Alte Geschichte, neuer Streit: Erdgas aus Russland – Teil I

Zur Entwicklung der Erdgaslieferungen aus Russland

Der Streit über den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 eskaliert noch einmal kurz vor ihrer Fertigstellung. Die USA wollen neue Sanktionen beschließen, um das Projekt doch noch zu verhindern. Zwei Experten haben nun Analysen zur Entwicklung der russischen Erdgaslieferungen geliefert.

Thane Gustafson: Erdgas ist eine Brücke im erneut geteilten Europa

Thane Gustafson, Professor für politische Wissenschaften an der Georgetown Universität in Washington, ist einer der bekanntesten US-Experten für Russlands Energiewirtschaft (siehe auch Biographie der Moskauer „Higher School of Economics“). Beim Beratungsunternehmen „IHS Cambridge Energy Research Associates“, gründete er den Forschungsbereich „Energie in Russland und im kaspischen Raum“. Er leitete ihn 15 Jahre und ist jetzt „Senior Director Russian and Caspian Energy“ bei IHS-CERA. Zuvor verfasste er als Mitarbeiter der RAND-Corporation schon seit Anfang der 80er Jahre Studien zur Entwicklung der russischen Wirtschaft und insbesondere der Energiewirtschaft, unter anderem zur Verhandlungsstrategie Russlands bei Erdgas-Röhren-Geschäften.

Anfang Januar wird im Verlag der Harvard-Universität Gustafsons neues Buch „The Bridge: Natural Gas in a Redivided Europe“ erscheinen. Es ist in erster Linie eine umfassende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Erdgaswirtschaft in Russland und Europa seit ihren Anfängen. Gustafson spricht darin aber auch die Perspektiven für die Zukunft der europäischen Gaswirtschaft im Zeitalter des Klimawandels an.

Keine Einigkeit über Ursachen erneuter Ost-West-Konflikte

In der Einleitung (die unter anderem bei „Amazon.de“ im „Blick ins Buch“ einsehbar ist) beschreibt Gustafson die langfristigen Entwicklungslinien der Gaswirtschaft in West und Ost, die er in seinem Buch im Detail analysiert. Er macht schon in den ersten Sätzen auch seine persönliche Position deutlich. Er sei überzeugt, dass man ein friedvolles Europa nicht mit Waffen oder Sanktionen bauen könne. Dafür sei eine Suche nach gemeinsamen Interessen, vor allem wirtschaftlichen Interessen, erforderlich.

Der Autor erklärt gleich am Anfang der Einleitung, warum er im Titel von einem „Redivided Europe“ spricht. Er konstatiert, 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion sei die Vision eines modernen Russlands, das sich in friedvoller Partnerschaft mit einem wiedervereinigten Europa verbinde und in die Weltwirtschaft integriere, abrupt geschwunden. Der Westen sehe sich erneut mit einer Ära der Spannungen mit dem Osten in einem wieder geteilten Europa konfrontiert.

Thane Gustafson in seinem Arbeitszimmer. Screenshot: thaneegustson.files.wordpress.com/

Für die aktuellen Konflikte im Erdgashandel mit Russland erkennt Gustafson im Westen und in Russland unterschiedliche Erklärungsmuster: Im Westen werde auf eine „ungesunde“ Abhängigkeit von russischem Gas verwiesen. Russland werde auch vorgeworfen, es setze die „Gaswaffe“ für politische Zwecke ein, insbesondere in Osteuropa, dem Baltikum und der Ukraine.

Auf russischer Seite werde der Ursprung des Konflikts hingegen darin gesehen, dass die EU den Anwendungsbereich ihrer Regelungen für den Erdgashandel „aggressiv“ auf Russland ausgedehnt habe. Dieses Vorgehen sei aus Moskauer Sicht von einer russland-feindlichen Haltung motiviert. Auf wirtschaftliche Vernunft werde dabei von Seiten der EU keine Rücksicht genommen.

Kritische Sicht der EU-Energiepolitik

Gustafson beschreibt in der Einleitung auch seine Sicht der EU-Energiepolitik. Er meint, die EU beabsichtige vor allem die Herstellung von Wettbewerb in einem einheitlichen EU-Energiemarkt.

Die Umsetzung dieser Politik sei besonders in Deutschland bei den etablierten Unternehmen der Gaswirtschaft auf Widerstand gestoßen. Die marktwirtschaftlichen Ideen, die der Schaffung des einheitlichen Energiemarktes zugrunde gelegt wurden, seien vor allem aus Großbritannien gekommen. In die EU-Gesetzgebung seien sie durch eine Zusammenarbeit von EU-Kommissaren und Beamten übertragen worden, die meistens aus Großbritannien und Deutschland stammten (s. S. 6).

Im Ergebnis sei für die Energiepolitik der EU in den letzten zwei Jahrzehnten die marktorientierte Gestaltung des Wettbewerbsrechts bei weitem vorrangig gewesen. Erst in letzter Zeit würden neben dem Wettbewerbsziel zwei andere Ziele, die Sicherheit und Umweltverträglichkeit der Versorgung, gleichrangig verfolgt. Aber auch jetzt noch würden diese drei Ziele unkoordiniert von verschiedenen EU-Institutionen verfolgt. Die Folge sei eine häufig widersprüchliche Politik. Auch Gustafson lässt also schon in der Einleitung seines Buches Kritik an der EU-Energiepolitik erkennen.

Risiken für den Erdgashandel mit Russland

Zwei Risiken für die weitere Entwicklung des Erdgashandels mit Russland reißt Gustafson in der Einleitung kurz an (s. S. 5):

Wenn Russland seine Interventionen in der Ost-Ukraine fortsetze, werde der Raum für einen konstruktiven Dialog auf wirtschaftlicher Ebene eng werden. Geopolitische Spannungen mit Sanktionen und Gegensanktionen brächten die Gefahr, dass die Zusammenarbeit von Europa und Russland in der Wirtschaft und das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung der „Gas-Brücke“ geschwächt würden. Außerdem könne der Aufstieg der Umweltschutz-Bewegung in Westeuropa die Nachfrage nach russischem Gas dämpfen. Lapidar stellt Gustafson in der Einleitung dazu zunächst nur eine Frage: „What then?“.

Wenig später weist er zwar darauf hin, dass Erdgas am offensichtlichsten die Aufgabe einer „Brücken-Energie“ in eine mit weniger Schadstoffen belastete Energieversorgung übernehmen könne. Dies lasse eigentlich annehmen, dass russisches Erdgas weiterhin eine wichtige Rolle in der europäischen Energieversorgung ausfüllen werde, zumal Europas eigene Erdgasförderung weiter sinke. Gustafson wiederholt aber: Die Ablehnung von Erdgas durch die „Umweltschützer“, die den Einsatz regenerativer Energien bevorzugen, stelle die Zukunft des russischen Erdgases in Europa in Frage (S.9).

Zwei Zukunftsszenarien zur Entwicklung des Erdgashandels

Am Schluss der Einleitung seines Buches beschreibt Gustafson für die unsichere künftige Entwicklung des Erdgases in Europa ein „geopolitisches“ Szenario und ein „ökonomisches“ Szenario.

Das „geopolitische“ Szenario gehe davon aus, dass der grenzüberschreitende Erdgashandel in Europa letztlich von der Entwicklung der politischen Beziehungen mit Russland abhängig sei. Solange Russland an der Wiederbelebung der Machtpolitik des neunzehnten Jahrhunderts festhalte, seien die Grenzen in Europa unsicher. Der Erdgashandel mit Russland stelle in diesem Szenario eine Quelle der Abhängigkeit dar. Russland werde diese Abhängigkeit ausnutzen. In diesem Szenario werde es deswegen weitere Konflikte geben.

Das „ökonomische“ Szenario nehme hingegen an, dass der Erdgashandel letztlich ein kommerzielles „Geschäft“ sei. Die revolutionären Veränderungen in der Struktur der Erdgaswirtschaft würden zwar einen tiefgreifenden Wandel für den Erdgashandel bedeuten. Die Entwicklung werde im Ergebnis aber letztlich von ökonomischen Interessen bestimmt werden. So sei es auch im letzten halben Jahrhundert mit bemerkenswert großer Verlässlichkeit gewesen.

Optimistische Schlussfolgerungen

Die Amazon-Seite zu Gustafsons Buch bietet die Möglichkeit, auch die Schlussfolgerungen am Ende des Buches teilweise zu lesen. Gustafson zeichnet als Fazit seines Buches dort ein optimistisches Bild für die Zukunft der  Erdgaswirtschaft in Europa und weltweit.

Er sieht die Möglichkeiten Russlands, Druck auf die europäischen Abnehmerländer ausüben zu können, zunehmend schwinden. Die immer dichtere Verflechtung des europäischen Erdgasleitungsnetzes, die Diversifikation der Bezugsquellen durch die Möglichkeiten des Imports von Flüssigerdgas und die Verfügbarkeit von Erdgasspeichern machten das europäische Erdgasversorgungssystem sehr belastbar, obwohl die Förderung aus eigenen Quellen in Europa sinke.

Sogar von einem „goldenen Zeitalter des Erdgases“ spricht Gustafson. Der Anteil des Erdgases am weltweiten Energieverbrauch werde bis 2050 wahrscheinlich von jetzt rund einem Fünftel auf rund ein Viertel wachsen. Dass sich die „Umweltschützer“ mit ihrer Forderung, auch Erdgas durch regenerative Energien möglichst weitgehend zu ersetzen, schon bald durchsetzen werden, hält er für weniger wahrscheinlich.

Eigene Internet-Seite zum Buch mit Video

Gustafson präsentiert sein Buch auch auf einer eigenen Internet-Seite. Auch dort stellt er heraus, dass der internationale Erdgashandel die Nationen Europas im wechselseitigen Interesse verbinde – trotz der geopolitischen Trennlinien, die Europa durchzögen. In einem 9 Minuten-Video erläutert er einige zentrale Thesen seines umfangreichen Buches persönlich.

Zu den Risiken der europäischen Gasversorgung und insbesondere zur Bewertung von Nord Stream 2 nahm Thane Gustafson bereits vor rund drei Jahren auch in einem Interview des französischen Instituts für Internationale Beziehungen Stellung (9 Minuten-Video in Englisch, ab Minute 6 zu Nord Stream).

Viel Lob von internationalen Experten

Für Gustafsons Buch ist auf der Internet-Seite des Verlages der Harvard-Universität in der Rubrik „Reviews“ bereits viel Lob von führenden Energie-Experten (Tatiana Mitrova, Angela Stent, Daniel Yergin, Jonathan Stern, Sir Philip Lowe) zu lesen. Dr. Gert Maichel (bis 2005 RWE-Vorstand) meint dort zum Beispiel:

The Bridge is an extremely fact-rich and thoroughly researched story about people, technology, and ideas within and around the European gas industry. Anyone wishing to understand and navigate the politics and business of European energy cannot ignore Gustafson’s insights.”— Gert Maichel, The Mobility House, former CEO of Wingas, and former senior manager of Wintershall

Rezensionen zu dem Buch veröffentlichten bisher unter anderem „IntelliNews“ und die englische Zeitschrift „Nature“.

Bei den Recherchen für sein Buch wurde Gustafson offenbar von vielen (derzeitigen oder früheren) Führungskräften deutscher Energieunternehmen unterstützt. In der „Danksagung“ (S. 490) schreibt er:

„In Germany, I am grateful to Herbert Detharding, Uwe Fip, Wolfgang Knell, Dieter Pfaff, Klaus Schäfer, and Reinier Zwitserloot. Special recognition is due to Gert Maichel and Rainer Seele, who kindly read and criticized the chapters on Germany. I have also benefited enormously from Heiko Lohmann’s two great books about the transformations in the German gas industry.“

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Titelbild
Titelbild: Axel Schmidt / Nord Stream 2
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