Die russische Zentralbank hat am 13. September ihren Leitzins erneut erhöht. Von der Mehrheit der Analysten war das laut Presseberichten nicht erwartet worden. Sie rechneten damit, dass der Leitzins von 18 Prozent beibehalten wird. Die Zentralbank hob ihn zur Bekämpfung der auf 9,1 Prozent gestiegenen Inflation jedoch auf 19 Prozent an, obwohl auch sie erste Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums sieht. Auf die Abschwächung des Produktionsanstiegs wies unter anderem auch Alexander Shirov, der Direktor des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, in einem Interview hin. Eine baldige Senkung des Leitzinses zur Stützung des Wachstums ist jedoch unwahrscheinlich. Die Zentralbank betonte sogar ausdrücklich, sie halte sich die Möglichkeit einer weiteren Erhöhung im Oktober offen.
Die Inflation hat sich seit dem Frühjahr 2023 stark beschleunigt
Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 hatte die Zentralbank ihren Leitzins zunächst sprunghaft auf 20 Prozent angehoben, dann aber bis zum Sommer 2022 rasch wieder auf 7,5 Prozent gesenkt (blaue Linie in der folgenden Abbildung, Trading Economics Chart). Die schnelle Zinssenkung war möglich, weil der Anstieg der Verbraucherpreise im Verlauf des Jahres 2022 und Anfang 2023 stark abflaute (rote Linie, Trading Economics Chart). Bis zum April 2023 sank die jährliche Inflationsrate auf 2,3 Prozent.
Leitzins in Prozent/Jahr (blaue Linie) und
jährliche Veränderung der Verbraucherpreise in Prozent (rote Linie)
Finanzmarktwelt, Claudio Kummerfeld: Russland: Leitzins steigt auf 19 % – mehr als verdoppelt in einem Jahr, 13.09.24
Seit dem Frühjahr 2023 zog die Inflationsrate wieder sehr stark an. Sie erreichte im November 2023 7,5 Prozent. Die Zentralbank hob den Leitzins im Verlauf des Jahres bis auf 16 Prozent im Dezember 2023 an.
Leitzins bei steigender Inflation bis auf 19 Prozent erhöht
Der jährliche Anstieg der russischen Verbraucherpreise zog trotz der auf 16 Prozent erhöhten Leitzinsen im Verlauf des Jahres 2024 aber weiter an. Im Juli erreichte er 9,1 Prozent. Die Zentralbank erhöhte Ende Juli den Leitzins weiter auf 18 Prozent.
Im August stagnierte der Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahresmonat bei rund 9,1 Prozent. Die jährliche Inflationsrate schwächte sich nur sehr geringfügig ab: Sie sank von 9,13 Prozent im Juli auf 9,05 Prozent im August (Finanzmarktwelt).
Am 13. September hob die Zentralbank den Leitzins um einen weiteren Prozentpunkt auf 19 Prozent an. Die Zentralbank begründete die erneute Leitzinserhöhung in ihrer Presseerklärung. Die weitere Straffung der Geldpolitik sei erforderlich, damit ein Rückgang der Inflation in Gang komme, damit die Inflationserwartungen sinken und um eine Abnahme der Inflationsrate auf das angestrebte Ziel von 4 Prozent im Jahr 2025 zu sichern.
Die Inflationserwartungen sind bis zuletzt erneut gestiegen
Die Zentralbank weist darauf hin, dass die Inflationserwartungen von Verbrauchern und Unternehmen gestiegen seien (grüne Linie in der folgenden Abbildung). Es gebe noch keine Hinweise auf ein Nachlassen des Inflationsdrucks. Die von der Zentralbank angestrebte Inflationsrate beträgt 4 Prozent (gestrichelte Linie).
Inflationsrate (weiße Linie) und
Inflationserwartungen (grüne Linie) in Prozent
Yahoo Finance; Bloomberg: Russia Signals More Tightening After Hiking Rate to 19%, 13.09.24
Die Zentralbank hält es für wahrscheinlich, dass die jährliche Inflationsrate Ende 2024 die im Juli von der Zentralbank veröffentlichte Prognose von 6,5 bis 7,0 Prozent überschreiten wird. “Das Wachstum der Binnennachfrage übersteigt nach wie vor deutlich die Möglichkeiten zur Ausweitung des Angebots an Waren und Dienstleistungen”, meint die Zentralbank zu den Ursachen für die weiterhin hohe Inflation.
Auch die russische Regierung erwartet in diesem Jahr keinen raschen Rückgang der Inflation. Sie geht in ihren Beratungen zur Aktualisierung der Haushaltsplanung davon aus, dass die Inflationsrate im Dezember 2024 noch 7,3 Prozent erreichen wird (Politcom.ru).
Im nächsten Jahr wird mehr Preisstabilität erwartet. Die Zentralbank rechnet damit, dass ihre Geldpolitik die jährliche Inflationsrate im Dezember 2025 entsprechend ihrer Prognose auf 4,0 bis 4,5 Prozent drücken wird.
Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums
Zur aktuellen Konjunkturentwicklung meint die Zentralbank in ihrer Presseerklärung, das Wirtschaftswachstum habe sich zuletzt etwas abgeschwächt. Diese Verlangsamung sei aber wahrscheinlich nicht in erster Linie auf eine Abkühlung der Inlandsnachfrage zurückzuführen, sondern auf zunehmende angebotsseitige Engpässe und eine nachlassende Auslandsnachfrage.
Die Zentralbank weist auf Engpässe auf dem Arbeitsmarkt hin. Die Arbeitslosigkeit habe erneut einen historischen Tiefstand erreicht. Vor allem im Verarbeitenden Gewerbe fehlten weiterhin in hohem Maße Arbeitskräfte. Obwohl sich der Anstieg der Löhne in den letzten Monaten verlangsamt habe, bleibe er stark und übertreffe weiterhin das Wachstum der Produktivität.
Die Nachfrage der Verbraucher, aber auch die Investitionen sieht die Zentralbank kräftig weiter wachsen. Der private Konsum bleibe trotz einer leichten Abschwächung stark. Er werde vor allem durch die steigenden Einkommen angetrieben. Die Investititonen würden durch staatliche Ausgaben und die von privaten Unternehmen in den letzten Jahren angesammelten Finanzierungsmittel gestützt.
Die Zentralbank erwähnt aber auch, dass aktuelle Unternehmensbefragungen eine leichte Verschlechterung des Geschäftsklimas ergaben. Gleichzeitig weist sie aber darauf hin, dass die Erwartungen der Unterhnehmen zur künftigen Entwicklung der Nachfrage trotzdem immer noch relativ hoch seien.
Alexander Shirov: Die Produktionskapazitäten begrenzen das Wachstum
Der Direktor des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Shirov, stellt in einem Interview mit dem Internet-Magazin Monocle.ru auch fest, das sich das Wirtschaftswachstum offensichtlich verlangsame.
Er verweist auf den Rückgang der jährlichen Wachstumsrate in der Industrie. Nachdem die Industrieproduktion in den letzten Monaten vor dem Juni 2024 im Vorjahresvergleich um 4 bis 5 Prozent gestiegen sei, habe es im Juni einen Einbruch der Wachstumsrate auf nur noch 2,7 Prozent gegeben. Im Juli habe sich der Anstieg der Produktion zwar wieder auf 3,3 Prozent beschleunigt (Finmarket.ru). Aber das ändere nichts daran, dass in der Industrie ein allmählicher Rückgang des Wachstums zu beobachten sei. Der Hauptgrund dafür sei, dass sich das schnelle Wachstum, das im Sommer 2022 in erster Linie im Verarbeitenden Gewerbe begann, nicht auf unbestimmte Zeit fortsetzen könne. Dem stünden ganz einfach die physischen Grenzen der verfügbaren Produktionskapazitäten entgegen.
BOFIT: Russlands Wirtschaft ist auf einem „moderateren“ Wachstumspfad
Auch BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, stellt in seinem jüngsten Wochenbericht fest, dass sich Russlands Wirtschaft im Juli weiterhin auf einem moderateren Wachstumspfad bewegte. In der folgenden Abbildung zeigt BOFIT, dass die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere schwarze Linie) und im „Verarbeitenden Gewerbe“ (dunkelblaue Linie) saisonbereinigt im Juni und Juli gegenüber dem Vormonat gesunken ist.
Indizes der saisonbereinigten Produktion in den Bereichen „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“, Verarbeitendes Gewerbe, Einzelhandel, Bauwirtschaft (2021=100)
BOFIT, Bank of Finland: Russia continued on a more moderate growth path in July; fixed investment supported first-half growth, 13.09.24
Das Internet-Magazin „The Bell“ meint in einer Konjunkturanalyse, die aktuellen Daten ließen vermuten, dass die überhitzte russische Wirtschaft beginne sich abzukühlen. The Bell verweist unter anderem auf den Rückgang der Privatkundenkredite, die schwächeren Lohnzuwächse und das abnehmende Wachstum der Industrieproduktion. Die Abkühlung solle jedoch nicht überschätzt werden. Wir sähen derzeit sicher keinen Abschwung der russischen Wirtschaft. Für The Bell handelt es sich lediglich um „ein allmähliches Ende des ungebremsten Wachstums der letzten 18 Monate“.
Wie entwickeln sich Anlageinvestitionen und privater Verbrauch?
Dem Einwand, dass die Anlageinvestitionen in großen und mittleren Unternehmen stark gestiegen sind, entgegnet Alexander Shirov, dass im zivilen Teil der russischen Wirtschaft hauptsächlich die Investitionen steigen, die in Verbindung mit dem Bau von Infrastruktur-Projekten stehen (u.a. Maschinenbau, Logistik, Finanzierung). Diese Investitionen würden zwar langfristig das Wachstumspotenzial steigern. Kurz- und mittelfristig könnten sie das Wachstum der Wirtschaft jedoch nicht signifikant stützen.
Im Bereich der privaten Verbrauchs ist laut Shirov bei Waren, deren Kauf oft mit Krediten finanziert wird, ein deutlicher Rückgang des Umsatzwachstums zu beobachten (zum Beispiel Haushaltsgeräte, Kleidung, Schuhe). Anders sei dies bei Waren des täglichen Bedarfs.
Die Bedeutung des militärischen Bereichs für Russlands Wirtschaft
Den derzeitigen Beitrag der „Verteidigungsindustrie“ und der von ihr ausgehenden „Multiplikationseffekte“ zum Wachstum der russischen Wirtschaft schätzt Shirov auf rund 40 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate.
Für „Verteidigung“ würden derzeit rund 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verwendet, vor 2022 seien es rund 5 Prozent des BIP gewesen. Der Wachstumsimpuls, der von der „militärischen Spezial-Operation“ in der Ukraine ausgegangen sei, könne also auf rund 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts veranschlagt werden.
Heute sei Russland aber nahe der Grenze, ab der eine weitere Steigerung der Militärausgaben die Wirtschaftsaktivitäten nicht länger stimuliert, sondern beeinträchtigt. Mit der starken Beanspruchung der Ressourcen dürften viele negative Effekte verbunden sein meint Shirov.
Prognose des Forschungsinstituts der Akademie der Wissenschaften im Vergleich
Die am 11. September veröffentlichte vierteljährliche Konjunkturprognose des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften geht jetzt davon aus, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2024 ein Wachstum von 3,7 Prozent erreicht. Vor einem Vierteljahr hatte das Institut ein etwas schwächeres Wachstum von 3,4 Prozent prognostiziert.
Die Wachstumsprognose des Instituts für 2024 ist mit +3,7 Prozent etwas niedriger als die Prognose des Wirtschaftsministeriums (+3,9 Prozent). Im nächsten Jahr erwartet das Institut jedoch nur eine Abschwächung des Wachstums auf 3,0 Prozent, während die Regierung 2025 mit einem stärkeren Rückgang des Wachstums auf 2,5 Prozent rechnet.
BIP-Prognosen 2024 bis 2026
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Die BIP-Prognosen des VEB-Instituts bis 2026 entsprechen weitgehend den Regierungsprognosen
Die in der letzten Woche veröffentlichte neue Konjunkturprognose des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft („Wneschekonombank“) weicht von der Prognose des Wirtschaftsministeriums kaum ab. Das VEB-Institut erwartet nach einem BIP-Wachstum von 3,7 Prozent im Jahr 2024 einen Rückgang des Wachstums auf 2,6 Prozent im Jahr 2025 und auf 2,4 Prozent im Jahr 2025.
Das VEB-Institut geht davon aus, dass die Produktion der russischen Wirtschaft im Verlauf des Jahres 2024 im Vergleich zum Vorquartal saisonbereinigt sehr stetig wächst (obwohl das BIP im Juni und Juli beträchtlich schwankte). Erst im Verlauf des Jahres 2025 erwartet das VEB-Institut, dass sich der Anstieg des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorquartal von 0,6 Prozent im ersten Quartal 2025 auf 0,2 Prozent im vierten Quartal 2025 abschwächt.
Index des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts (2010=100)
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- ZDF Doku: Deutsche Maschinen für Putins Krieg. Gute Geschäfte trotz Sanktionen?
- Olga Belenkaya: Central Bank prepares to “significantly” raise inflation forecast
- Vladimir Milov: Russian Economy: Still Standing, But Stuck
- Uwe Klußmann im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“: Russlands Magnaten
- Gaidar-Jahrbücher, russisch und englisch