„Frühling in Kiew: Die Seele eines Landes zwischen Schmerz und Schönheit““
Ostexperte Gastautorin Yelyzaveta Kolyada gibt einen sehr persönlichen und poetischen Einblick in den Frühling in Kiew. Wer diesen Artikel liest, wird Zeuge der Resilienz und des Lebenswillens einer Stadt, die das Chaos in ihren Alltag integriert hat. Der Artikel bietet einen kraftvollen Einblick in die Psychologie des Überlebens und in die Schönheit eines Lebens, das nicht aufgegeben hat. Es ist eine Geschichte von Hoffnung, Mut und der unerschütterlichen Fähigkeit der Menschen, inmitten von Herausforderungen und Schmerz weiter zu leben.
Wenn die Sonne die Stadt weckt

Frühling 2025 in Kiew kam unerwartet schnell. Es schien, als hätte man erst gestern morgens noch eine Jacke übergeworfen und sich in einen Schal gewickelt, und heute schon scheint die Sonne so hell, dass es in einem leichten T-Shirt heiß wird. Die Temperatur stieg plötzlich stark an – jetzt sind es schon +26 Grad, und das spürt man in jeder Bewegung der Stadt. Die Menschen sind aus dem Winterschlaf erwacht: in Tops, T-Shirts, Shorts, Sportanzügen. Manche mit Kaffee, manche mit dem Telefon, manche gehen einfach – schnell, entschlossen, als würde alles ringsum zur Eile drängen.
Ich sitze im Park und beobachte, wie Kinder über den Spielplatz toben. Sie schreien, lachen, klettern an Seilen und Rutschen. Daneben sitzen die Eltern – manche lesen, manche schauen ins Telefon, manche schauen einfach in den Himmel. Die Frühlingssonne ist sehr gemütlich, in ihr gibt es keine Gluthitze, nur Wärme und ein Gefühl von Leben. Alles blüht: Das Gras ist hell, frisch, saftig, als wäre es zum ersten Mal erschienen. Die Bäume schlagen aus, die Luft riecht nach feuchter Erde, jungem Laub und einer Art friedlicher Erwartung.
Aber selbst in dieser Frühlingsidylle ertönt eine Sirene. Sie beginnt zu heulen und durchdringt das Kinderlachen und den Gesang der Vögel. Die Menschen erstarren für eine Sekunde. Nicht vor Angst – eher aus Gewohnheit. Und dann… machen sie einfach weiter mit dem, was sie gerade taten. Niemand schreit, niemand rennt. Dieselben Kinder rutschen weiter, dieselben Erwachsenen sitzen weiter. Höchstens tritt jemand ein wenig zur Seite, nimmt ein Kind an die Hand und führt es vom Spielbereich weg, einfach um das Risiko zu verringern. Nicht aus Angst – sondern weil inzwischen alles klar ist.
Zwischen Sirenen und Sandwiches

Der Frühling 2025 in Kiew – das ist paradoxe Ruhe in einer Stadt, die längst aufgehört hat, „ruhig“ zu sein. Wir haben gelernt, an der Schnittstelle von Angst und Schönheit zu leben. Der konditionierte Alarm erzeugt im Körper nicht mehr den Adrenalinstoß wie früher. Das Heulen der Sirene wird zum Hintergrundgeräusch – wie das Bellen von Hunden, Hupen von Autos oder das ferne Läuten einer Kirchenglocke. Kiew hat diese Unruhe aufgesogen, verdaut und in einen Teil seiner täglichen Routine verwandelt.
U-Bahn. Verkehr. Während eines Luftalarms stellt der öffentliche Nahverkehr an der Oberfläche seinen Betrieb ein. Wenn ein Bus weiterfahren müsste – er lässt die Fahrgäste einfach aussteigen und bleibt stehen. Und das war’s. Danach entscheidet jeder für sich: Manche gehen zu Fuß, manche rufen ein Taxi, manche steigen in die U-Bahn hinab, um dort zu warten. Aber niemand wundert sich. Das ist zur Norm geworden. Die paradoxe Normalität des Krieges, der schon seit drei Jahren andauert.
In der U-Bahn, besonders an Umsteigebahnhöfen oder auf tiefen Stationen, lebt alles sein eigenes Leben. Die Menschen sitzen nicht in Panik. Sie arbeiten an Laptops, lesen, spielen am Handy, schreiben Nachrichten, umarmen sich, flüstern über irgendetwas. Manche schlafen. Manche kauen an einem Sandwich. Manche holen ein Spielzeug für ihr Kind heraus. Erstaunlich, wie viel menschliche Wärme in all dem steckt. Als würde die Menschlichkeit unter der Erde, in den Betonbögen, nicht sterben – sondern im Gegenteil, sichtbarer werden.
Leben im Einklang mit dem Chaos
Dieser Frühling ist voller Widersprüche. Auf der Straße blüht der Flieder, in den Nachrichten – wieder Beschuss. Irgendwo brennt ein Feld, und hier – eine Straßenkonzertbühne. Die Menschen lächeln, planen den Urlaub, träumen, küssen sich auf Parkbänken. Jemand geht mit Selfie-Stick den Andrijivskyj-Descent entlang. Jemand steigt in die U-Bahn hinunter, weil „noch Alarm“ ist. Jemand eilt zu einem Vorstellungsgespräch oder einer Prüfung. Wir leben. Wir überleben nicht – wir leben wirklich. Und das ist vielleicht das Hauptphänomen dieses Frühlings.
Niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird. Aber jeden Tag, wenn man sieht, wie eine Großmutter Tulpen vor dem Hauseingang pflanzt, oder wenn man sieht, wie ein junges Paar im Gehen einen Namen für das Kind aussucht – versteht man: Kiew steht. Es lebt. Es versteckt sich nicht. Es atmet. Es ist von der Sonne gewärmt, und diese Wärme will man teilen. Und in dieser Wärme liegt vielleicht der wahrhaftigste Widerstand.
Und so gehst du durch die Straßen von Kiew, und es scheint – die Stadt lebt getrennt vom Krieg. Schaufenster spiegeln die Passanten wider. Cafés stellen überall Tische nach draußen. Jemand sitzt bei einem Cappuccino, jemand lacht, jemand schreibt in ein Notizbuch, jemand – schaut einfach aus dem Fenster. Hinter diesen Fenstern – kleine Welten, und jede von ihnen ist aufgebaut auf dem zerbrechlichen Wunsch: einfach bis morgen zu überleben. Einfach zu sein. Einfach zu lieben.
Ich gehe durch Podil. Hier ist es besonders schön im Frühling. Die alten Pflastersteine scheinen die Wärme von tausenden Schritten zu bewahren. Die Luft ist erfüllt von einer Mischung aus Kaffee, Frische des Dnipro, blühenden Bäumen und dem alten Kiew mit seinem langsamen Atem und besonderen Rhythmus. Ich fange Gesprächsfetzen auf – jemand spricht über die Liebe, jemand – über Prüfungen, jemand – „es gab einen Einschlag letzte Nacht in Darnyzja“. Diese Sätze existieren nebeneinander, schließen einander nicht aus. Alles koexistiert. Alles gleichzeitig.
Der Klang der Stille und die Stärke des Lebens

Du kannst in eine Kirche gehen, eine Kerze anzünden. Die Menschen kommen oft. Aber nicht wie früher. Nicht aus Pflicht oder Tradition, sondern wie zum letzten Mal. Jemand steht lange in der Ecke. Wortlos. Steht einfach da. Vielleicht betet er. Vielleicht schweigt er einfach mit Gott. Der Frühling macht diese Stille laut. In ihr – tausend Gedanken. In ihr – keine Klage, sondern eine Bitte: noch ein bisschen. Möge es Licht geben. Möge es ein Zuhause geben.
An der Uferpromenade füttern Kinder Tauben. Ein Junge wirft Krümel und lacht laut. In seinen Händen – ein Plastikauto. Er – wie ein Symbol dafür, dass das Leben stärker ist als alles. Vielleicht weiß er nichts von Raketen. Oder weiß es, aber hat es für einen Moment vergessen. Oder hat sich einfach dafür entschieden, jetzt zu spielen. Kinder – unsere Lehrer im Überleben. Sie können noch hier und jetzt sein. Ohne Analyse, ohne Angst. Man muss ihnen nicht erklären, wie man unter Alarmen lebt. Sie leben einfach.
Und die Erwachsenen lernen von den Kindern. Wir lernen, uns wieder zu freuen – über den warmen Wind, einen Apfel, ein Wiedersehen. Wir lernen zu fühlen – anders, feiner. Denn der Krieg hat die Gefühle entblößt. Sie wurden transparenter, wie Luft nach einem Gewitter. Man kann sich nicht mehr verstellen. Man kann sich nicht selbst belügen. Der Frühling verlangt nach Wahrheit. Vor sich selbst, vor den Nächsten. In Kiew 2025 ist es unmöglich, im Autopilotmodus zu leben. Hier lebt man – wirklich, oder man lebt gar nicht.
Im Frühling 2025 ist ein neues Wort entstanden – „überlebte Stille“. Das ist, wenn Stille nicht von Ruhe handelt, sondern von Echos. Wenn keine Sirene heult, aber das Ohr immer noch lauscht. Wenn der Himmel klar ist, aber die Schultern sich noch erinnern, wie es war, angespannt zu sein. Es ist die Stille nach dem Sturm. Sie fällt schwer, aber in ihr gibt es auch Leben. Gerade in solchen Momenten – wenn alles ruhig ist – kann man hören, wie das Herz der Stadt schlägt. Sein Rhythmus – nicht laut, aber beharrlich. Er sagt: „Ich bin da. Ich lebe. Ich bin Kiew.“
„Trimai’sja“ – Halte durch
Ich merke, wie die Menschen einander anschauen. Nicht nur mit den Augen, sondern mit der Seele. Der Blick ist länger geworden. Tiefer. In ihm – das sofortige Erkennen von Schmerz, Erfahrung, Standhaftigkeit. Die Menschen fragen seltener „Wie geht’s?“. Häufiger sagen sie: „Trimai’sja“ (Halte durch). Und in diesem Wort – alle Zärtlichkeit, aller Zusammenhalt, alle Liebe, die man früher nicht zu zeigen wagte. Der Frühling hat die Sprache des Herzens freigelegt.
Auf dem Gelände der WDNCh fahren Kinder Fahrrad. Nebenan spielen Jungs Basketball. Und ein Stück weiter – eine Ausgabestelle für humanitäre Hilfe. Diese Kontraste stechen nicht ins Auge. Sie sind zur Norm geworden. Das Leben wartet nicht, bis alles vorbei ist. Es geht mit dem Krieg, trägt in sich beide Seiten – Tod und Geburt. Der Frühling tut nicht so, als sei alles gut. Er zeigt einfach, dass alles ist. Und das ist das Ehrlichste, was es geben kann.
Ich sehe alte Menschen, die unter Kastanien spazieren gehen. Manche mit Gehstock, manche allein. Aber sie gehen. Ihre Gesichter – wie Buchseiten. Dort – Kriege, an die sich junge Menschen nicht mehr erinnern. Dort – Überleben, Hunger, Liebe, Verluste, Hoffnung. Und all das ist wieder aktuell. Kommt wieder. Doch in ihren Augen ist keine Panik. Dort – Wissen: Alles geht vorbei. Alles wiederholt sich. Alles kann man überstehen. Wenn man durchhält.
Der Frühling 2025 in Kiew – das ist ein Lehrbuch über Überlebenspsychologie. Über emotionale Reife. Über Menschlichkeit. Wir alle absolvieren es ohne Lehrer. Wir lernen die Lektionen in der Praxis. Wir machen Fehler, zerbrechen, stehen auf, umarmen uns und machen weiter. Wir haben aufgehört zu warten, dass jemand alles ändert. Wir sind diejenigen geworden, die verändern. Die eine Kerze in den dunklen Raum tragen. Die ein Fenster öffnen, auch wenn draußen Alarm ist.
Und wenn draußen die Vögel singen – hörst du sie anders. Nicht nur als Hintergrund. Sondern als Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass die Welt noch singt. Dass sie lebt. Dass sie nicht aufgegeben hat. Der Frühling – das ist die Stimme des Lebens. Sie kann leise sein, aber sie klingt. Sie dringt durch Beton, durch Alarm, durch Erschöpfung. Und sie sagt: „Du wirst gebraucht. Du lebst. Du machst weiter.“
Frühling in Kiew – das ist, wenn der Krieg innen nicht mehr brennt, sondern wärmt. Wie eine alte Narbe, die nicht mehr schmerzt, aber erinnert. Wir sind nicht stärker geworden, weil wir keine Angst haben. Sondern weil wir Angst haben – aber trotzdem weitergehen. Weil wir Kinder haben, Träume, Erinnerungen, Lieder, Bäume, Häuser, Kaffee, Freunde. Weil wir eine Stadt haben, die mit uns im Einklang atmet.
Und in diesem Atem – alles. Trauer, Stärke, Licht, Verlust, Hoffnung, Zärtlichkeit, Wut, Liebe, Regen, Sonne, Staub, Lachen. Alles.
Denn der Frühling 2025 in Kiew – das ist der lebendigste Zustand, in dem ein Mensch sein kann.
Über den Autor:

YELYZAVETA KOLYADA ist gebürtige Ukrainerin und Psychologiestudentin an der M.P. Drahomanov Ukrainian State University. Ebenfalls macht sie eine Ausbildung zur Gestalt Therapeutin mit der National Association of Gestalt Therapists of Ukraine (NAGTU).