Jüdisches Leben in Aserbaidschan – Besuch führender jüdischer Vertreter aus Baku setzt neue Impulse in Berlin

Aserbaidschan – das Land des Feuers, gelegen zwischen den südlichen Ausläufern des Kaukasus und dem Kaspischen Meer, ist heute eine über zehn Millionen Einwohner zählende, säkulare Republik. Neben Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika gilt es als eines der sichersten Länder für Juden – sowohl aus historischer Tradition, als auch im Kontext der gegenwärtigen Staatspolitik.

Die ersten Spuren jüdischen Lebens im heutigen Aserbaidschan lassen sich bis in das sechste vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen. Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 vor Christi Geburt deportierte der Babylonierkönig Nebukadnezar II. große Teile der Bevölkerung Judäas in die Randgebiete seines Reiches in den heutigen westlichen Iran. Während einige Menschen dort blieben, zogen andere weitere gen Kaukasien und erreichten das heutige Aserbaidschan, Georgien und Dagestan. Als König Kyros II. das Babylonierreich 539 vor Christi Geburt besiegte, erlaubte er den Juden die Rückkehr aus dem Exil nach Jerusalem. Einige jüdische Familienverbände waren jedoch inzwischen im Königreich Kaukasisch-Albanien, einem antiken Vorgänger des modernen aserbaidschanischen Staates, heimisch geworden und konnten bereits zu jener Zeit ihren Glauben und ihre Traditionen dort frei praktizieren. Die im Nordosten des heutigen Aserbaidschan ansässigen jüdischen Gruppen wurden mit der Zeit unter dem Oberbegriff der Bergjuden bezeichnet, der sich von den geografischen Gegebenheiten ihrer Heimat ableitet. Die weiter westlich ansässigen Juden bilden die Gruppe der georgischen Juden sephardischer Tradition.

Heute leben circa 30.000 Juden in Aserbaidschan. Mit etwa 20.000 Mitgliedern gehört die größte Gruppe der Gemeinde der Bergjuden an, es folgen etwa 8.000 Juden aschkenasisch-europäischer sowie 2.000 sephardisch-georgischer Abstammung. Räumlich ist die jüdische Bevölkerung Aserbaidschans in der Hauptstadt Baku sowie in der „Roten Siedlung“ (aserb. Qyrmyzy Qesebe) in Quba konzentriert. Letztere ist zugleich die drittgrößte rein jüdische Siedlung der Welt außerhalb von Israel und New York sowie das letzte verbliebene Schtetl in Europa. Quba wird daher auch als „Jerusalem des Kaukasus“ bezeichnet. Weitere kleinere jüdische Gemeinden befinden sich darüber hinaus in der zweitgrößten Stadt Ganja sowie in den Städten Sumgait und Oguz. 2003 unterstützten die Regierung der Republik Aserbaidschan und Vertreter sowie muslimische Glaubensvertreter den Bau einer Synagoge in Baku für die aschkenasische Gemeinde. Daneben ist es erwähnenswert, dass Aserbaidschan nicht nur für die Synagogen, Kirchen, Klöster und Moscheen innerhalb seines eigenen Landes eine kostenlose Erdgasversorgung zur Verfügung stellt, sondern ebenfalls für diejenigen im Nachbarland Georgien. 2010 wurde der Campus des Chabad Bildungszentrums „Or Avner“, an dem mittlerweile über 450 Schüler und Kinergartenkinder lernen, vom Präsidenten der Republik Aserbaidschan sowie der Präsidentin der Heydar-Aliyev-Stiftung, Mehriban Aliyeva, feierlich eröffnet. Das jüdische Leben im heutigen Aserbaidschan blickt somit auf eine über 2.500 Jahre währende Tradition zurück, und doch ist noch viel zu wenig darüber bekannt. Um dies zu ändern und konkrete Einblicke in die Realitäten jüdischen Lebens in der Republik Aserbaidschan zu gewähren, besuchte eine hochrangige Delegation von jüdischen Repräsentanten aus Aserbaidschan vom 19. bis 21. Juni 2023 die deutsche Bundeshauptstadt Berlin. Auf dem umfangreichen Programm standen Gespräche mit jüdischen Einrichtungen wie dem Zentralrat der Juden, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dem jüdischen Bildungszentrum Chabad Lubawitsch Berlin und dem Mahnmal für die Opfer der Sohah, aber auch Gespräche mit der Deutsch-Südkaukasischen Parlamentariergruppe des Bundestages sowie Vertretern der Medienöffentlichkeit und führenden deutschen Aserbaidschan-Experten. Erstmals kam eine solche Delegation, um von ihren Erfahrungen als Juden in einem mehrheitlich muslimisch geprägten Land zu berichten.

Anlässlich des Besuchs der Delegation luden die Botschafter Aserbaidschans, Nasimi Aghayev, und Israels, Prof. Ron Prosor, zum Dialog über jüdisches Leben in Aserbaidschan mit Konzert, Podiumsdiskussion und anschließendem Empfang in die Berliner Synagoge Pestalozzistraße ein. Über 350 geladene Gäste folgten der Einladung der Botschaften des Staates Israel und der Republik Aserbaidschan. Dr. Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden und Rabbiner Jonah Sievers von der Synagoge Pestalozzistraße begrüßten die Gäste aus Aserbaidschan gemeinsam mit den Botschaftern beider Länder. Neben den Botschaftern der gastgebenden diplomatischen Missionen nahmen auch der türkische Botschafter, Ahmet Başar Şen, und der Botschafter von Haiti, Dr. Frantz Bataille, an der Veranstaltung teil. Zudem wurde das Fotobuch „Jüdisches Erbe in Aserbaidschan“ von Etibar Jafarov präsentiert, das als limitierte Auflage mit Unterstützung der Botschaft Aserbaidschans herausgegeben wurde und die harmonische Alltäglichkeit des aserbaidschanischen Judentums authentisch illustriert. Musikalisch wurde der Abend durch Beiträge des Synagogenchors unter der Leitung von Kantor Isidoro Abramowicz sowie der aserbaidschanischen Violinistin Farida Rustamova abgerundet. Fast 4.000 Juden aserbaidschanischer Abstammung leben nach Informationen der Botschaft Aserbaidschans aktuell in Deutschland, über die Hälfte davon in Berlin. Die Gemeinde der Bergjuden ist zudem in Frankfurt am Main stark vertreten.

Die Grundlagen für die gegenwärtige Prosperität jüdischen Lebens in Aserbaidschan wurden vom Gründer der modernen Republik Aserbaidschan, Heydar Aliyev, geschaffen, dessen Geburtstag sich am 10. Mai 2023 zum 100. Mal jährt und dessen Andenken dieses Jahr in Aserbaidschan gewidmet ist. Bei der Vielzahl von Gedenkveranstaltungen, Konferenzen und wissenschaftlichen Symposien spielt auch das von Heydar Aliyev begründete Konzept des aserbaidschanischen Multikulturalismus eine wichtige Rolle. Beim Hintergrundgespräch mit der Jüdischen Rundschau und weiteren Medien im Kulturzentrum der Republik Aserbaidschan gaben die jüdischen Repräsentanten anschauliche Einblicke in den Alltag ihrer Gemeinden wie auch in die allgemeine gesellschaftliche Situation Aserbaidschans. Milikh Yevdayev, Vorsitzender der Religionsgemeinde der Bergjuden von Baku, erläuterte, dass in seiner Gemeinde derzeit das größte jüdische Kulturzentrum im Südkaukasus gebaut wird. „Wir leben als Brüder mit dem aserbaidschanischen Volk in perfekter Harmonie“, erklärt Yevdayev stolz. Die Tradition des aschkenasischen Judentums geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, als mehrere Auswanderungswellen aus Russland, der Ukraine und Belarus die Menschen jüdischen Glaubens nach Aserbaidschan führten, das bereits damals eine sichere Heimat für jüdisches Leben war, erläutert Alexander Sharovski, der Vorsitzende der Religionsgemeinde der europäischen Juden in Baku. „Ich werde bald 75 Jahre alt und habe während dieser Zeit in Aserbaidschan nicht ein einziges antisemitisches Wort gehört“, berichtet Sharovski, der als Schauspieler am Theater in Baku tätig ist und von Präsident Ihlam Aliyev mit einem Ehrentitel für sein Engagement in der Gemeinde ausgezeichnet wurde. „Antisemitismus und Intoleranz sind uns Aserbaidschanern fremd“, bekräftigt der Repräsentant des aschkenasischen Judentums. Dr. Anatoliy Rafailov wirkte in seinem beruflichen Leben als Arzt und entschied sich nach seiner Karriere für ein Engagement in der Politik. In der Milli Medschlis, dem Parlament von Aserbaidschan, ist er neben seiner Tätigkeit im Gesundheitsausschuss insbesondere als Vorsitzender der Aserbaidschanisch-Israelischen Parlamentariergruppe engagiert. Diese Funktion führt ihn häufig von seinem aus 76 Dörfern bestehenden Wahlkreis Quba-Qusar im Norden Aserbaidschans aus nach Israel und in die Vereinigten Staaten. „Aserbaidschan ist ein multikulturelles und tolerantes Land. Muslime wählten einen Juden, um sie im Parlament zu vertreten“, erklärt der Abgeordnete und weist zugleich auf die Notwendigkeit hin, diese Erfahrungen auch international bekanntzumachen und einzubringen. Rabbiner Zamir Isayev ist Vorsitzender der Religionsgemeinde der georgischen Juden in Baku und im Hauptberuf Schulleiter einer jüdischen Schule, die von circa 100 Schülern jüdischen und muslimischen Glaubens besucht wird. Diese werden dort in drei besonderen Fächern unterrichtet: Moderne hebräische Sprache (Ivrit), jüdische Geschichte und Kultur und Traditionen des Judentums. Sollten staatlichen Prüfungstermine einmal auf den Shabbat oder die jüdischen Feiertage fallen, so wird für die jüdischen Schüler vom Bildungsministerium ganz selbstverständlich ein Alternativtermin organisiert. Der orthodoxe Repräsentant des sephardischen Judentums erläutert die alltäglichen Begebenheiten des aserbaidschanischen Multikulturalismus: „Wir tragen überall Kippa und Davidsstern. Das einzige Problem in Baku, für uns ist, dass die Stadt manchmal sehr windig ist“, erklärt Rabbiner Isayev mit einem Lächeln. Rabbiner Avraham Yakubov von der Gemeinde der Bergjuden von Baku berichtet: „Unsere Synagogen sind 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche für alle Menschen geöffnet. Oft kommen mich meine muslimischen Brüder besuchen, um den Segen des Rabbiners vor einer Prüfung oder wichtigen bevorstehenden Aufgabe zu erbitten“. Auch ist es in Aserbaidschan völlig normal, dass Muslime in der Synagoge ihre Gebete praktizieren oder gemeinsam Shabbat mit ihren jüdischen Mitbürgern feiern. Alle jüdischen Vertreter aus Aserbaidschan betonten ebenfalls den Umstand, dass vor ihren Glaubens-, Bildungs- und Kultureinrichtungen keinerlei Polizeipräsenz notwendig sei – ein starker Kontrast zur Realität jüdischen Lebens in Deutschlands, das oftmals nur unter Polizeischutz stattfinden kann. Der Autor des Beitrages kann diese Beobachtung auf der Grundlage mehrere Reisen nach Aserbaidschan nachdrücklich bestätigen.

Die Arbeit der jüdischen Religionsgemeinschaften wird in Aserbaidschan von der Regierung vollumfänglich finanziert und aktiv unterstützt. Präsident Aliyev empfängt regelmäßig die Repräsentanten der jüdischen Gemeinden und pflegt einen aktiv gelebten und engagierten Dialog. 2015 wurde auf Erlass des Präsidenten der Republik Aserbaidschan das Baku International Multiculturalism Centre (BIMC) mit Vertretern aller Religionsgemeinschaften gegründet, um die Erfahrungen des aserbaidschanischen Modells des Multikulturalismus zu bewahren, wissenschaftlich zu erforschen und auf internationaler Ebene als konstruktive Kraft für den Dialog und die Verständigung einzubringen. Das Zentrum organisiert regelmäßig akademische Programme für internationale Nachwuchswissenschaftler und Führungskräfte und engagiert sich auf internationaler Ebene als Stimme Aserbaidschans für Kultur- und Religionsdiplomatie im Zeichen von Toleranz und Verständigung. Die führenden Vertreter der jüdischen gemeinden wirken maßgeblich bei der Gestaltung der Programme des Zentrums mit. Geleitet wird dieses von Dr. Ravan Hasanov, der durch sein Studium in Potsdam ebenfalls besondere Beziehungen zu Deutschland pflegt.

Aserbaidschan und Israel genießen seit nunmehr drei Jahrzehnten diplomatische Beziehungen und eine vertrauensvolle, kontinuierlich erweiterte Partnerschaft. Israel war einer der ersten Staaten, der die Unabhängigkeit Aserbaidschans von der Sowjetunion 1991 anerkannte und bereits 1993 eine eigene Botschaft in Baku eröffnete. Die feierliche Eröffnung der Botschaft der Republik Aserbaidschan in Tel Aviv fand am 29. März 2023 statt. Botschafter Mukhtar Mammadov konnte hierzu zahlreiche prominente Gäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Israels begrüßen, so beispielsweise den ehemaligen Außen-, Verteidigungs- und Finanzminister, Knesset-Abgeordneten und Vorsitzenden der Partei Jisra’el Beitenu (Unser Haus Israel), Avigdor Lieberman. Kurz darauf, Ende Mai 2023, folgte der Staatsbesuch von Präsident Isaac Herzog in Baku, wo er von seinem Amtskollegen Ilham Aliyev herzlich empfangen wurde. Aserbaidschans Außenminister Jeyhun Bayramov erklärte anlässlich der Botschaftseröffnung auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv, dass das bilaterale Handelsvolumen 2022 um 85 % zugenommen habe. Besonders intensiv ist die Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Verteidigung, Landwirtschaft, Kommunikation, Medizin und Tourismus ausgeprägt. Israelische Technologien bildeten eine wichtige Unterstützung für die Streitkräfte Aserbaidschans bei der Rückeroberung der fast 30 Jahre von Armenien völkerrechtswidrig okkupierten Gebiete des aserbaidschanischen Staatsterritoriums im 44-Tage-Krieg des Jahres 2020. Erwähnenswert ist ebenfalls das Gedenken an Albert Agarunov, einen aserbaidschanischen Bergjuden, der im Mai 1992 bei der Verteidigung der territorialen Integrität Aserbaidschans in Schuscha fiel. Neben der Ehrung mit dem Titel „Nationalheld der Republik Aserbaidschan“ wurde eine er prachtvollsten Alleen in Baku in seinem Namen benannt und 2019 wurde ein repräsentatives Monument zu seinen Ehren enthüllt, an dem inzwischen regelmäßige Gedenkveranstaltungen im April zum Geburtstag des jüdischen Nationalhelden Aserbaidschans stattfinden. Gegenwärtig deckt Aserbaidschan etwa ein Drittel der israelischen Rohölimporte, weit über 100 israelische Unternehmen sind mittlerweile in Aserbaidschan operativ tätig. Für 2023 erwartet Aserbaidschan über 50.000 Touristen aus Israel, Tendenz steigend. Diese können, anders als deutsche Touristen, inzwischen auch visafrei in das Land am Kaspischen Meer einreisen. Aserbaidschan ist in Deutschland für viele Menschen immer noch ein Land, über das oftmals voreilig geurteilt wird, aber mit dessen gesellschaftlichen Realitäten zugleich wenige in der Tiefe vertraut sind. Wenngleich noch keine Visafreiheit für Deutsche besteht, kann ein Visum innerhalb von meist weniger als 48 Stunden unkompliziert online beantragt werden. Dem deutschen Besucher Aserbaidschans erschließt sich ein starker Kontrast gegenüber dem kasernierten Dasein jüdischer Einrichtungen in dem Land, von dem einst die Shoah ausging. Von dem Besuch der jüdischen Delegation im Juni 2023 gingen nicht nur neue Impulse für die deutsch-aserbaidschanischen Kulturbeziehungen aus, es ist auch zugleich eine Einladung, die Erfahrungen Aserbaidschans als eines Landes mit schiitisch-muslimischer Bevölkerung, die frei von Antisemitismus in Harmonie mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern lebt, als Wertgegenstand für die Gestaltung interkultureller und interkonfessioneller Beziehungen aktiv zu nutzen. Die tatkräftigen Bemühungen der Regierung Aserbaidschans und die zahlreichen Initiativen von Präsident Ilham Aliyev für das jüdische Leben in ihrem Land zeigen belastbare Ergebnisse, die in Westeuropa mittlerweile ihresgleichen suchen. Interreligiöse und interkulturelle Harmonie ist in diesem Land keine abstrakte Floskel politischer Sonntagsreden, sondern alltäglich gelebte Praxis. Daraus kann auch in den internationalen Beziehungen verstärkt konstruktive Energie für neue Dialogmechanismen geschöpft werden.

 

Der Autor ist Repräsentant des Baku International Multiculturalism Centre in Berlin und war 2021 Gastwissenschaftler an der Azerbaijan Diplomatic Academy (ADA University) in Baku.

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