Herbstprognosen: „Der Krieg wird für Russland teuer“

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, hat fast gleichzeitig mit dem Internationalen Währungsfonds seine „Herbstprognose” für die Entwicklung der russischen Wirtschaft veröffentlicht. Das Institut erwartet, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr um rund 4 Prozent sinkt. Der IWF rechnet 2022 mit einer etwas schwächeren Rezession (- 3,4 Prozent).

Die Entwicklung im nächsten Jahr sieht BOFIT jedoch deutlich negativer als der IWF (und fast alle anderen Beobachter). Das finnische Institut geht davon aus, dass das Rezessionstempo der russischen Wirtschaft anhält und 2023 erneut 4 Prozent erreicht. Der IWF erwartet hingegen eine Abschwächung des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion auf 2,3 Prozent.

Insgesamt wird Russlands Wirtschaft in den beiden Jahren 2022 und 2023 also nach Einschätzung von BOFIT um rund 8 Prozent schrumpfen. „Der Krieg wird für Russland teuer werden.” So überschreibt Heli Simola, Senior Economist im BOFIT-Institut, ihre  Analyse der volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges mit der Ukraine. Sie rechnet damit, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 nach 2 Jahren Rezession auf das vor rund 10 Jahren erreichte Niveau zurückgefallen sein wird. Das erwartet auch die Frankfurter DekaBank.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

BOFIT: 2022 sinken die Investititonen noch stärker als der private Verbrauch

Auch die Herbstprognose des Forschungsinstituts der finnischen Zentralbank stellt fest, dass die Produktion der russischen Wirtschaft dank des starken Anstiegs der russischen Ausfuhrpreise in der ersten Hälfte des Jahres 2022 weniger als erwartet gesunken ist. Das Institut rechnet aber damit, dass sich der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 beschleunigt. BOFIT geht davon aus, dass das starke Wachstum der Nettoexporte die Produktionsentwicklung zwar weiterhin stützt. Gebremst werde die Produktion aber durch den sinkenden privaten Verbrauch und den Rückgang der Lagerbestände (der sich in der Abnahme der Bruttoinvestitionen niederschlägt).

Im gesamten Jahr 2022 erwartet BOFIT einen rund 9 Prozent niedrigeren privaten Verbrauch und rund 15 Prozent niedrigere Bruttoinvestitionen. Gestützt werde die  gesamtwirtschaftliche Produktion von einem rund 2 Prozent höheren Staatsverbrauch.

Das Importvolumen wird 2022 laut BOFIT um rund 25 Prozent schrumpfen, während das Exportvolumen nur um 5 Prozent zurückgehen dürfte.

Russlands reales Bruttoinlandsprodukt

Veränderungen der Verwendungsbereiche gegenüber dem Vorjahr in Prozent

BOFIT:  BOFIT Weekly, 14.10.2022

2023: Verschärfter Exporteinbruch. Das BIP sinkt erneut um rund 4 Prozent

Im nächsten Jahr wird die russische Konjunktur nach Einschätzung von BOFIT von der außenwirtschaftlichen Entwicklung (Veränderung der Netto-Exporte) nicht mehr gestützt, sondern gebremst. Der Rückgang des russsichen Exportvolumens werde sich voraussichtlich auf rund 10 Prozent verdoppeln. BOFIT verweist darauf, dass das Importverbot der EU für russisches Rohöl im Dezember wirksam wird und das Importverbot für Mineralölprodukte ab Februar 2023. Gleichzeitig würden sich die 2022 um ein Viertel geschrumpften russischen Einfuhren im nächsten Jahr voraussichtlich um rund 5 Prozent erholen.

Der private Verbrauch wird laut BOFIT in Russland 2023 noch etwas weiter um rund 1 Prozent sinken. Ein Grund dafür sei die Schwächung des Konsums durch die Einberufungen zum Kriegsdienst, vor dem zudem “Hunderttausende” ins Ausland geflohen seien.

Abschreckend für private Investitionen wirke der anhaltende Krieg und die hohe Unsicherheit über die Wirtschaftsentwicklung. Das Forschungsinstitut erwartet 2023 nur eine Erholung der Brutto-Investitionen um rund 1 Prozent. Jegliches Wachstum der Investitionen werde in zunehmendem Maße Unterstützung durch die Regierung und staatliche Unternehmen erfordern.

Der russische Staat werde die Militärausgaben erhöhen und den Ausbau neuer Export-Routen nach Osten und Süden unterstützen, erwartet BOFIT. Um das Haushaltsdefizit in den nächsten Jahren im Rahmen des angestrebten Niveaus von rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu halten, dürften die öffentlichen Ausgaben für andere Bereiche gekürzt werden müssen. BOFIT rechnet 2023 mit einer Stagnation des realen Staatsverbrauchs.

Umorientierung Russlands in Richtung Autarkie

Rückblickend stellt BOFIT fest, dass die russische Wirtschaftspolitik vor dem Ukraine-Krieg auf einem flexiblen Wechselkurs, einem freien Kapitalverkehr und einer stabilitätsorientierten Haushaltspolitik basierte. Mit dem Krieg seien diese wirtschaftspolitischen Grundsätze aufgegeben worden.

Angesichts der Sanktionen wolle die Regierung jetzt eine autarke Wirtschaft schaffen, die nur lose mit dem globalen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Ideen verbunden sei. Die Brücken zu wichtigen westlichen Wirtschaftspartnern habe Russland “irreparabel verbrannt”. Eine verstärkte Zusammenarbeit mit China werde die Verluste Russlands durch die Zerrüttung der Beziehungen mit dem Westen aber nur zu einem kleinen Bruchteil ersetzen können.

DekaBank-Prognose: Die Rezession beschleunigt sich 2023 noch

Wie BOFIT erwartet auch die Frankfurter DekaBank, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands in den beiden Jahren 2022 und 2023 um insgesamt rund 8 Prozent sinkt. Ihre Prognose zum Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 hat die DekaBank in der Oktober-Ausgabe der “Emerging Markets Trends” zwar weiter auf  3,5 Prozent gesenkt. Gleichzeitig geht sie aber davon aus, dass sich die Rezession im nächsten Jahr auf 4,5 Prozent beschleunigt. Das Sanktionsregime werde weiter verschärft. Die Belastungen durch die bereits beschlossenen Sanktionen würden im Zeitablauf steigen.

DekaBank: Emerging Markets Trends, 14.10.2022

Ihre Prognose für diesen Konjunkturverlauf begründet DekaBank- Analystin Daria Orlova so:

“Zum einen wird in den kommenden Monaten das Ölembargo der EU greifen. Die Perspektiven für die Erdölexporte Russlands Richtung Asien im kommenden Jahr sind aufgrund möglicher Transporteinschränkungen oder der durch die EU im achten Sanktionspaket und die G7 beschlossenen – im Detail aber noch unklaren – Preisobergrenze für das russische Öl ungewiss.

Die Abkopplung der EU von den russischen Erdgaslieferungen geht deutlich schneller voran als die Erweiterung der entsprechenden Exportinfrastruktur Richtung Asien seitens Russland.

Das Technologieembargo wird sich in vielen Wirtschaftsbereichen mittelfristig deutlich

bemerkbar machen.

Die Mobilmachung reduziert die Höhe der Erwerbsbevölkerung direkt und über die massive Auswanderungswelle und wird so die demografischen Probleme Russlands verstärken.”

Die DekaBank erwartet im Ergebnis, dass die wirtschaftlichen Folgen des Angriffs auf die Ukraine “die Wachstumsgewinne der vergangenen zehn Jahre auslöschen” dürften.

BOFIT: “Der Krieg wird für Russland teuer”. BIP-Rückfall um 10 Jahre

Anfang Oktober ist auch Heli Simola (BOFIT “Senior Economist) zu dem Schluss gekommen, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion durch den Krieg auf das Niveau des Jahres 2013 zurückfallen wird. Die Analystin veranschaulicht in einem BOFIT-Blog vom 05. Oktober (bisher nur in Finnisch) die voraussichtlichen wirtschaftlichen Verluste durch den Krieg mit folgender Abbildung. Sie zeigt einen Vergleich von BOFIT-Prognosen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts vom Februar 2022 (vor dem Beginn des Ukraine-Krieges, blaue Linie) und vom September 2022 (rote Linie).

Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts laut Prognosen vom Februar und vom September 2022
(BIP-Index 2013=100)

Heli Simola; BOFIT (Bank of Finland): The war will be expensive for Russia, 05.10.2022

Bis 2021 ist Russlands reales Bruttoinlandsprodukt gegenüber 2013 um knapp 8 Prozent gestiegen. Laut Simola wurde vor dem Beginn des Krieges für die Jahre 2022 und 2023 ein Wachstum von insgesamt rund 5 Prozent prognostiziert (blaue Linie). 2023 hätte das reale BIP also ohne den Krieg rund 13 Prozent höher sein können als 2013. Angesichts des Krieges ist laut der September-Prognose jedoch zu erwarten, dass Russlands BIP im Jahr 2023 knapp unter das 2013 erreichte Niveau sinken wird (rote Linie).

Die real verfügbaren Einkommen werden weiter sinken

In diesem Zusammenhang weist Simola mit der folgenden Abbildung darauf hin, dass das durchschnittlich verfügbare Realeinkommen russischer Haushalte bereits von 2013 bis 2020 um knapp ein Zehntel gesunken ist. Trotz deutlicher Erholung im Jahr 2021 war es im ersten Halbjahr 2022 noch merklich niedriger als 10 Jahre zuvor. Zum Jahresende werde mit einer Beschleunigung des Rückgangs der real verfügbaren Haushaltseinkommen gerechnet schreibt Simola.

Real verfügbares Einkommen der russischen Haushalte

(Index, 2011=100)

Heli Simola; BOFIT (Bank of Finland): The war will be expensive for Russia, 05.10.2022

Das Angebot an Konsumgütern und Auslandsreisen verschlechtert sich

Als weitere Anzeichen für einen sinkenden „Lebensstandard“ der russischen Bevölkerung nennt Simola die Einengung des Konsumgüterangebots aufgrund der verschlechterten Importmöglichkeiten. Ersatzprodukte aus russischer Produktion seien oft qualitativ schlechter und teurer als die sanktionierten Einfuhren. Die russische Bevölkerung habe auch viel weniger Möglichkeiten zu Auslandsreisen.

Der Krieg drückt die langfristigen Wachstumsmöglichkeiten

Der Krieg schmälert, so Simola, auch das langfristige Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft. Dafür nennt sie folgende Gründe:

Mit dem Krieg und den gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen ist das Misstrauen gegenüber Russland enorm gestiegen. Für Russland ist es sehr schwierig geworden, langfristige Kredite auf internationalen Märkten zu erhalten oder insbesondere ausländische Investitionen nach Russland zu holen.

Die von zahlreichen Staaten gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen schränken Russlands Zugangsmöglichkeiten zu Produkten der Hochtechnologie, aber auch zu vielen anderen wichtigen Importgütern stark ein.

Der Krieg verstärkt die Rolle des Staates in der russischen Wirtschaft noch mehr. Damit sinkt ihre Produktivität.

Als Folge des Krieges haben bereits Hunderttausende Menschen Russland verlassen, was vor allem längerfristig die Zahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte reduzieren kann.

Vor dem Krieg betrug das langfristige Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft den meisten Schätzungen zufolge etwa 1,5 Prozent pro Jahr. Nach vorläufigen Schätzungen könnten der Krieg und die Sanktionen das langfristig erreichbare jährliche Wachstum um 0,5 bis einen Prozentpunkt drücken.

Die Staatsausgaben steigen kriegsbedingt in 2022-2025 um fast 6 Prozent des BIP

Laut den aktuellen Haushaltsplänen erhöhen sich nach Berechnungen von Simola wegen des Krieges die staatlichen Ausgaben für Verteidigung und nationale Sicherheit in den Jahren 2022 bis 2025 um insgesamt 7.400 Milliarden Rubel (110 Milliarden US-Dollar) oder fast 6 Prozent des BIP von 2021.

Das geplante weit überdurchschnittliche Wachstum der Ausgaben für Verteidigung (Defence) und „Innere Sicherheit und Recht“ („Domestic security & law enforcement“) zeigt folgende BOFIT-Abbildung der Entwicklung der nominalen Ausgaben im konsolidierten Gesamthaushalt der Russischen Föderation und der Regionen. Im Vergleich zum Jahr 2021 sollen die Verteidigungsausgaben im Jahr 2022 um rund 30 Prozent steigen und im Jahr 2023 um rund 40 Prozent. Die Ausgaben für „Innere Sicherheit und Recht“ sollen in den Jahren 2023, 2024 und 2025 sogar gut 80 Prozent höher sein als 2021.

Large changes in Russia’s government sector spending towards domestic security & law enforcement, as well as defence

BOFIT (Bank of Finland): Weak developments expected for Russian government sector revenues and expenditures, in: BOFIT Weekly, 14.10.2022

Weitere Perspektiven: Ab 2024 langsame Erholung der russischen Wirtschaft

Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um insgesamt 8 Prozent in den Jahren 2022 und 2023 erwartet BOFIT im Jahr 2024 eine sehr schwache Erholung der Produktion um 1 Prozent. Der Krieg und die internationale Isolation Russlands würden die ohnehin gedrückte potenzielle Wachstumsrate Russlands weiter sinken lassen. BOFIT geht bei dieser Prognose davon aus, dass der Krieg anhält, aber nicht deutlich eskaliert.

Das Institut unterstreicht die aktuell besonders große Unsicherheit von Prognosen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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