Corona in Russland: Wie ist die Lage wirklich?

Corona in Russland: Wie ist die Lage wirklich?

Offiziell vermeldet Russland bis heute morgen keinen Corona-Toten und die Zahl der Infizierten befindet sich im niedrigen dreistelligen Bereich. (Wie) kann das sein? Anmerkungen und Stimmen aus Russland.

Kommentar von Dominik Kalus

Die Situation sei “unter Kontrolle” , ließ Russlands Präsident am Dienstag verlauten. Die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus, darunter Grenzschließungen und Veranstaltungsverbote, würden Wirkung zeigen. Die gefühlte Sicherheit scheint hoch zu sein: So durfte man sogar von Russlands Angebot lesen, die Fußball-EM 2020 alleine auszutragen. (Kann das ernst gemeint sein? Spätestens dann würde das Land das Problem doch importieren, denn wie sich langsam abzeichnet, wird Corona die Welt in den Sommer hinein beschäftigen.)

Also, ist Russlands Sicherheitsgefühl gerechtfertigt? Immerhin teilt das Land eine 4.000 Kilometer lange Grenze mit China, abertausende Geschäftsleute dürften vor der Schließung ins Land gependelt sein. Die geringe Fallzahl ist jedenfalls nicht einfach auf ausbleibende Corona-Tests zurückzuführen (So erklären sich manche Beobachter die geringen Fallzahlen im Globalen Süden). Der Moscow Times zufolge hat Russland fast 120.000 Menschen auf das Virus testen lassen, nur 0.09% davon waren positiv. Das Medium lässt in dem Artikel jedoch Experten zu Wort kommen, die die Genauigkeit dieser Tests anzweifeln.

Das freieste Land der Welt

Bezweifelt wird auch die Krisenkompetenz der russischen Regierung, etwa vom russischen Politikwissenschaftler Sergej Medwedew: In einem auf Facebook tausendfach geteilten Beitrag warf er dem Kreml vor, die Bevölkerung sich selbst zu überlassen. Seine (natürlich hypothetische, aber fatale) Vermutung: Das Virus sei längst nicht mehr zu kontrollieren, all die Älteren, die es erwischen wird, würden einfach durch die allgemeine Sterbestatistik kaschiert.

Deshalb befürchte ich, dass wir im Modus des freien Schulbesuchs, der freien Quarantäne und des freien Sterbens verbleiben werden. Dabei wird der Mensch sogar frei sein von einer Diagnose – wir sind das freieste Land der Welt!

Sergej Medwedew auf Facebook. Das Portal Dekoder hat den Beitrag übersetzt.

Man ist ja als Ausländer immer leicht überwältigt von Kreml-Kritik; mein russischer Journalisten-Freund Ilja hat den Beitrag jedenfalls als alarmistisch abgetan. Wie schätzen andere die Situation ein? Ksenja, eine 19-jährige Moskauer Medizinstudentin erzählt mir, sie sei langsam ein wenig verängstigt. “Die Stimmung um uns ist pessimistisch. Ich versuche aber, nicht in Panik zu verfallen und halte mich an die Präventionsmaßnahmen.” Wie die allermeisten Studentinnen lebt sie im Wohnheim, ihr Zimmer muss sie (wie in Russland üblich) teilen, in ihrem Fall mit zwei anderen. “Gäste sind jetzt nicht mehr erlaubt, die meisten ausländischen Studenten haben zudem das Wohnheim verlassen.”

Quarantäne? Je nachdem, wohin!

Außerdem erwähnenswert: Meine Bekannte Olga und ihre Freundin sind vorgestern aus Bayern, einem absoluten Corona-Hotspot, nach Moskau zurückgereist. Sie haben sich eine Woche in Deutschland aufgehalten, hätten sich in jeder Bar, in jedem Bus infizieren können. Bei der Einreise wurde allerdings nur die Freundin als Risikoheimkehrerin gecheckt, sie hat ihren Wohnsitz direkt in Moskau. Bei Bewohnern der Randstädte scheint man es offenbar nicht so genau zu nehmen. Auch was man von Seiten deutscher Wirtschaftsvertreter in Moskau zu hören bekam, legt Bedenken nahe: An die zweiwöchige Selbstisolation nach Einreise haben sich offenbar viele nicht gehalten.

Es wurde in Deutschland ja immer gesagt, man sei dem italienischen Katastrophenszenario nur etwa 10 Tage hinterher. Gilt dasselbe für Russland im Bezug auf Deutschland? Während ich die Zeilen zu Ende schreibe, höre ich vom ersten Todesfall in Russland, einer 79-jährigen Rentnerin. Auch der anschließende Blick auf die Zahl der Neuinfektionen zeigt leider: die Kurve wird steiler. Hoffen wir auf ein Best-Case-Szenario. Eine Fußballmeisterschaft noch diesen Sommer in einem infektionsfreien Russland gehört auf jeden Fall dazu.

Titelbild
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