Europa: Vergangenheit oder Zukunft?

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de. Heute mit einem Vorschlag für die gemeinsame europäische Krisenbekämpfung.

Permanenter Perspektivwechsel

Ich bin kein streng chronologischer Leser. Es kommt schon einmal vor, dass Zeitungen und Zeitschriften ein paar Wochen liegen bleiben. Das führt augenblicklich zu einer interessanten Beobachtung. Das Thema Corona beherrscht schon seit fast zwei Monaten die Artikel und Schlagzeilen – ausnahmslos aller Ressorts. Beim retrospektiven Lesen zeigt sich auch, dass die Perspektiven, die Politik, Wissenschaft und Wirtschaft eingenommen haben, permanent wechselten und immer noch wechseln. Aber, wen wundert’s. Es ist eine einmalige Situation, in der ich sehr dankbar bin, in Deutschland zu leben. Ja, auch weil Deutschland ein reiches Land ist, dass es sich leisten kann unzählige Milliarden zur Stützung der Gesellschaft, der Wirtschaft, insbesondere auch der Gesundheitswirtschaft, der Mittelständler und Einzelunternehmer auszugeben. Aber mehr noch, weil die hierzulande gelebte Praxis, Entscheidungen im Dialog und in der manchmal auch scharf und kontrovers geführten Auseinandersetzung zu fällen, zu klugem und nachhaltigem Handeln führt. Wir sind nicht auf Gedeih und Verderb der unendlichen Weisheit eines Einzelnen ausgeliefert.

Andere Formen der Kommunikation

Sehr wohl sind aber auch wir Deutschen gezwungen, andere Formen der Kommunikation und Wege aus der Krise zu finden. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Im eher Kleinen fasziniert mich, wie schnell man sich daran gewöhnt, in ein schwarzes Loch zu sprechen, mit der Erwartung das oder die Gegenüber hören zwar was ich sage, aber sie werden schon nicht so genau hinschauen. Doch, das tun sie! Gerade jetzt schauen wir genauer hin, um uns zu vergewissern, um uns auszutauschen, und natürlich auch um zu sehen, wie die anderen die Situation meistern. Menschen sind neugierig, waren sie immer schon, sonst würden wir noch heute hinter Mammuts herjagen. Die Krise wird früher oder später gehen, Meetings auf Distanz werden wohl bleiben.

Deutschland – einer größten Profiteure der Globalisierung

Bei den eher großen Entscheidungen stellen immer mehr Experten die Frage nach der Veränderung der Lieferketten, nach der Produktion strategisch wichtiger Güter im Land, nach weniger Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten. Man kann diesen Reflex nachvollziehen. In der Krise möchte man nicht von anderen abhängig sein. Wenn allerdings jedes Land diesem Schema folgt, gibt es bald viel weniger internationalen Handel. Deshalb sollte man sich der mittel- und langfristigen Konsequenzen bewusst sein. Für die deutsche Volkswirtschaft hätte das erhebliche Folgen. Die Abhängigkeit von Exporten ist so hoch wie nirgends sonst. Wir Deutschen sind einer der größten Profiteure der Globalisierung und man kann es nicht oft genug betonen freier, offener und unbeschränkter Märkte. Die internationale Vernetzung hat, bei allen offensichtlichen Auswüchsen und Mängeln, die Welt insgesamt sicherer, reicher und vielfältiger gemacht. Das liegt auch daran, dass die Welt deutsche Produkte kauft und wertschätzt.

Mehr statt weniger Europa

Wäre es nicht viel sinnvoller und auch gerechter, wenn man nicht in nationale Egoismen zurückfallen würde, sondern die Organisation der Bekämpfung künftiger gesundheitlicher Krisen und Pandemien an internationale, wenigstens aber europäische Gremien abgeben würde? Europäische Gremien, die alle europäischen Staaten einschließen würden. Zur Ausstattung und Finanzierung könnten die Länder im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beitragen. Davon würden im Falle eines Falles alle profitieren und die Lasten wären gleichmäßiger verteilt: Der Schutz der Bevölkerung als multinationale Gemeinschaftsaufgabe erscheint mir eine sehr schöne Vorstellung zu sein. Es gibt mit der ESA und dem CERN sehr gute Beispiele wie gut Zusammenarbeit bei gleichem Interesse zum Nutzen aller Beteiligten funktioniert. In beiden Organisationen sind auch Nicht-EU-Länder organisiert und die Kosten-Nutzen-Rechnung steht nicht im Vordergrund. Die Ergebnisse stehen allen Ländern gleichermaßen zur Verfügung, und die besten Köpfe arbeiten länderübergreifend zusammen.

Weniger Nachfrage aus Europa

Denn, wenn man sich eine Welt nach Corona vorstellt, muss man zwangsläufig die Frage stellen: Warum werden kaum noch Medikamente, Atemmasken und Schutzkleidung in Deutschland oder Europa produziert? Die Supply Chain über die ganze Welt zu verteilen, folgte der veränderten Nachfrage, die zunehmend nicht mehr aus Europa kam und kommt und um die Wertschöpfung zu optimieren. Und nicht zu vergessen, die nationalen Produzenten waren in sehr vielen Fällen nicht länger international konkurrenzfähig. Was für medizinische Produkte gilt, lässt sich aber auch auf fast alle anderen Industrien übertragen. Dass wir zu jeder Jahreszeit jedes Nahrungsmittel im Supermarkt verfügbar haben, und verfügbar haben wollen, ist ein Ergebnis des internationalen Handels. Werden wir bereit sein, wenn die Krise sich gelegt hat, für die meisten Dinge mehr Geld zu bezahlen? Wird die Solidarität über den Tag hinaus Bestand haben? Das kollektive Gedächtnis hat sich schon in der Vergangenheit als nicht sehr zuverlässig erwiesen.

Osteuropa als neuer Stern am Firmament

In der jetzigen Diskussion gilt Osteuropa als einer der Gewinner zukünftiger Handels- und Lieferketten. Von mehr Diversifizierung in der Struktur der Lieferanten ist die Rede, von kontinentaler statt von globaler Vernetzung. Ich möchte das gern glauben, aber die osteuropäischen Länder, die sehr gut in die internationalen Lieferketten integriert sind, waren vor der Krise an den Kapazitätsobergrenzen angelangt. Fachkräftemangel war in vielen Branchen Alltag. Für internationale Wettbewerbsfähigkeit braucht man Know-how, Expertise und neueste Technologien. Das alles gibt es nicht im Schnellverfahren. Um nur annähernd solche Produktionszahlen wie in China zu erreichen, bedürfte es gigantischer Investitionen. Woher soll das Geld kommen, dass die meisten Länder werden aufwenden müssen, um die schlimmsten sozialen Folgen zu lindern? Die Umstellung der Lieferketten ist ein mittel- bis langfristiger Prozess. Ob Osteuropa der neue Stern am Firmament sein wird, ist noch nicht sicher. Was jedoch in all diesen Überlegungen deutlich wird ist, dass Europa als Ganzes eher die Zukunft und nicht die Vergangenheit ist. Das wiederum ist eine tröstliche Vorstellung.

Titelbild
Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock.com
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