Russische Wirtschaft: Sanktionsgefahr wird Wachstum bremsen

Wiener Wirtschaftsinstitut rechnet mit Wachstumsdämpfer

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) veröffentlichte am Donnerstag seine „Winterprognose“ für die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Für Russland rechnet es mit einem starken Dämpfer durch mögliche Sanktionen.

Vor drei Monaten hatte das wiiw die Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft in den Jahren 2022 und 2023 noch relativ optimistisch eingeschätzt. Angesichts der Eskalation des Ukraine-Konflikts erwartet das wiiw jetzt aber weitere Sanktionen, die das Wachstum der russischen Wirtschaft dämpfen.

Prognosen für 2022 und 2023 deutlich gesenkt

Seine Wachstumsprognose für 2022 senkt das wiiw in seiner „Winterprognose“ von +3,0 Prozent auf +2,0 Prozent. Damit rutscht es vom oberen an den unteren Rand der breiten Prognose-Spanne, die die russische Zentralbank im Oktober veröffentlichte (+2 bis +3 Prozent).

Die russische Regierung geht in ihrer Haushaltsplanung für 2022 und auch für 2023 von einem Wachstum um jeweils 3,0 Prozent aus. Bisher deckten sich die Prognosen des wiiw weitgehend mit dieser Sicht der Regierung. Jetzt halbiert das Institut seine Wachstumsprognose für 2023 aber sogar fast von +2,8 Prozent auf nur noch +1,5 Prozent.

So skeptisch sahen bisher nur wenige die Perspektiven der russischen Wirtschaft. Zum Vergleich: Der Internationale Währungsfonds senkte in der letzten Woche seine Russland-Prognose für 2022 lediglich von +2,9 Prozent auf +2,8 Prozent. Seine Wachstumsprognose für 2023 hob der IWF von +2,0 auf +2,1 Prozent an.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

wiiw-Annahme: Weitere Wirtschaftssanktionen wegen Ukraine-Konflikt

Wichtigster Grund für die Senkung der Wachstumsprognosen des wiiw ist offenbar die Annahme, dass wegen des Ukraine-Konflikts neue Sanktionen gegen Russland verhängt werden. Die wiiw-Pressemeldung zitiert Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Hauptautor der Winterprognose:

„Wir gehen in unserer Prognose von einer Eskalation zwischen Russland und dem Westen mit der Verhängung weiterer gegenseitiger Wirtschaftssanktionen aus. Diese werden beide Seiten treffen, sollten die wirtschaftliche Erholung in Osteuropa insgesamt allerdings nicht zum Erliegen bringen.“

Außerdem trüben, so Grieveson, „altbekannte strukturelle Schwächen“ die Perspektiven für Russlands Wirtschaftswachstum:

wiiw: „Russland ist teilweise immun gegen neue Wirtschaftssanktionen“

Das wiiw stellt aber gleichzeitig fest, Russland habe seine Wirtschaft seit 2014 gegen neue Sanktionen teilweise immunisiert. Es dürfte die meisten von ihnen verkraften.

Eine „konservative Geld- und Fiskalpolitik“, so das wiiw, habe Russland den Aufbau beträchtlicher Währungsreserven ermöglicht (insgesamt 630 Milliarden US-Dollar). Die Bruttowährungsreserven einschließlich Gold hätten im November 2021 rund 40 Prozent des russischen BIP ausgemacht. Russlands Auslandsverschuldung sei niedrig. Zudem habe bei den Staatsanleihen eine Verringerung der Exposition gegenüber dem US-Dollar stattgefunden.

Sollte es tatsächlich zu einem bewaffneten Konflikt kommen, könnte dies nach Einschätzung von Grieveson die EU härter als Russland treffen, weil dann „die ohnehin schon hohen Preise für Erdgas und Erdöl nach oben schnellen und die Inflation weiter anheizen.“

Entwicklung wichtiger Wirtschaftsindikatoren 2019 bis 2024

wiiw: Winter Forecast: Eastern Europe will grow by 3.2% in 2022; sowie: „Overview Russia

2021 wuchs die russische Wirtschaft um 4,5 Prozent

Die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion hat in Russland nach Einschätzung des wiiw im vierten Quartal 2021 „mit ziemlicher Sicherheit wieder Fahrt aufgenommen.“ Das Wachstum des BIP im Gesamtjahr 2021 schätzt das Institut wie der IWF auf 4,5 Prozent. Es sei vollständig von der Inlandsnachfrage getragen worden.

Russlands Erwerbslosenquote (Labour Force Survey) sank laut wiiw 2021 im Jahresdurchschnitt von 5,8 auf 5,0 Prozent. 2022 rechnet das Institut mit einem weiteren Rückgang auf 4,7 Prozent.

Der Anstieg der Verbraucherpreise verdoppelte sich im Jahresdurchschnitt 2021 fast von 3,4 Prozent auf 6,7 Prozent, obwohl die Zentralbank ihren Leitzins im Jahresverlauf von 4,25 Prozent auf 8,5 Prozent verdoppelte.

Prognose 2022: Die Inflation steigt trotz weniger Wachstum auf 7,1 Prozent

Nachdem die jährliche Inflationsrate im Dezember auf 8,4 Prozent gestiegen ist und damit weit über dem Inflationsziel der russischen Zentralbank von 4 Prozent lag, rechnet das wiiw in den kommenden Monaten mit einer weiteren Straffung der Geldpolitik. Im Verlauf des Jahres 2022 werde der Inflationsdruck zwar voraussichtlich nachlassen (auch aufgrund „freiwilliger“ Preisobergrenzen der Einzelhändler). Im Jahresdurchschnitt 2022 werde der Anstieg der Verbraucherpreise aber dennoch mit 7,1 Prozent noch etwas höher sein als im Jahresdurchschnitt 2021 (+ 6,7 Prozent).

wiiw: Auch 2022 ist ein hoher Leistungsbilanzüberschuss zu erwarten

Der Leistungsbilanzüberschuss Russlands ist nach Schätzung des wiiw dank stark steigender Energiepreise 2021 von 2,4 auf 7,3 Prozent des BIP gewachsen, obwohl die konjunkturelle Erholung von einem sehr starken Anstieg der Importe begleitet worden sei. 2022 erwartet das wiiw einen ähnlich hohen Überschuss in der Leistungsbilanz (6,5 Prozent des BIP).

Laut der ersten Schätzung der russischen Zentralbank ist der Leistungsbilanzüberschuss 2021 auf den neuen Rekordstand von 120 Milliarden US-Dollar gestiegen (2018: 116 Mrd. US-Dollar; siehe Ostexperte.de-Artikel).

Tatiana Evdokimova twitterte zur langfristigen Entwicklung der Salden der russischen Leistungsbilanz (rote Linie) und ihrer Teilbilanzen (Warenhandel, Dienstleistungshandel, Einkommens- und Übertragungsbilanz) unter anderem folgende Abbildung.

Salden der russischen Leistungsbiianz
und ihrer Teilbilanzen in Milliarden US-Dollar

Tatiana Evdokimova: Tweet vom 21.01.2022

Die Abbildung zeigt, dass sich der Anstieg des Überschusses der Leistungsbilanz (rote Linie) im Vergleich zum Vorjahr aus dem starken Anstieg des Überschusses in der Handelsbilanz (dunkelblaue Säule) ergab.

Die annähernde Verdoppelung des Handelsbilanzüberschusses war hauptsächlich preisbedingt. Laut einer Analyse des Gaidar-Instituts ergaben sich beim Export von Öl und Gas, der insgesamt rund die Hälfte der gesamten Warenexporterlöse im Jahr 2021 stellte, folgende Steigerungsraten der Preise in US-Dollar (Januar bis November 2021 im Vorjahresvergleich):

  • Rohöl: + 57 Prozent
  • Mineralölprodukte: + 48 Prozent
  • Erdgaslieferungen per Pipeline: + 104 Prozent

Auch das Moskauer CMASF erwartet ein relativ schwaches Wachstum

Das Moskauer „Zentrum für makro-ökonomische Analyse und kurzfristige Prognose“ (CMASF) erwartet für 2022 und 2023 ein kaum stärkeres Wachstum der russischen Wirtschaft als das wiiw. Nach einem Anstieg des BIP um 4,5 Prozent im letzten Jahr rechnet das CMASF in einer Mitte Januar veröffentlichten Prognose für 2022 mit einer Abschwächung des Wachstums auf 2,1 Prozent und erwartet für 2023 einen weiteren Rückgang auf 1,9 Prozent.

Das CMASF betont, dass Prognosen aktuell besonders unsicher seien. Einerseits könne man bei einer günstigen Entwicklung der Weltkonjunktur eine Beschleunigung des Wachstums erwarten. Andererseits könne die Erholung der Konjunktur bei einer neuen Pandemie-Welle oder geopolitischen Turbulenzen abbrechen,

Zu seinen Wachstumsprognosen bis 2024 veröffentlichte das CMASF folgende Abbildung. Sie zeigt die erwarteten Wachstumsbeiträge verschiedener Verwendungsbereiche des BIP:

CMASF-Prognose:
Beiträge der Verwendungsbereiche zum BIP-Wachstum in Prozentpunkten

Verwendungsbereiche:          

CMASF: On the situation in the Russian economy and medium-term prospects; 19.01.2022;

Für das Jahr 2021 ist erkennbar, dass das BIP-Wachstum von 4,5 Prozent vom starken Anstieg der Importe (roter Säulenteil) gebremst wurde. Die Exporte (grüner Säulenteil) lieferten einen deutlich geringeren Wachstumsbeitrag (+ 1,3 Prozentpunkte) als die Importe (- 4,5 Prozentpunkte).

Getragen wurde das Wachstum 2021 vor allem von den Bereichen des privaten Verbrauchs. Der Einzelhandel (dunkelgelb) stellte einen Wachstumsbeitrag von 2,3 Prozent punkten, der Dienstleistungsbereich (hellgelb) einen Beitrag von 1,5 Prozentpunkten. Der Wachstumsbeitrag der Anlageinvestitionen (blauer Säulenteil) war geringer (1,2 Prozentpunkte).

Das CMASF erwartet für 2022, dass sich das Wirtschaftswachstum auf 2,1 Prozent abschwächt. Dabei dürfte die Anlageinvestitionen nur noch um 3,0 bis 3,5 Prozent wachsen (2021: + 6,9 Prozent).

Das Wachstum im Einzelhandelsbereich dürfte 2022 auf 3,0 bis 3,2 Prozent sinken (2021: +7,2 Prozent), im Dienstleistungsbereich auf 2,0 bis 2,5 Prozent (2021: +17,5 Prozent). Hintergrund für diese Abschwächung des Wachstums des privaten Verbrauchs im Jahr 2022 ist, dass die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung nur noch um 2,1 Prozent steigen (2021: + 4,7 Prozent).

Bei diesen Prognosen geht das CMASF davon aus, dass der Urals-Ölpreis von 69 USD/Barrel im Jahr 2021 auf 70 bis 73 USD/Barrel im Jahr 2022 steigt.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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