte verstärkt auf die im „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ angesparten Reserven zurückgegriffen werden, unter anderem auf Gold und Devisen.
Die Probleme der Kapitalflucht und der Abwertung des Rubels könnten durch Einführung weiterer Kapitalverkehrskontrollen und die Verpflichtung russischer Exporteure zum Umtausch ihrer Devisenerlöse in Rubel angegangen werden.
Die Regierung könnte außerdem auch die Steuern erhöhen, ihre nicht-militärischen Ausgaben senken oder beides. Steuererhöhungen oder die Kürzung von nicht-militärischen Ausgaben will die Regierung nach Einschätzung Barbers aber vermeiden. Die Regierung versuche, den Bürgern die Illusion zu erhalten, sie könnten ihr Leben trotz des Krieges mehr oder weniger wie gewohnt fortsetzen. Die Bürger sollten vor der Präsidentschaftswahl in Russland nicht durch Maßnahmen, die den Lebensstandard senken könnten, irritiert werden.
Hauptziel der russischen Regierung ist für Barber, dass die russische Wirtschaft „durchhält“ bis sich die „politischen Gezeiten“ in den westlichen Ländern, vor allem in den USA, ändern. Die Wahlen in den USA seien weniger als 15 Monate entfernt. Russlands Regierung hoffe mit Sicherheit, dass in den USA ein Präsident und ein Kongress gewählt werden, die „weniger enthusiastisch“ bereit seien, für den „Selbstverteidigungskrieg“ der Ukraine zu bezahlen.
Wirtschaftshistoriker Adam Tooze: „Keine totale Kriegswirtschaft“ in Russland
Adam Tooze, an der Columbia University in New York lehrender britischer Wirtschaftshistoriker, betont in einem Beitrag für sein „Chartbook“ unter dem Titel „Russia*s Long-War Economy“ Russland sei keine „totale Kriegswirtschaft“.
Putin’s Regime, die russische Wirtschaft und die russische Gesellschaft stellen sich, so Tooze, aber offenbar auf einen langen Krieg ein, eine dauerhaft erhöhte, vom Krieg angetriebene Nachfrage. Angesichts der starken russischen Handelsbilanz und beträchtlicher fiskalischer Reserven könne Russland diese Strategie sicherlich durchhalten.
Russlands Verteidigungsausgaben belaufen sich laut Tooze, wenn man den offiziellen Angaben folgt, im Jahr 2023 auf rund 100 Milliarden US-Dollar. Laut einer Schätzung entspreche diese Summe 6,2 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts. Vergleichbar hoch sei der Anteil der Ausgaben im „Wiederaufrüstungsboom“ zur Zeit von Präsident Reagan in den 1980er Jahren gewesen. Wenn man annehme, dass einige russische Rüstungsausgaben nicht offiziell ausgewiesen würden, dürften sie sich insgesamt, so Tooze, etwa auf dem Niveau der Ausgaben der USA im Vietnam-Krieg in Höhe von rund 9 bis 10 Prozent des BIP bewegen.
In jedem Fall seien Russlands Rüstungsausgaben hoch genug, um der Nachfrage in vielen Bereichen der russischen Industrie und der Nachfrage insgesamt einen „gesunden“ Schub zu geben. Die russische Wirtschaft fühle die Wirkungen des Wandels von einem Haushaltsüberschuss von 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 zu einem Defizit von jeweils 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2022 und 2023.
Tooze zitiert einen Artikel von Alexandra Prokopenko („The Bell“): Die russische Regierung verfüge über finanzielle Reserven und politische Optionen (wie Steuererhöhungen), die es erlaubten, das gegenwärtige Niveau der Rüstungsausgaben beizubehalten. Das russische Parlament habe kürzlich viele Gesetze verabschiedet, die den Krieg „institutionalisierten“. Der Krieg in der Ukraine sei inzwischen in das öffentliche Leben in Russland „eingewoben“.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
Stagniert Russlands Wirtschaft nach der Erholung der Produktion jetzt? 28.08.23
Bleiben Russlands Exporterlöse und der Rubel-Kurs so niedrig?, 21.08.23
Russlands Export sinkt, der Rubel wertet ab, die Inflation zieht an, 14.08.23
Russland: Die Rüstungsproduktion boomt, der Einzelhandel zieht kräftig an, 07.08.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
Dr. Michael Heise im Zaren, Daten, Fakten-Podcast: Perspektiven für Deutschland und Russland
„Russland nach dem Tod Prigoschins“: Thema in „Phoenix-Runde“ und „Auf den Punkt“
Naumann Stiftung: Der Abbau des wirtschaftlichen Einflusses von Russland in Deutschland
European Union; Josep Borrell: Yes, the sanctions against Russia are working
ntv: Als Moskau den Gashahn zudrehte. Ein Jahr ohne Nord-Stream-Gas