Russlands Zentralbank hat ihren Leitzins am Freitag unerwartet stark von 13 auf 15 Prozent angehoben. Die große Mehrheit der Analysten hatte mit einer Erhöhung auf lediglich 14 Prozent gerechnet.
Die kräftig gestiegenen Zinsen dürften dazu beitragen, dass Russlands Wirtschaft im nächsten Jahr deutlich schwächer wächst als 2023. Davon geht die russische Zentralbank in ihrer anlässlich des Leitzinsentscheides aktualisierten mittelfristigen Prognose aus. Die Industrieproduktion stagnierte laut Rosstat und laut Schätzungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank in den Monaten August und September saison- und kalenderbereinigt fast.
Der Leitzins wurde seit Juli verdoppelt
Mitte Juli hatte der Leitzins noch 7,5 Prozent betragen. Seither wurde er in vier Schritten verdoppelt. Als der Rubel Mitte August über die Marke von 100 Rubel je US-Dollar hinaus abwertete (Chart), gab es auch eine „außerplanmäßige Erhöhung“ um 3,5 Prozentpunkte. Zuletzt war der Leitzins Mitte September um einen Prozentpunkt auf 13 Prozent erhöht worden.
Kommersant: Racing with inflation. The Central Bank raised the key rate from 13% to 15%, 27.10.23
Zentralbank: Der verstärkte Inflationsdruck erfordert eine straffere Geldpolitik
Zur weiteren Erhöhung des Leitzinses um zwei Prozentpunkte erklärte die Zentralbank in ihrer Pressemitteilung am Freitag, der „Inflationsdruck“ sei deutlich gestiegen und habe ihre Erwartungen überschritten. Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen übersteige bei einem starken Wachstum der Kredite die Möglichkeiten das Angebot zu erhöhen. Zudem sei offenbar von der Regierung geplant, die expansiven Impulse der Fiskalpolitik in den nächsten Jahren langsamer als erwartet zu verringern. Das erfordere einen Ausgleich durch eine weitere Straffung der Geldpolitik.
Nur für 2023 hebt die Zentralbank ihre Wachstumsprognose weiter an
Ein Vergleich der Wachstumsprognosen der Zentralbank mit den Erwartungen der russischen Regierung zeigt nur für das Jahr 2023 eine weitgehende Übereinstimmung. Die Regierung prognostiziert in ihrer im September aktualisierten Haushaltsplanung in diesem Jahr ein Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,8 Prozent. 2024 werde sich das Wirtschaftswachstum nur wenig abschwächen und 2,3 Prozent erreichen.
Die russische Zentralbank hob ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr in ihrer neuen mittelfristigen Prognose am Freitag zwar auf 2,2 bis 2,7 Prozent an. Damit nähert sie sich der Regierungsprognose von 2,8 Prozent stark.
Im nächsten Jahr sieht die Zentralbank die russische Wirtschaft aber weiterhin deutlich schwächer wachsen als die Regierung. Die Zentralbank geht unverändert davon aus, dass sich der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion 2024 auf 0,5 bis 1,5 Prozent abschwächt, bleibt also deutlich unter der Prognose der Regierung (+ 2,3 Prozent). Auch die deutschen Konjunkturforschungsinstitute erwarten in ihrer Ende-September veröffentlichten „Gemeinschaftsdiagnose“, dass die russische Wirtschaft 2024 nur noch um 1 Prozent wächst.
BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Die Wachstumsprognosen von Zentralbank und IWF decken sich weitgehend
Die vor rund drei Wochen veröffentlichten Prognosen des Internationalen Währungsfonds für den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland in den Jahren 2023 (+ 2,2 Prozent) und 2024 (+ 1,1 Prozent) stimmen mit den Erwartungen der Zentralbank weitgehend überein. Die Weltbank veranschlagte das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft Anfang Oktober hingegen auf lediglich 1,6 Prozent. Die OECD prognostizierte Mitte September Russlands Wachstum im laufenden Jahr sogar noch auf nur +0,8 Prozent.
Das Forschungsinstitut der „Kyiv School of Economics“ verglich in seinem „Russia Chartbook“ Mitte Oktober diese Prognosen von IWF, Weltbank und OECD mit den Russland-Prognosen von „ConsensusEconomics“ und den Ergebnissen der Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank vom 07. September.
Wachstumsprognosen von IWF, Weltbank und OECD im Vergleich mit
„Consensus Forecast“ und der Zentralbank-Umfrage vom 07.09.23
Yahoo News; Yaroslav Vinokurov: What’s going on with the Russian economy? 26.10.23
In der aktuelleren Umfrage der Zentralbank vom 19. Oktober erwarten die Teilnehmer für 2023 im Mittelwert nicht mehr 2,2 Prozent Wachstum, sondern 2,5 Prozent. Ihre Prognose für 2024 stagniert aber bei 1,5 Prozent. Wie die Zentralbank selbst rechnen also auch die von ihr befragten Analysten 2024 mit einer deutlichen Abschwächung des Wachstums.
Die Zentralbank erwartet 2023 jetzt mehr Inflation als bisher
Am Jahresende 2023 wird der Anstieg der Verbraucherpreise laut der neuen mittelfristigen Prognose der Zentralbank 7,0 bis 7,5 Prozent erreichen (siehe folgende Tabelle). Bisher war sie von einer Inflationsrate von 6,0 bis 7,0 Prozent ausgegangen.
Schon bis Ende 2024 erwartet die Zentralbank aber einen Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise auf 4,0 bis 4,5 Prozent. Sie hält es also weiterhin für möglich, dass die von ihr angestrebte Inflationsrate von 4,0 Prozent im Dezember 2024 erreicht wird. Demgegenüber geht das Wirtschaftsministerium davon aus, dass dieses Ziel erst ein Jahr später Ende 2025 erreicht wird.
Key forecast parameters of the Bank of Russia’s baseline scenario
(growth as % of previous year, if not indicated otherwise)
Zentralbank: Mid-term forecast, 27.10.23
Der Private Verbrauch und die Investitionen wachsen nur 2023 kräftig
Die Zentralbank erwartet, dass der gesamte Verbrauch (einschl. Staatsverbrauch) 2023 um real 5,5 bis 6,5 Prozent höher ist als im Rezessionsjahr 2022. Das ebenso kräftige Wachstum des Verbrauchs der privaten Haushalte werde durch steigende Reallöhne und eine wachsende Aufnahme von Konsumentenkrediten angetrieben.
Die gesamten Bruttoinvestitionen, die 2022 um knapp 5 Prozent sanken, werden 2023 nach Einschätzung der Zentralbank um 11,2 bis 12,7 Prozent steigen. Das hohe Wachstum der Investitionen werde durch stark steigende Unternehmensgewinne, das positive Geschäftsklima und fiskalische Impulse getragen. Die Zentralbank schätzt, dass die Brutto-Anlageinvestitionen in diesem Jahr im Vorjahresvergleich um 7,2 bis 8,7 Prozent wachsen.
Im nächsten Jahr erwartet die Zentralbank jedoch eine annähernde Stagnation des gesamten Verbrauchs (- 0,5 Prozent bis + 0,5 Prozent). Der Verbrauch der privaten Haushalte dürfte dabei 2024 um 1 bis 2 Prozent sinken. Die 2023 sehr stark gestiegenen Brutto-Investitionen werden laut der Zentralbank-Prognose im nächsten Jahr sogar um 3 bis 5 Prozent sinken. Dabei sei allenfalls ein schwaches Wachstum der Brutto-Anlageinvestitionen zu erwarten (0 Prozent bis 2 Prozent).
Zentralbank: 2024 werden steigende Ausfuhren das Wachstum stützen
Das für 2024 von der Zentralbank erwartete Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von nur noch 0,5 bis 1,5 Prozent wird nach ihrer Einschätzung von der außenwirtschaftlichen Entwicklung gestützt. Sie geht davon aus, dass die Ausfuhren im nächsten Jahr real um 1,5 bis 3,5 Prozent steigen, während die Einfuhren gleichzeitig um 4,5 bis 6,5 Prozent gegenüber 2023 sinken.
Im laufenden Jahr 2023 bremst die außenwirtschaftliche Entwicklung hingegen das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Die Zentralbank erwartet, dass die realen Einfuhren im 2023 um 10,2 bis 11,7 Prozent steigen und so rund zwei Drittel ihres Rückgangs im Jahr 2022 wettmachen. Gleichzeitig dürften die Ausfuhren real um rund 10 Prozent sinken.
CBR-Prognose: Der hohe Leistungsbilanzüberschuss sinkt 2023 um 75 Prozent
2022 war Russlands Leistungsbilanzüberschuss wegen der stark gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise auf 238 Milliarden US-Dollar gestiegen. 2023 sinkt er laut der neuen Ausgabe der mittelfristigen Prognose der Zentralbank gegenüber dem Vorjahr voraussichtlich um rund 75 Prozent auf nur noch rund 60 Milliarden US-Dollar.
Die Zentralbank erwartet in diesem Jahr in der Handelsbilanz einen Rückgang der Warenexporterlöse um rund 28 Prozent auf 429 Milliarden US-Dollar bei einem Anstieg des Wertes der Warenimporte um rund 11 Prozent auf 307 Milliarden US-Dollar. Der Überschuss in der Handelsbilanz werde sich damit 2023 um rund 61 Prozent auf nur noch 122 Milliarden US-Dollar verringern.
BOFIT: Wie sich Russlands Leistungsbilanz saisonbereinigt entwickelte
Laut vorläufigen Angaben der Zentralbank in ihrem vierteljährlichen Bericht zur Entwicklung der Zahlungsbilanz erreichte der Überschuss der Leistungsbilanz in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 rund 41 Milliarden US-Dollar.
BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, hat die saisonbereinigte Entwicklung der Leistungsbilanz in den ersten drei Quartalen 2023 in seinem Wochenbericht analysiert. Wie die folgende BOFIT-Abbildung zeigt, sank der Wert der russischen Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen in den beiden ersten Quartalen des Jahres 2023 saisonbereinigt weiter (blaue Linie). Im dritten Quartal stabilisierte er sich jedoch, vor allem wegen höherer Ölpreise. Laut der Internationalen Energie-Agentur IEA war der Urals-Exportpreis im dritten Quartal mit rund 71 US-Dollar je Barrel um knapp die Hälfte höher als im ersten Halbjahr (48 Dollar je Barrel).
Der Wert der russischen Einfuhren von Waren und Dienstleistungen, der sich seit dem zweiten Quartal 2022 kräftig erholt hat, sank im dritten Quartal 2023 hingegen (rote Linie).
Die blauen Säulen in der Abbildung zeigen die saisonbereinigte Entwicklung des Überschusses in der Leistungsbilanz. Nachdem er im ersten Quartal 2023 auf einen langjährigen Tiefstand gesunken ist, erholte er sich im zweiten und dritten Quartal gegenüber dem Vorquartal.
The value of Russian exports of goods and services stabilised in the third quarter, while the value of imports declined
Sources: Macrobond, Central Bank of Russia, BOFIT.
BOFIT, Bank of Finland: Ruble sinks even as Russia’s current account surplus grows , 27.10.23
BOFIT: Das Wirtschaftswachstum wird sich voraussichtlich abschwächen
Die Zentralbank stellt in ihrer Pressemitteilung zum Leitzinsentscheid heraus, dass das Wachstum der russischen Wirtschaft vom Angebot an Arbeitskräften begrenzt wird. Laut Unternehmensumfragen verringere sich die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte weiter. Die Arbeitslosenquote sei auf einen historischen Tiefstand gesunken. Hinzu käme als strukturelles Wachstumshindernis die geringe regionale und sektorale Mobilität der Arbeitskräfte.
Auch BOFIT meint in seinem Wochenbericht, es sei zu erwarten, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft in den nächsten Monaten allmählich verlangsame. Das Institut verweist darauf, dass die Industrieproduktion im September saisonbereinigt annähernd stagniert habe. Vom Verarbeitenden Gewerbe kämen zwar weiterhin Wachstumsimpulse. Die Produktion im Bereich der Förderung von Rohstoffen bleibe jedoch weiterhin gedrückt. Es sei zu erwarten, dass das sinkende Wachstum der öffentlichen Ausgaben und die steigenden Zinsen in den kommenden Monaten das Wachstum der russischen Wirtschaft beeinträchtigen.
VEB-Institut: Die Industrieproduktion stagnierte im August und September fast
Das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank („Bank für Außenwirtschaft“) zeigt in seinem Wochenbericht, dass die Industrieproduktion im August und September saison- und kalenderbereinigt fast stagnierte (schwarze Linie in der folgenden Abbildung).
Im September, in dem die Industrieproduktion insgesamt gegenüber August sehr schwach stieg (+ 0,1 Prozent), war die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (obere dunkelgrüne Linie) zwar 0,6 Prozent höher als im August. Gleichzeitig nahm aber die Produktion im Bereich „Versorgung mit Strom, Gas und Wasser“ um 3,3 Prozent ab und die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie) stieg im September nur um 0,1 Prozent gegenüber August.
Entwicklung der Industrieproduktion (Januar 2014 = 100);
Insgesamt; Bergbau/Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe;
saison- und kalenderbereinigt; Schätzung des VEB-Instituts
VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 27.10.23
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
Zentralbank-Umfrage: 2024 flaut das Wachstum in Russland ab und die Inflation ist hoher als 2023, 24.10.23
WIIW: Konjunktur in Russland und der Ukraine im Zeichen des Krieges, 18.10.23
IWFund Weltbank erwarten in Russland deutlich weniger Wachstum als die Regierung, 11.10.23
Deutsche Institute erwarten 2024 nur noch 1 Prozent Wachstum in Russland, 02.10.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
Reuters: Russian war economy is overheating on a powder keg
Melinda Fremerey und Simon Gerards Iglesias (IW) im Interview: “Putin ist gescheitert”
Josephine Bollinger-Kanne: Geheimoperation zum Devisenzwangsverkauf in Russland
RBC.ru; Siluanov: the share of budget expenditures on social issues is higher than on defense
DLF: Russisches Gas auf dem Balkan – Bulgarien verlangt Transitgebühr, siehe auch: Euractiv