Weltbank und UniCredit: Russland bleibt 2023 in tiefer Rezession

Vor rund einer Woche legten die Weltbank und die Mailänder Großbank UniCredit neue Prognosen für die russische Wirtschaft vor.  Sie fielen im Vergleich mit anderen Prognosen ziemlich skeptisch aus.

Die Weltbank erwartet, dass sich das Rezessionstempo der russischen Wirtschaft im neuen Jahr kaum merklich von 3,5 auf 3,3 Prozent abschwächt. UniCredit rechnet für 2023 sogar mit einer Beschleunigung des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 4 auf 5 Prozent.

Zur Begründung der schlechten Aussichten der russischen Wirtschaft verweisen die Weltbank und UniCredit unter anderem auf die Sanktionierung russischer Energieexporte und die Auswanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Russland. Dazu äußerten sich in der letzten Woche auch der emigrierte russische Ökonom Sergej Guriew in einem Vortrag in Wien und Marcus Keupp, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich, in einem Interview.  Beide sehen Russland auf dem Weg „zurück zur Sowjetunion”.

Kaum aufhellen kann dieses Bild die Nachricht vom Jahresende, dass das Wachstum der  russischen Wirtschaft im Jahr 2021 laut neuen Berechnungen des Statistikamtes nicht nur 4,7 Prozent, sondern sogar 5,6 Prozent erreicht hat. „Erfolge” erreichte Russland im Verlauf des Jahres 2022 auch bei der Inflationsbekämpfung. Der Anstieg der Verbraucherpreise ist im Dezember auf 11,9 Prozent zurückgegangen – von 17,8 Prozent im April.

Weltbank: 2022 sank Russlands BP voraussichtlich um 3,5 Prozent

Anfang Oktober, zwei Wochen nachdem die russische Regierung ihre Prognose für den Rückgang der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 auf 2, 9 Prozent gesenkt hatte, erwartete die Weltbank für Russland noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4,5 Prozent. Am 10. Januar senkte sie in den „Global Economic Prospects” diese Prognose auf 3,5 Prozent.

Ihre Prognose für den weiteren Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 nahm die Weltbank von 3,6 Prozent auf 3,3 Prozent zurück. Die russische Regierung erwartet demgegenüber im neuen Jahr eine deutliche Abschwächung der Rezession auf nur noch 0,8 Prozent.

Die Rezession war 2022 viel schwächer als erwartet

Zum Verlauf der Wirtschaftsentwicklung im letzten Jahr merkt die Weltbank an:

Der Rückgang der Produktion in Russland war 2022 voraussichtlich viel geringer als prognostiziert wurde. Das war jedoch teilweise dadurch bedingt, dass die fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen umfangreicher als erwartet waren.

Die Bedingungen auf dem russischen Finanzmarkt stabilisierten sich aufgrund einer Kombination aus rasch eingeführten umfangreichen Kapitalverkehrskontrollen und Liquiditätsoperationen schneller als angenommen.

Die Wechselkursentwicklung des Rubels trug dazu bei, die Inflation und die  Realeinkommensverluste einzudämmen.

Zudem war Russlands Ölförderung höher als erwartet. Ein Teil der Ölausfuhren wurde zu ermäßigten Preisen an Käufer außerhalb Europas umgeleitet.

Die internationalen Sanktionen dämpften die Investitionen. Die Aktivitäten der Unternehmen wurden außerdem durch Rückzüge ausländischer Unternehmen aus Russland und die generelle hohe Unsicherheit belastet. Der private Verbrauch wurde durch sinkende Reallöhne gedrückt.

Beeinträchtigt wurde die Binnennachfrage auch durch die Teil-Mobilisierung von Truppen im September und Oktober. Die Mobilisierung belastet den Arbeitsmarkt.

Ungünstige Perspektiven für 2023/2024 und auf längere Sicht

Zu ihren weiteren Erwartungen für Russlands Wirtschaft schreibt die Weltbank:

2023 dürfte die Produktion der russischen Wirtschaft um weitere 3,3 Prozent zurückgehen. Die Embargo-Maßnahmen der EU im Öl-Bereich werden vollständig umgesetzt werden. Russlands Erdgasexporte verringern sich durch die Einstellung der Lieferungen in die EU über die Nord Stream 1-Pipeline.

2024 wird das Wachstum der russischen Wirtschaft voraussichtlich mit einer Rate von 1,6 Prozent wieder einsetzen. Der Verbrauch dürfte dabei nur bescheiden wachsen. Die Exporte werden sich mit der Neu-Ausrichtung der Handelsbeziehungen wohl etwas erholen.

Auch langfristig dürften der Ukraine-Krieg und seine Folgen die Wachstumsmöglichkeiten Russlands verringern.

Die Unterbrechung der bisherigen Handels- und Investitionsbeziehungen schränkt den Technologietransfer ein. Das Produktivitätswachstum dürfte sich verlangsamen.

Der eingeschränkte Zugang zu den internationalen Finanzmärkten und die gestiegene wirtschaftliche und politische Unsicherheit dürfte von Investititionen in Russland weiter abschrecken.

Die Auswanderung von Arbeitskräften wird den Arbeitsmarkt belasten.

UniCredit erwartet 2023 eine auf 5 Prozent verschärfte Rezession

Die Mailänder Großbank UniCredit erwartet eine noch ungünstigere Entwicklung der Konjunktur in Russland als die Weltbank. UniCredit geht in ihrem am 09. Januar veröffentlichten vierteljährlichen Bericht zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa („CEE Quarterly 1/23“)  davon aus, dass sich Russlands Rezession von 4,0 Prozent im Jahr 2022 auf 5,0 Prozent im Jahr 2023 verschärft. Die Teil-Mobilisierung und das von der EU begonnene Ölembargo hätten im vierten Quartal einen „neuen Schock“ für die russische Wirtschaft bedeutet. Das ab Februar 2023 geltende Embargo für Ölprodukte werde der Wirtschaft einen „weiteren Schlag“ versetzen.

Volkswirtschaftliche Daten und Prognosen 2020 bis 2024

UniCredit; CEE Quarterly 1-2023. 09.01.2023

Die Beschleunigung der Rezession auf 5 Prozent im Jahr 2023 wird nach Einschätzung der UniCredit hauptsächlich durch die außenwirtschaftliche Entwicklung verursacht werden: Bei einem tiefen Einbruch der Ausfuhren (real um rund 22 Prozent) dürften die Einfuhren real gleichzeitig nur um rund 4 Prozent abnehmen.

Zu dem starken Rückgang der Ausfuhren wird der Ölexport beitragen. UniCredit rechnet damit, dass er im Verlauf des Jahres 2023 um rund ein Drittel sinkt (siehe folgende Abbildung). Die Ölproduktion werde gleichzeitig um rund 16 Prozent abnehmen.

Ölförderung (linke Skala) und Ölausfuhren (rechte Skala)
Millionen Barrel pro Tag

UniCredit; CEE Quarterly 1-2023. 09.01.2023

Der private Verbrauch wird 2023, so UniCredit, nur um weitere 1,3 Prozent sinken. Ursachen dafür seien die Auswanderungswellen im Jahr 2022 und die von 4,3 Prozent auf rund 5 Prozent steigende Arbeitslosenquote. Außerdem sei die Kreditvergabe an Privatkunden schwach.

Die Anlageinvestitionen werden laut UniCredit 2023 um weitere 7 Prozent zurückgehen. Die Entwicklung der Investitionen werde nicht mehr wie 2022 von Investitionen gestützt werden, die die Unternehmen zeitlich vorzogen, weil sie mit einer baldigen Unterbrechung der Lieferketten rechneten.

Inflationsprognose: Der Preisanstieg sinkt bis Ende 2023 weiter auf 7,0 Prozent

UniCredit erwartet in ihrem Quartalsbericht, dass der Anstieg der russischen Verbraucherpreise im Dezember 2022 auf 12,0 Prozent gesunken ist („Headline Inflation“; dunkelrote Linie in der folgenden Abbildung).

Bis zum Jahresende 2023 werde die Inflationsrate weiter auf 7,0 Prozent abnehmen. Die Zentralbank werde ihren Leitzins (Key CBR rate, schwarze Linie) im Verlauf des Jahres nur noch wenig von derzeit 7,5 auf 7,0 Prozent senken.

Jährliche Inflationsrate, Leitzins und Inflationsziel der Zentralbank

UniCredit; CEE Quarterly 1-2023. 09.01.2023

Ende 2024 wird die Zentralbank laut der UniCredit-Prognose ihr Inflationsziel von 4,0 Prozent (hellrote Linie) erreichen.

Tatsächlich ist der Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2022 im Vorjahresvergleich nach Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat auf 11,9 Prozent gesunken (Trading Economics). Die Inflationsrate war damit etwas niedriger als UniCredit prognostizierte (12,0 Prozent).

Im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 erhöhten sich die Verbraucherpreise – wie von UniCredit erwartet – um 13,8 Prozent (Rosstat-Tabelle). Im Jahresdurchschnitt 2023 werden die Verbraucherpreise laut UniCredit voraussichtlich nur noch knapp halb so schnell um 6,3 Prozent steigen.

Eine Million qualifizierte Arbeitskräfte fehlen

Zu den längerfrisitigen Perspektiven der russischen Wirtschaft nahm in der letzten Woche Dr. Marcus Keupp, Dozent an der Militärakademie der ETH-Zürich, in einem ntv-Interview Stellung. Er beschrieb die möglichen Folgen der Auswanderung so:

„Schätzungsweise fehlen der russischen Wirtschaft jetzt eine Million qualifizierte Arbeitskräfte. Neben den Mobilisierten sind auch die 700.000 Menschen eingerechnet, die geflohen sind.

Um deutlich zu machen, wie ernst die Lage ist: Es gab erst unter der Woche eine Mitteilung des russischen Digitalministeriums, dass alle IT-Fachkräfte, die freiwillig zurückkommen, nicht ins Militär müssen. …

Der Arbeitskräftemangel trifft Moskaus Wirtschaft empfindlich. Gerade der Finanz- und Dienstleistungssektor ist in Russland sehr IT-intensiv. Bei russischen Banken beginnen derzeit die Überlegungen: Wie halten wir unser Geschäft aufrecht, wenn die ganzen Leute fehlen? Das Problem ist nicht unbedingt, dass sie beim Militär sterben, sondern nach Dubai, China oder Kasachstan geflohen sind. Diese langfristigen Folgen darf man nicht unterschätzen. Sollte Putin eine zweite, dritte oder vierte Mobilisierungswelle starten, wird die Wirtschaft schnell zugrunde gehen.“

Wahrscheinlichstes Szenario: „Zurück in Richtung Sowjetunion“

Keupp meint in dem Interview, Präsident Putin sei bei den Russen deshalb beliebt, weil er eine Reihe großer Sozialprogramme angestoßen habe:

„Er hat die Lage der Rentner verbessert und versucht, die Armut zu lindern. Finanziert hat er das mit den hohen Gewinnen aus dem Export von Gas und Öl.”

Angesichts der Kriegskosten geht Keupp aber davon aus, dass die im “nationalen Wohlfahrtsfonds” gesparten Mittel nicht lange zur Finanzierung zusätzlicher Sozialausgaben reichen werden. Er erwartet, dass die Armutsquote in Russland sicher deutlich steigen wird. Sein wahrscheinlichstes Szenario:

„Irgendwann wird Russland wieder so aussehen wie die Sowjetunion, ein graues Land mit autoritärem Militär und einer unterdrückten Bevölkerung.”

Sergej Guriew: Die Sanktionen wirken und können verschärft werden

Ahnlich äußerte sich laut einem APA-Bericht in der “Tiroler Tageszeitung” der russische Ökonom Sergej Guriew, Vorstand der Pariser Elite-Hochschule “SciencesPo”, der 2013 aus Russland geflohen ist. Guriew meinte am 9. Januar bei einem Vortrag an der Wiener “Central European Universtity, CEU”, die russische Wirtschaft werde aufgrund der Sanktionen, die sie von Technologieeinfuhren abschnitten, noch mehr “veralten”.

“Das wird die Transformation der russischen Wirtschaft: sie gehen zurück vom 21. ins 20. Jahrhundert. Das ist sehr traurig, aber das ist, was man auch in Kuba, im Iran und in Nordkorea sehen kann.”

Guriew betrachtet die westlichen Sanktionen gegen Russland als effektiv. Er erwähnte vor allem das seit Dezember geltende Ölembargo, das Embargo für Ölprodukte ab Februar und den Ölpreisdeckel. Im Dezember habe der Durchschnittspreis für russisches Öl bei 50 Dollar pro Barrel gelegen, während der Brent-Preis für Nordsee-Öl 80 Dollar betrug. Er sieht die Möglichkeit, den “Ölpreisdeckel” von 60 Dollar auf 55 oder 50 Dollar zu senken.

Guriew zeigte Verständnis dafür, dass die westlichen Regierungen lange kein Ölembargo beschlossen haben, weil sie sich vor einer Rezession fürchteten und sich auf den Winter vorbereiten wollten. Aber das habe seinen Preis gehabt. Der Westen habe zwar am 3. Tag nach Kriegsbeginn Sanktionen gegen die russische Zentralbank verhängt und rund 300 Milliarden Dollar Währungsreserven eingefroren. Gleichzeitig habe Russland 2022 aber weiter Öl exportieren können. Der Leistungsbilanzüberschuss Russlands habe im letzten Jahr rund 250 Milliarden Dollar erreicht.

Dr. Michael Heise erwartet Scheitern des “Ölpreisdeckels”

Dr. Michael Heise, Chefökonom von HQ Trust und zuvor langjähriger Chefökonom der  Allianz SE, äußerte sich zur Wirksamkeit des “Ölpreisdeckels” im Podcast “Zaren, Daten, Fakten” der AHK Moskau hingegen sehr skeptisch.

Am Schluss des Gesprächs mit Thomas Baier (ab Min. 25) meinte Heise, die Motivation für den “Preisdeckel” sei natürlich klar. Man wolle die enormen Einnahmen, die Russland 2022 und voraussichtlich auch 2023 aufgrund hoher Preise erzielen könne, etwas abdämpfen. Russlands Politik solle so unter Druck kommen. Er glaube aber, das man Russlands Einnahmen aus dem Ölexport nur senken könne, wenn die Nachfrage reduziert werde, wenn weniger Öl verbraucht werde. Dann würden die Preise sinken.

Eine Verringerung der Einnahmen Russlands durch einen “Preisdeckel” könne nur gelingen, wenn sich alle großen Ölimportländer an die Deckelung der Preise halten würden. Das sei aber mitnichten der Fall.

Heise hält folgende Entwicklung für möglich: Die Ölpreise für Lieferungen in die westlichen Länder, die den Ölpreisdeckel beschlossen haben, könnten nicht sinken, sondern sie könnten aufgrund einer Verknappung des Angebots, das Präsident Putin ja angekündigt habe, eher steigen. Die Öllieferungen Russlands gingen dann in andere Länder.

Die Motivation des Ölpreisdeckels sei klar. Die Umsetzung des Konzepts werde seines Erachtens aber scheitern

Laut CNBC meinte der auch für Energie zuständige Stellvertretende russische Premierminister Alexander Nowak Ende 2022 zur Wirksamkeit der Preisdeckel, Russlands Produktion von Rohöl könne wegen der Preisdeckel um 5 bis 7 Prozent vermindert werden. Ob die Preisobergrenze zu einer Verringerung der Einnahmen Russlands aus dem Ölexport führen wird, ist aber sehr umstritten (siehe WEKA; Friedrich Oehlerking: Preisdeckel auf russisches Rohöl, 05.01.2023; Bakhtin, Kirill and Mordovtsev, Vasily; Analysts at IB “Sinara”; Finam.ru: Russian oil and gas: well done in 2022. What’s next? 20.12.22 )

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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