Stagniert Russlands Wirtschaft nach der Erholung der Produktion jetzt?

Noch im August will Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow als Basis für die Planung des Staatshaushalts neue Konjunkturprognosen vorlegen. Er hat mehrfach angekündigt, dass die im April veröffentlichte Wachstumsprognose der Regierung für 2023 von 1,2 Prozent auf „über 2 Prozent“ angehoben werden wird. Finanzminister Siluanow meinte in einem Interview, im Jahr 2023 werde sich das Bruttoinlandsprodukt um rund 2,5 Prozent oder vielleicht noch stärker erholen. Das berichteten Agenturen am Samstag.

Die russische Industrieproduktion ist laut ersten Berechnungen des Statistikamtes Rosstat allerdings im Juni und im Juli im Vergleich zum Vormonat saison- und kalenderbereinigt leicht gesunken. Manche Beobachter meinen, die Produktion der russischen Wirtschaft werde nach dem Erreichen ihres „Vorkrisenniveaus“ jetzt stagnieren.

Das VEB-Institut erhöht seine Wachstumsprognose für 2023 auf 2,7 Prozent

Mehr als 2 Prozent Wachstum in Russland erwarten im Jahresvergleich 2023/2022 auch einige russische Banken und Forschungsinstitute. Im Durchschnitt rechneten die Analysten bei im Juli und August durchgeführten Umfragen mit einem Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 2 Prozent.

Das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) hob seine Wachstumsprognose für 2023 am letzten Freitag sogar von 2,3 Prozent auf 2,7 Prozent an. Gleichzeitig senkte das VEB-Institut aber seine Wachstumsprognose für 2024 von 1,9 auf 1,1 Prozent. Auch bei der Mitte August veröffentlichten Analysten-Umfragen der Moskauer „Higher School of Economics“ wird im nächsten Jahr mit einem merklich schwächeren Wachstum gerechnet (+ 1,3 Prozent) als in diesem Jahr (+ 1,8 Prozent).

 

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Im zweiten Halbjahr erwartet das VEB-Institut aber kein weiteres Wachstum

Das VEB-Institut sieht Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion schon jetzt fast stagnieren. Nach der Erholung des Bruttoinlandsprodukts von seinem tiefen Einbruch nach dem Beginn des Ukraine-Krieges erwartet das VEB-Institut im zweiten Halbjahr 2023 kein weiteres Wachstum. Das zeigt die folgende Abbildung aus der am Freitag veröffentlichten neuen Konjunkturprognose des VEB-Instituts.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts,
saison- und kalenderbereinigt, 2010=100

Wneschekonombank-Institut: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2026, 25.08.23

 

Die Leitzinserhöhung auf 12 Prozent bremst das Wachstum

Als einen Grund für die „Verlangsamung des Wachstums“ nennt das VEB-Institut die „Straffung der Geldpolitik“. Die russische Zentralbank hat ihren Leitzins zur Stabilisierung des Rubel-Kurses (siehe Trading Economics) im Juli zunächst um einen Prozentpunkt auf 8,5 Prozent und Mitte August um 3,5 Prozentpunkte auf 12,0 Prozent erhöht.

Das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften weist in seiner monatlichen Analyse vom 23.08. darauf hin, das reale Bruttoinlandsprodukt habe schon im Juni auf dem Niveau des Vormonats stagniert. Das könnte ein Zeichen sein, dass die Erholung der russischen Wirtschaft bald zu Ende gehe.

Die Erhöhung des Leitzinses auf 12 Prozent habe bereits zu einem Anstieg der jährlichen Einlagenzinsen auf bis zu 10 bis 12 Prozent geführt. Das werde die Sparneigung der Bevölkerung verstärken. Gleichzeitig sei ein Rückgang der Vergabe von Verbraucherkrediten zu erwarten, vor allem für den Kauf langlebiger Produkte.

Weiterhin sei mit einem Anstieg der Zinsen für Hypotheken und gewerbliche Kredite zu rechnen. Das werde zu einem Rückgang der Wirtschaftsaktivität in Sektoren beitragen, die keine staatliche Unterstützung erhalten.

Das Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften rechnet wegen des Anstiegs der Zinsen für Unternehmenskredite mit einem Rückgang der Unternehmensgewinne. Neben den höheren Zinsen trage dazu auch bei, dass die Unternehmen angesichts des Mangels an Arbeitskräften die Löhne erhöhen müssten. Außerdem stiegen die Beschaffungskosten für Einfuhren von Ausrüstungsgütern und Bauteile aus dem Ausland weiter.

VEB-Prognose: 0,4 Prozentpunkte mehr Wachstum in diesem Jahr, aber 0,8 Prozentpunkte weniger Wachstum im nächsten Jahr

Das VEB-Institut war bereits in einer am 21. August veröffentlichten Analyse der Wirkungen der „Straffung der Geldpolitik“ zum Ergebnis gekommen, dass die Leitzinserhöhung das Wachstum des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 um 0,2 Prozent vermindern dürften. Statt um 2,9 Prozent werde die gesamtwirtschaftliche Produktion um 2,7 Prozent wachsen.

Im Vergleich zu seiner Wachstumsprognose vom 07. Juli (+ 2,3 Prozent) hebt das VEB-Institut seine Wachstumsprognose für 2023 jetzt um 0,4 Prozentpunkte an. Gleichzeitig senkt es seine Wachstumsprognose für 2024 aber um 0,8 Prozentpunkte von 1,9 auf 1,1 Prozent.

 

Konjunkturprognosen des VEB-Instituts bis 2026

Wneschekonombank-Institut: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2026, 25.08.23

 

Das VEB-Institut erwartet für 2023, dass sich das Wachstum der Investitionen trotz der Erholung der Gesamtwirtschaft auf 2,2 Prozent abschwächt.

Der reale Einzelhandelsumsatz dürfte hingegen in diesem Jahr um 5,3 Prozent wachsen. Auch damit würde der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes im Vorjahr um 6,5 Prozent aber nicht völlig ausgeglichen.

Die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung werden 2023 laut der Prognose um 5,4 Prozent steigen, nachdem sie 2022 um 1,0 Prozent sanken.

Vergleich der VEB-Prognosen für 2023 und 2024 mit Analysten-Umfragen

DasVEB-Institut hat seine Konjunkturprognosen bis 2026 mit den Ergebnissen von Analysten-Umfragen der Moskauer “Higher School of Economics” (durchgeführt vom 07. bis 17. August) und der russischen Zentralbank (durchgeführt vom 07. bis 11. Juli) verglichen. Der Vergleich der Prognosen für die Jahre 2023 und 2024 zeigt:

Wirtschaftswachstum: Die Wachstumsprognose des VEB-Instituts für 2023 (+ 2,7 Prozent) ist deutlich höher als die durchschnittlichen Wachstumsprognosen von 1,8 Prozent in der HSE-Umfrage und von 1,5 Prozent in der Zentralbank-Umfrage.

Inflation: Der Anstieg der Verbraucherpreise wird am Jahresende 2023 nach Einschätzung des VEB-Instituts mit 6,3 Prozent etwas höher sein als die Ergebnisse der Umfragen. Bis Ende 2024 erwartet das VEB-Institut einen weiteren Rückgang der Inflationsrate auf 4,5 Prozent – ähnlich wie die Umfragen.

Wechselkurs: Der Rubel wertet im Jahresdurchschnitt 2023 gegenüber dem US-Dollar nach Einschätzung des VEB-Instituts und laut den Umfragen scharf ab. 2024 wird sich die Abwertung laut dem VEB-Institut deutlich verlangsamen. Die Umfrageergebnisse lassen eine noch schwächere, weitere Abwertung erwarten.

Haushaltsdefizit: Das föderale Haushaltsdefizit wird laut VEB-Institut im Jahr 2023 wie im Vorjahr 2,2 Prozent des BIP betragen und 2024 kaum sinken. In den Analysten-Umfragen wird mit stärkeren Veränderungen des Haushaltsdefizits gerechnet. Einem Anstieg des Defizits auf knapp 3 Prozent des BIP im Jahr 2023 dürfte ein Rückgang der Defizitquote um rund einen Prozentpunkt im nächsten Jahr folgen.

Die folgende Tabelle zeigt einen Ausschnitt aus der auch die Jahre 2025 und 2026 umfassenden Tabelle des VEB-Instituts.

Vergleich der Prognosen des VEB-Instituts mit Analysten-Umfragen

* Am Ende des Jahres
** Konsolidiertes Budget
*** Zum Vergleich: Die Prognose des VEB-Instituts für den durchschnittlichen Vertragspreis für ein Barrel russisches Öl für den Export beträgt 69 US-Dollar im Jahr 2023 und 75 US-Dollar im Jahr 2024

Die Industrieproduktion sank laut Rosstat im Juni und Juli geringfügig 

Russlands Industrieproduktion ist nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat im Juli im Vergleich zum Vorjahresmonat zwar um 4,9 Prozent gestiegen. Im Vergleich zum Vormonat Juni sank sie jedoch laut den ersten Rosstat-Berechnungen saison- und kalenderbereinigt um 0,1 Prozent. Im Juni war sie gegenüber Mai auch etwas zurückgegangen (- 0,2 Prozent). Die blaue Linie in der folgenden Rosstat-Abbildung zeigt den leichten Rückgang der Industrieproduktion im Juni und Juli.

Index der Industrieproduktion laut Rosstat

Monatsdurchschnitt 2020 = 100

unbereinigt (rote Linie), saison- und kalenderbereinigt (blaue Linie), Trend (graue Linie)

 

Rosstat: Industrieproduktion im Juli ( Chart); 23.08.23

 

Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin von Finam, meint in ihrem ausführlichen Bericht zur Entwicklung der Industrieproduktion im Juli, der Rückgang der Produktion gegenüber dem Vormonat entspreche dem Abwärtstrend des Geschäftsklimas, der sich bei den Umfragen der Zentralbank gezeigt habe. Er habe sich auch im August fortgesetzt. Zu den produktionsdämpfenden Faktoren, die von den Unternehmen oft genannt würden, gehörten der Mangel an Arbeitskräften, ein signifikanter Anstieg der Produktionskosten sowie immer längere Lieferfristen wegen Problemen bei den Lieferketten.

Belenkaya erwartet, dass sich die Geschäftserwartungen der Unternehmen verschlechtern dürften. Sie verweist zur Begründung auf die „notfallartige“ Leitzinserhöhung der Zentralbank auf 12 Prozent und die „Normalisierung“ der Ausgabensteigerungen der Regierung, die vor allem in Branchen mit Verbindungen zur Herstellung von Rüstungsgütern die Produktion angeregt hätten.

Laut VEB-Institut stieg die Produktion im Juli gegenüber Juni um 0,8 Prozent

Die ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank für Juli weichen von den Rosstat-Berechnungen merklich ab. Laut VEB-Institut ist Russlands Industrieproduktion im Juli gegenüber Juni saison- und kalenderbereinigt nicht um 0,1 Prozent gesunken, sondern um 0,8 Prozent gestiegen. Für Juni errechnete das VEB-Institut einen Rückgang gegenüber Mai um 0,3 Prozent (Rosstat: – 0,2 Prozent).

In der folgenden Abbildung des VEB-Instituts zeigt die schwarze Linie den Anstieg der gesamten Industrieproduktion im Juli.

 Entwicklung der Industrieproduktion (Januar 2014 = 100);

Insgesamt; Bergbau/Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe;
saison- und kalenderbereinigt; Schätzung des VEB-Instituts

VEB Institut: World Economy and Markets Review, 25.08.23

 

Angetrieben wurde das Wachstum der Industrieproduktion im Juli vom Anstieg der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (obere, dunkelgrüne Linie). Sie stieg im Juli gegenüber Juni um 1,7 Prozent. Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere, hellgrüne Linie) sank hingegen um 0,2 Prozent.

Maschinenbau, Metallurgie und die Nahrungsmittelindustrie wuchsen im Juli überdurchschnittlich stark

Das VEB-Institut analysierte auch die Entwicklung wichtiger Branchen innerhalb des „Verarbeitenden Gewerbes“ (s. folgende Abbildung).

 

Produktion ausgewählter Branchen des Verarbeitenden Gewerbes (2014 = 100);

Maschinenbau, Koks und Erdölprodukte, Metallurgie, Chemie, Nahrungsmittel;

saison- und kalenderbereinigt, Schätzung des VEB-Instituts

VEB Institut: World Economy and Markets Review, 25.08.23

 

Veränderungen der Produktion im Juli gegenüber Juni in Prozent:

Maschinenbau (obere dunkelgrüne Linie):                                  + 4,7 %

Metallurgie (schwarze Linie):                                                         + 1,8 %

Chemische Industrie (mittlere graue Linie):                                 + 0,6 %

Nahrungsmittelindustrie (hellgrüne Linie):                                   + 2,3 %

Produktion von Koks, Mineralölprodukten (rote Linie): – 0,5 %

 

Während im Juni die Produktion aller in der Abbildung gezeigten Branchen des Verarbeitenden Gewerbes gegenüber dem Vormonat Mai gesunken ist, sank die Produktion im Juli gegenüber Juni nur noch im Bereich „Produktion von Koks und Mineralölprodukten“.

Überdurchschnittlich stark stieg im Juli die Produktion im Vergleich mit dem Anstieg der Industrieproduktion insgesamt (+ 0,8 Prozent) im Maschinenbau (+ 4,7 Prozent), in der Nahrungsmittelindustrie (+ 2,3 Prozent) und in der Metallurgie (+1,8 Prozent).

 

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Bleiben Russlands Exporterlöse und der Rubel-Kurs so niedrig?, 21.08.23

Russlands Export sinkt, der Rubel wertet ab, die Inflation zieht an, 14.08.23

Russland: Die Rüstungsproduktion boomt, der Einzelhandel zieht kräftig an, 07.08.23

Russland: Höhere BIP-Prognose des IWF, aber die Industrie stagnierte im Juni, 31.07.23

 

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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