Deutschland und Russland – Geschichte einer überflüssigen Entfremdung (2/2)

Deutschland und Russland. Geschichte einer überflüssigen Entfremdung (Teil 2 von 2)

Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Dr. Jens Hirt hat sich für Ostexperte.de mit der deutsch-russischen Geschichte und der Verständigung der beiden Völker auseinandergesetzt. Die historische Betrachtung ist als Zweiteiler erscheinen. Im Dezember erschien “Teil 1: Von der Deutschen Reichsgründung bis 1945”. Nun folgt “Teil 2: Von der DDR bis Putin”. 

Teil 1: Von der DDR bis Putin

Der „große Bruder“ Russland

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte im militärisch und moralisch besiegten Deutschland die „Stunde Null“. Der Traum vom „Imperium Germaniae“ war verschwunden und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. In Russland dagegen sah man sich, entgegen den Ideen Lenins, als Anführer der Weltrevolution.

„Väterchen“ Stalin konnte dem neuen panrussischen Machtstreben den Panslawismus einverleiben. Die Formel des „großen Bruders“ wurde geboren. Intensiver Austausch in Arbeitswelt und Forschung zwischen Russland und seinen Satelliten belebte sie. Abweichler und Aufständische wurden von den Panzern des Warschauer Pakts mehrfach zur Räson gebracht.

Der Warschauer Pakt

Wer hätte in Zeiten der Breschnew-Doktrin von einer Wiedervereinigung Deutschlands zu träumen gewagt? Medienwissenschaftler hätten es können, musste ihnen doch die gewaltige Wirkung des West-Fernsehens in der DDR klar gewesen sein. Das sozialistische Deutschland konnte live mitansehen, wie ihm die BRD als Klassenprimus des Kapitalismus davoneilte.

Der Warschauer Pakt wurde in den nächsten Jahrzehnten von Innen und Außen zerstört. Lange hielt das große russische Selbstverständnis – erkauft mit den Opfern des Zweiten Weltkrieges – dagegen. Doch trotz militärischer Erfolge der Verbündeten in Kuba und Vietnam, hatte der Ostblock der dynamischen Wirtschaft und den Verlockungen des Westens immer weniger entgegen zu setzen.

Das Ende der UDSSR

Als Erich Honecker noch glaubte, seinen Sozialismus hielten „weder Ochs noch Esel auf“, waren die Massen schon unterwegs zur Bornholmer Straße. Er hätte Karl Marx besser lesen sollen: „Mit Revolutionen lässt sich vieles ändern – nur nicht die Menschen.“ Sie setzten auf eine neue Revolution, deren Symbolfigur tatsächlich ein Führer der UDSSR war – Michail Gorbatschow.

Im Westen bejubelt gilt er in Russland heute als tragische Figur. Allerdings: Der eigentliche Todesstoß des Sowjetimperiums waren weniger „Perestroika“ und „Glasnost“ als der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan. Dieser Krieg – und der von den USA geforderte Angriff Saddam Husseins auf den Iran – wurde bereits zehn Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges zum Urkonflikt unserer heutigen Welt.

Oligarchen und Mafiosi

Deutschland feierte in den 1990ern also „das Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Die Wiedervereinigung war dank russischer Billigung, amerikanischer Freundschaft und gegen den Willen der westeuropäischen Regierungen, vor allem gegen den Willen der Briten, gelungen.

Währenddessen versank Russland in den Coupon-Privatisierungen durch Oligarchen und Mafiosi. Unmittelbar nach kommunistischer „Gleichmacherei“ folgte knallharter kapitalistischer Überlebenskampf. Welch ein Gegensatz inmitten einer Generation.

Verpasste Chancen

Hätte Deutschland die Russen besser verstanden, wäre man in dieser Zeit zu ihrem Fürsprecher geworden. Stattdessen gerieten die Beteuerungen der Außenminister James Baker (USA) und Hans Dietrich Genscher (BRD), es werde keine NATO-Osterweiterung geben, in Vergessenheit.

Man nahm nach und nach ein Dutzend ehemalige Staaten des Warschauer Pakts in die NATO auf und umwirbt bis heute zahlreiche weitere. Das Ganze untermalt von einem Raketenabwehrschirm, der zwar „gegen den Iran“ gerichtet sein solle, aber eben in Osteuropa.

Dann noch einige amerikanische Pipelines, um die Energielieferungen des ohnehin an mangelnder Diversifikation leidenden Russland zu umgehen. Welche Reaktion des gedemütigten Riesen hatte der Westen erwartet? Russland hatte in seiner Geschichte stets zwischen Osten und Westen geschwankt. In den 1990ern hätte es nur als ewiger Verlierer im Westen Aufnahme gefunden.

Der neue alte Kalte Krieg

Präsident Jelzin hoffte 1999, sein Nachfolger Wladimir Putin werde Russland die Würde zurückgeben, die er ihm nicht geben konnte. Der erwies sich zunächst als Imperator der Repräsentation. Er lauschte der Hymne Stalins und schwenkte die Fahne der Zaren. Er ersetzte die Macht der Oligarchen durch seine eigene.

2001 sprach Putin im Deutschen Bundestag von einer komplizierten Welt, in der man neu lernen müsse, sich zu vertrauen, denn „der Kalte Krieg ist vorbei.“ Er malte das Bild eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok. Wie ernst es ihm war, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Denn niemand beging überhaupt den Versuch des Vertrauens. Bald schon erschien Putins Version eines Neurusslands als imperialem Anführer Eurasiens.

Mittelalterliche Bedeutungsperspektive

Wie schon Ende des 19 Jahrhunderts trieben dabei russische und deutsche Medien die Stimmungen der Bevölkerung vor sich her. In Deutschland entdeckte vor allem der „Spiegel“ die mittelalterliche Bedeutungsperspektive wieder. Der riesige Putin drohte auf Titelseiten den winzig dargestellten Vertretern des Westens als „Halbstarker“, „Brandstifter“ und „Angreifer“.

Russland wiederum nutzte das Internet und die große Gruppe der in Deutschland lebenden Russen für ein kaum überschaubares Dickicht an Verschwörungstheorien. Fragt man Putin, weshalb er zum neuen Feindbild des Westens geworden sei, antwortet er mit sichtlichem Genuss: „Weil sie Angst haben.“

Ob Präsident Obama und sein Vize Biden dieses Bild vor Augen hatten, als sie Russland (u.a. im Baltikum) als „Regionalmacht“ bezeichneten? Der neue Chor des alten Kalten Krieges hat viele Stimmen. Den Preis dafür zahlen andere. Kaum hatte die deutsche Regierung in Minsk versucht, jetzt wenigstens den „ehrlichen Makler“ zu geben, präsentierten im russischen Fernsehen stolze Militärs ihr neues syrisches Operationsgebiet einem breiten Publikum.

Wie wir aus der Geschichte lernen

Diese Botschaft der Geschichte ist klar: Nur der Starke wird respektiert. Eine düstere Aussicht in die Zukunft. Für Putin ist Russlands heutige Politik eine Verkörperung seiner Leitlinie „Schwache werden geschlagen“.

Nicht alle Deutschen sind entweder für Sanktionen oder aber Putin-Versteher. Und nicht alle Russen sind entweder militaristische Nationalisten oder aber Femen. Die Menschen sind oftmals differenzierter als die Medien und Politiker unserer Zeit. Die Saat der Zwietracht geht in der kommenden Generation allerdings bereits auf.

Nach einer aktuellen Umfrage von TNS Infratest sehen vor allem junge Deutsche und Russen kaum gemeinsame Werte. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich Putins Antwort an den Historiker Michael Stürmer (Teil 1: Von der Deutschen Reichsgründung bis 1945) bewahrheitet: „Genauso wie die Ozeane, verbindet Geschichte auch.“

[accordion open_icon=”star” closed_icon=”star”] [/su_spoiler]Quelle: kremlin.ru[/su_spoiler]