„Das Putin-Syndikat“ – Eine Bilanz zu 18 Jahren Putin

Zur Präsidentenwahl: „Das Putin-Syndikat“

Professor Margareta Mommsen bilanziert 18 Jahre „Putinismus“ und Ben Aris sieht Chancen für Reformen

18 Jahre nach seiner ersten Wahl zum russischen Präsidenten kandidiert Wladimir Putin erneut für dieses Amt und niemand zweifelt an seiner Wiederwahl Mitte März. Anfängliche Hoffnungen, dass Putin Russland zu einer engen Partnerschaft mit dem Westen führen könnte, hegt allerdings kaum noch jemand. Die Annexion der Krim vor bald vier Jahren wird von vielen als entscheidende Zäsur in den Beziehungen Russlands zum „Westen“ gesehen. Die USA und die EU verhängten Sanktionen gegen Russland, die mit Gegensanktionen beantwortet wurden.

In den letzten drei Jahren sind zahlreiche Bücher zur politischen Entwicklung in Russland erschienen, die auch beschreiben, wie sich die Beziehungen Russlands zum Westen seit dem Amtsantritt Putin und insbesondere mit der Ukraine-Krise verschlechtert haben. Ende Dezember stellten wir das neue Buch „Eiszeit“ der „Russland-Versteherin“ Gabriele Krone-Schmalz vor. Sie plädiert dafür, einigen Forderungen russischen Regierung entgegen zu kommen – trotz aller Kritik an ihrer Politik. „Wandel durch Annäherung“ ist ihre Zielvorstellung. Mit tiefgreifenden Reformen rechnen aber nur wenige, obwohl die Putin Pläne für Wirtschaftsreformen vorbereiten lässt. Ben Aris, Herausgeber von bne intellinews, sieht Chancen dafür.

Wissenschaftliche Orientierungshilfe von Prof. Dr. Margareta Mommsen

Hält man auf dem deutschen Büchermarkt Ausschau nach Einschätzungen von wissenschaftlicher Seite zur Bilanz von 18 Jahren Putin, lohnt sich ein Griff zum neuen Buch von Professor Dr. Margareta Mommsen, das Mitte September im C.H.Beck-Verlag erschienen ist: „Das Putin-Syndikat“.

Die Schwäbische Zeitung empfiehlt das Buch mit einem geistreichen Kommentar ihres Redakteurs Reinhold Mann nachdrücklich:

„Mommsen ist hier auf 200 Textseiten eine konzentrierte, verständliche Darstellung gelungen, lesenswert auf jeder Seite. Wem das zuviel ist, der sollte sich wenigstens die siebenseitige Einleitung gönnen. Ein perspektivenreicheres Bild auf das Russland Putins ist auf so begrenztem Raum kaum zu entfalten.“

Margareta Mommsen auf einer Konferenz
Quelle: Olli EickholtMargareta Mommsen IEIS Conference Arno J Mayer-001, Size changed., CC BY-SA 3.0 LU.

Der etwas reißerische Titel „Das Putin-Syndikat“ mag auf manchen, der möglichst objektive Informationen sucht, etwas abschreckend wirken. Aber schon die Einleitung des Buches macht klar: hier wird mit wissenschaftlicher Akribie viel Information und Aufklärung geboten.

Die emeritierte Professorin der Politischen Wissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München lotst den Leser schon auf den ersten Seiten durch die phantasievollen Bezeichnungen, die sich Publizisten und Politologen in den letzten Jahren für das Regierungssystem Russlands einfallen ließen (kleine Auswahl: „gelenkte Demokratie“, „illiberale Demokratie“, „Demokratur“, „Kleptokratie“, „Oligarchie“, „Autokratie“, „Diktatur“….). Forschungsschwerpunkt von Frau Professor Mommsen sind schließlich die politischen Systeme in Osteuropa, Russland und den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Mommsen beschreibt in ihrem Buch, wie der „Putinismus“ entstand, sich behauptete und über die Jahre veränderte. Sie verfolgt seine Wandlungen von der Jelzin-Zeit bis zur Annexion der Krim und dem Eingreifen Russlands in den Syrien-Konflikt. Im Kapitel „Der Unrechtsstaat und seine Opfer“ greift sie unter anderem die Fälle Chodorkowski, Magnitski, Politkowskaja, Litwinenko und Nemzow auf.

„Putinismus als Herrschaftssystem“ sieht sie heute so:

In Russland herrscht ein verborgenes Netzwerk von mächtigen Männern, in dem die politischen und ökonomischen Interessen der regierenden Eliten Russlands ausgehandelt werden. Diese Spitze der Machtpyramide aus informellen Gruppen, die während der Präsidentschaften Wladimir Putins Russlands Geschicke lenkten und lenken, nenne ich das Putin-Syndikat.“

Russland ist „eine gekränkte Großmacht“

Im letzten Kapitel kommentiert sie auch den „Weltmachtanspruch“ Russlands. Dem Deutschlandfunk sagte sie Ende 2014 nach der Annexion der Krim dazu: “Was wir in Russland haben ist eigentlich das Vorliegen einer gekränkten Großmacht.“

Die Führung Russlands würde davon ausgehen, dass ihr Land vom Westen in den letzten zwei Jahrzehnten nicht respektvoll genug behandelt worden sei. Dieser Respekt werde nun eingefordert. Seit Mitte der 90er-Jahre bemühe sich Russland, seinen Anspruch als Weltmacht geltend zu machen und eine multipolare Welt zu konzipieren. Der Westen, so Mommsen, hätte mehr auf die russischen Befindlichkeiten eingehen können. Er müsste Russland zu erkennen geben: „Ohne Euch geht es nicht”.

Den Eindruck, dass die russische Führungselite durch die Politik des Westens tief gekränkt wurde, bestätigte kürzlich auch Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift „Osteuropa“, in einem Beitrag für eine Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema „Russland und Deutschland“:

„Wer regelmäßig an deutsch-russischen Foren wie etwa den “Schlangenbader Gesprächen” teilnimmt, kann Jahr für Jahr hören, wie russische Spitzendiplomaten, Politiker und Polittechnologen im beleidigten Kammerton über Amerika klagen. Da wird klar, dass man es mit einer tief gekränkten Elite zu tun hat.“

Mommsen: „Anstrengungen zur Einleitung grundlegender Reformen“ fehlen

Chancen für eine Kursänderung Putins sieht Frau Professor Mommsen – zumindest derzeit – offenbar nicht. Sie meint in ihrem neuen Buch zwar, es sei verfrüht, den heute beschreibbaren „Putinismus“ als einen voll entwickelten und beständigen Herrschaftstypus anzusehen. Vielmehr präsentiere er sich als eine weiterhin „ergebnisoffene“ Periode. Andererseits vermisst sie aber „jedwede Anstrengungen zur Einleitung grundlegender Reformen im Lande selbst, etwa im Sinne einer wünschenswerten Neuauflage von Gorbatschows Kurs der Glasnost und Perestroika“.

Ben Aris: Pläne für Reformen gibt es

Ben Aris, Herausgeber von bne intellinews, gibt sich in seinem „Russia Outlook 2018“ hingegen zuversichtlicher, zumindest im Bereich der Wirtschaft. Von Putin werde erwartet, dass er nach der Wahl „tiefe strukturelle Reformen“ auf den Weg bringe. Bei der Erarbeitung von Reformplänen sei schon von drei Gruppen eine Menge Arbeit geleistet worden.

Der frühere Finanzminister Kudrin sei der prominenteste Befürworter von Reformen. Er trete dafür ein, Ausgaben einzusparen und sich darauf zu konzentrieren, die Produktivität durch Investitionen in Infrastruktur, Bildung und soziale Dienste zu erhöhen.

Die zweite Gruppe sei der „Stolypin Klub“ unter Führung von Boris Titov, dem Ombudsmann der Regierung für Unternehmen. Im Gegensatz zu Kudrin befürworte er die Aufnahme zusätzlicher Schulden, um mit Investitionen einen Wachstumszyklus auszulösen.

Als dritte Reformer-Gruppe nennt Aris einen Kreis von „Kreml-Insidern“ unter Leitung von Wirtschaftsminister Oreschkin. Er verfolge einen „hybriden“ Weg, eine Mischung aus liberaler Wirtschaftspolitik und staatlicher Finanzierung von als prioritär erachteten Projekten. Ein Beispiel dafür sei das „aggressive“ Vorgehen der Zentralbankpräsidentin Nabiullina bei der Sanierung des Bankensektors.

Putin muss die „Elite“ ruhig stellen

Auch Aris wirft in seinem „Outlook 2018“ einen Blick zurück auf 18 Jahre Putin. Putin habe von Jelzin eine „Oligarchie“ übernommen. Zunächst habe er versucht, die „Industriekapitäne“ mit regelmäßigen Einzelgesprächen in einer „Kreml-ZAO“ (einer Art „geschlossenen Aktiengesellschaft“) zu vereinen. Im Lauf der Zeit habe er sich aber auf eine immer kleinere Gruppe von staatlich gestützten „Oligarchen“ zurückgezogen, die sogenannten „Stoligarchen“, von denen er die meisten schon aus St. Petersburg kenne. Damit sei eine viel größere Gruppe von mächtigen Oligarchen entstanden, die nicht zu den „Stoligarchen“ gehören. Wenn Putin Zeichen der Schwäche zeige, könnten sie zu einer Gefahr für ihn werden. Vor einem „Palast-Putsch“ sei Putin nur gefeit, wenn er bei der Wahl nicht nur gewinne, sondern einen „großen Sieg“ verbuchen könne.

Hinweise auf weitere Bücher von Margareta Mommsen und Internet-Dokumente

2007 ist von Margareta Mommsen (mit Angelika Nußberger) bereits „Das System Putin: Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Rußland“ erschienen, 2002 „Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht“ und 1996 „Wohin treibt Rußland?“.

Auch im Internet sind einige Quellen verfügbar, die Hinweise geben, wie sie die politische Entwicklung in Russland im Abstand von mehreren Jahren beurteilt hat.

  • Ende 1999 – wenige Tage bevor Jelzin sein Amt des Staatspräsidenten dem im August 1999 zum Ministerpräsidenten ernannten Putin abtrat – gab sie dem Bayerischen Rundfunk ein ausführliches Interview.
  • Im November 2007, kurz bevor Putin das Amt des Staatspräsidenten nach den ersten beiden 4jährigen Amtszeiten abgeben musste, hielt sie bei einem „Akademiegespräch“ im Bayerischen Landtag ein Referat: „Putins Russland“. Damals erschien auch ihr Buch „Das System Putin“.
  • 2009 veröffentlichte die Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ einen Artikel von ihr zu Russlands „gelenkter Demokratie“ und den Erfahrungen mit dem „Tandem Putin-Medwedew“.
  • Im März 2012, kurz bevor Putin den „Interimspräsidenten“ Medwedew wieder als Staatspräsident ablöste, hielt sie einen weiteren Vortrag im Bayerischen Landtag zur politischen Entwicklung in Russland: „Wladimir Putin und das russische Volk“.

Quellen und Lesetipps

Margareta Mommsen: „Das Putin Syndikat“ (September 2017)

 Bezugsmöglichkeiten:

 Rezensionen:

Verlagsinformationen:

Leseprobe: Inhaltsverzeichnis + Einleitung + Kapitel 1

Veröffentlichungen, Vorträge und Interviews von Margareta Mommsen:

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Titelbild
Quelle: Kremlin.ruVladimir Putin (2017-01-17), Size changed to 1040×585 px., CC BY 4.0[/su_spoiler]