Alte Geschichte, neuer Streit: Erdgas aus Russland – Teil II

Pierre Noël: Ukraine machte Milliarden-Gewinne durch Niedrig-Preise

Der Streit über den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 eskaliert noch einmal kurz vor ihrer Fertigstellung. Die USA wollen neue Sanktionen beschließen, um das Projekt doch noch zu verhindern. Zwei Experten haben nun Analysen zur Entwicklung der russischen Erdgaslieferungen geliefert. (Klickt hier für Teil 1)

Von Pierre Noël, Senior Fellow des Londoner „International Institute for Strategic Studies“ (IISS), erschien Mitte September auf dem Blog des Instituts der Artikel „Nord Stream II and Europe’s Strategic Autonomy“. Mitte November wurde er auch in der Zeitschrift „Survival – Global Politics and Strategy“ veröffentlicht.

Dem Autor geht es um die Frage, ob Frankreich und Deutschland noch über genügend „strategische Autonomie“ verfügen, um insbesondere gegenüber den USA ihre Interessen am Erdgashandel mit Russland durchsetzen zu können. Noël skizziert wichtige Stationen der Entwicklung der Erdgaslieferungen Russlands nach Westen seit Anfang der 80er Jahre.

Der Ukraine hält er vor, sie habe nach ihrer Unabhängigkeit ihre dominante Position als Transitland für russisches Erdgas ausgenutzt, um für ihre eigenen Erdgasimporte von Gazprom niedrigere Preise zu erhalten. Als die Preise nach dem Jahr 2000 angezogen hätten, habe sich die Ukraine russischen Forderungen nach höheren Preisen widersetzt. Zwischen 2002 und 2011 habe die Ukraine so insgesamt von Russland „Gaspreis-Subventionen“ in Höhe von rund 17 Milliarden Dollar erhalten.

Jetzt verliert die Ukraine Milliarden-Einnahmen durch Nord Stream 2

Als Gazprom wegen Preisstreitigkeiten die Gaslieferungen an die Ukraine Anfang 2006 und 2009 stoppte, habe die Ukraine für europäische Kunden bestimmtes Gas in ihr Netz abgezweigt, um Gazprom im Preisstreit zum Nachgeben zu zwingen. 2009 habe das zu einer ernsten Gasversorgungskrise in Europa geführt. Russland habe wegen dieser Gefährdung der Gaslieferungen an seine Kunden in Europa dann entschieden, Leitungen zur Umgehung der Ukraine zu bauen.

Im Hinblick auf den Bau von Nord Stream 2 unterstreicht Noël, dass sich die Gasversorgungssituation der Ukraine damit nicht ändert. Die Ukraine beziehe selbst bereits seit fast vier Jahren kein Gas mehr aus Russland. Allerdings werde die Ukraine rund drei Milliarden Dollar Transiteinnahmen verlieren.

Richtig sei, dass die Ukraine seit 2010 ihre dominierende Position als Transitland nicht mehr missbrauche. Diese Verhaltensänderung scheine aber zum größten Teil ein Ergebnis der russischen Pläne zu sein, die Ukraine als Transitland zu umgehen.

Erdgashandel bringt beiden Seiten reale wirtschaftliche Vorteile

Noël erinnert daran, dass Anfang der 80er Jahre US-Präsident Reagan versucht habe, den Bau einer Pipeline aus Sibirien nach Europa zu verhindern. Die USA hätten befürchtet, dass eine Abhängigkeit Europas von russischen Erdgaslieferungen die Sowjetunion in die Lage versetzen könnte, Druck auf wichtige NATO-Mitglieder ausüben zu können.

Der Autor stellt fest, die ökonomischen Realitäten seien für die Vereinbarung von Erdgaslieferungen aus Russland entscheidend gewesen: Moskau benötigte harte Devisen und Europa brauchte Gas, um außerhalb des Verkehrsbereichs nicht teures Öl einsetzen zu müssen. So sei es gelungen, die gaswirtschaftlichen Beziehungen Europas mit Russland in der Zeit des „Kalten Krieges“ und danach aus der Politik herauszuhalten.

Mit Nord Stream 2 wird der politische Konfliktherd Ukraine umgangen

Noël sieht dafür auch heute Möglichkeiten. Er ist überzeugt: Die Umgehung der Ukraine durch Nord Stream 2 würde den Erdgashandel zwischen Russland und der EU wirksam von den belasteten Beziehungen Russlands mit der Ukraine trennen können.

Angesichts des Streits über Nord Stream 2 vermisst Noël von den Regierungen in Frankreich und Deutschland „strategische Führung und Initiative“. Er fordert, diese beiden europäischen Mächte sollten sich mit ihrem politischen Gewicht klarer erkennbar hinter Nord Stream 2 stellen sowie eine führende Rolle bei der Vermittlung eines besseren politischen Verhältnisses zwischen Russland und der Ukraine übernehmen.

Dieser mutige strategische Ansatz würde, so Noël, von Paris und Berlin allerdings die Bereitschaft zum Konflikt mit Brüssel, mehreren EU-Staaten und Washington erfordern. Noël erwähnt, dass sie schon einmal Anfang der 1980er Jahre dazu bereit waren, als die Spannungen zwischen dem Westen und Moskau mindestens so stark waren wie heute. Man müsse abwarten, ob Frankreich und Deutschland noch über genügend „strategische Autonomie“ dafür verfügten.

Titelbild
Titelbild: Rohrlieferung nach Koverhar (Finnland). Quelle: Axel Schmidt / Nord Stream 2
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