Mongolisch-deutsche Zeitreise
Aus der heutigen Mongolei zog einst Dschingis Khan los, um eines der größten Reiche in der Menschheitsgeschichte zu erschaffen. Und auch heute kommt dem nordostasiatischen Land eine besondere geopolitische Bedeutung zu. Trotzdem ist wenig über die Mongolei und ihre wechselhaften Entwicklungen während des 20. Jahrhunderts bekannt – obwohl sie eine ganz eigene historische Entwicklung durchlebt hat. Dendev Terbishdagva versucht mit seinem aktuellen Buch, diese Leerstelle zu schließen und der Mongolei in Deutschland ein Gesicht und eine Stimme zu geben.
Von Urs Unkauf
In acht lebendig geschriebenen, stellenweise kurzweiligen oder nachdenklichen Kapiteln schildert Terbishdagva seine Erfahrungen als Sohn einer mongolischen Nomadenfamilie, der für das Studium der Lebensmitteltechnologie in die DDR ging. Der Titel des Buches schlägt bereits den Bogen zwischen der Mongolei und Deutschland, das der Autor gerne als seine zweite Heimat bezeichnet. Die individuelle Biografie von Dendev Terbishdagva ist dabei stets in den zeitgeschichtlichen Kontext der Entwicklungen beider Länder eingebunden und liest sich daher zuweilen wie eine inoffizielle Chronik der mongolisch-deutschen Beziehungen, denen er auch in seiner späteren Lebensphase als Politiker einen besonderen Stellenwert einräumt. Nach dem Studium in der DDR und einer Karriere in einem Fleischwarenkombinat in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar kehrt Terbishdagva 1988 als Übersetzer an der FDJ-Hochschule in Bernau in seine zweite Heimat zurück, wo er den Fall der Berliner Mauer und den darauffolgenden Systemwechsel persönlich miterlebt. Schnell erkennt er die Zeichen der Zeit und wechselt nach einer kurzen Tätigkeit in der Verwaltung als Unternehmer in die freie Wirtschaft. Seine Eindrücke vermitteln lebhaft die Chancen, aber auch Risiken, die in dieser Phase des Umbruchs anzutreffen waren.
Traditionell, jung, unabhängig
Nach der Erfahrung als Privatunternehmer folgt gewissermaßen der Übergang in eine zweite Lebensphase, in der er sich in der um ihre Rolle in der gewandelten Gesellschaft ringenden Mongolischen Revolutionären Volkspartei (MRVP) engagiert und im Jahr 2000 schließlich als Vizeminister für Landwirtschaft sein erstes Regierungsamt antritt. Der ersten Station in der Exekutive folgt das Wirken als Botschafter des Mongolischen Staates in der Bundesrepublik Deutschland von 2002 bis 2004. Während dieser Zeit übernimmt er auch für Diplomaten unübliche Aufgaben: etwa, indem er sich eigenhändig bei der Fertigstellung des neuen Botschaftsgebäudes in Berlin beteiligt. Schließlich ruft ihn die Verpflichtung für sein Land nach zwei Jahren von diesem Posten und Terbishdagva wird erstmalig in den Großen Staatkhural, das mongolische Parlament gewählt. Es folgen drei Wiederwahlen und verschiedenste Ämter, Funktionen und Erfahrungen in Staat, Parteien und Parlament. Dieser außergewöhnliche Werdegang zeichnet das Schicksal der politischen Entwicklung der Mongolei seit dem Systemwechsel von 1992 mit allen seinen Facetten nach und thematisiert auch die unangenehmen Entwicklungen wie politische Intrigen, Korruption, Oligarchie und die Aneignung des mongolischen Rohstoffreichtums durch skrupellose ausländische Kartelle. Im letzten Kapitel blickt Terbishdagva kritisch auf diese vielen, noch zu vollendenden Baustellen der jungen mongolischen Demokratie und er formuliert seine Vision einer modernen und starken Mongolei, die ihre Traditionen nicht vergisst und sich souverän statt abhängig in der neuen Welt behauptet.
Keine klassischen Memoiren
Der Autor geht bei seinen Ausführungen nicht im strengen Sinne chronologisch vor und lässt so manche Anekdote aus der vormodernen Historie seines Landes einfließen, womit sich das Werk von vielen bekannten Politiker- und Diplomatenmemoiren abhebt. Dem Leser wird dadurch ein besonderer Einblick in die Bedeutung der Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Traditionen und Moderne, für das soziokulturelle Selbstverständnis in der heutigen Mongolei vermittelt. Dem langjährigen mongolischen Spitzenpolitiker gelingt es in seinen Erinnerungen, den Leser auf der Zeitspanne von der sozialistischen Phase der Mongolischen Volksrepublik über die Einführung der parlamentarisch-marktwirtschaftlichen Ordnung bis in die jüngste Gegenwart in die Hintergründe und Entwicklungen des Schicksals der Mongolei umfassend einzuführen. Wer sich eine fundierte Perspektive auf die Geschichte und Gegenwart der modernen Mongolei aneignen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.
^*^Dendev Terbishdagva (2020): Im Jahr des Roten Affen. Ein Nomade zwischen Jurte und Brandenburger Tor. Verlag Neues Leben, 479 Seiten, 24,00 Euro.