Russland: Auch der IWF erwartet 2022 nur noch 6 Prozent Rezession

Der IWF aktualisiert seine Rezessionspognose für Russland – und in Deutschland hält die kontroverse Debatte über die Wirksamkeit der Sanktionen an. Die neuen Standpunkte und Prognosen im Überblick.

In deutschen Medien war bisher oft zu lesen und zu hören, die russische Wirtschaft werde wegen der westlichen Sanktionen schon im Jahr 2022 eine Rezession um 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnen. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell meinte noch am 29. Juli in einem Deutsche Welle-Interview, Russlands Wirtschaft werde in diesem Jahr um 10 Prozent schrumpfen. Der Internationale Währungsfonds rechnet hingegen in seinem drei Tage zuvor veröffentlichten „World Economic Outlook“ mit einer deutlich schwächeren Rezession in Russland. Er erwartet 2022 nur noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 6 Prozent gegenüber 2021. 2023 werde Russlands Wirtschaftsleistung allerdings voraussichtlich um weitere 3,2 Prozent sinken.

Lässt sich die russische Führung durch Sanktionen beeinflussen?

Generelle Zweifel am Sinn der Sanktionen gegen Russland weckt eine Feststellung von Alexander Libman, Leiter des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, auf die die Deutsche Welle hinweist. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk meinte Libman am 29. Juli, die Schäden für die Wirtschaft beeindruckten die russische Führung kaum:

“Innerhalb von Wochen oder Monaten werden Sanktionen auf jeden Fall nichts ändern. Man muss auch ehrlich sein. Sanktionen sind ein Instrument – dazu gibt es ziemlich viel Forschung – das im Durchschnitt nicht wirkt. In den meisten Fällen haben Sanktionen das Verhalten der sanktionierten Staaten nicht beeinflusst.”

In einem Tagesschau-Interview unterstrich Libman Anfang Juni, dass Sanktionen sogar wirtschaftlich ein Instrument seien, das primär nicht kurzfristig, sondern mittel- und langfristig wirke. Die politischen Wirkungen der wirtschaftlichen Maßnahmen seien zudem „eine ganz andere Geschichte“. Sie beanspruchten zum Teil sehr viel Zeit und seien zum Teil völlig unvorhersehbar (Video, ab Min. 7).

Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Helaba, kam in einem Kommentar zu den Sanktionen zur Schlussfolgerung, der Westen habe die Verletzlichkeit Russlands überschätzt und die Bedeutung der russischen Rohstoffe für die Welt unterschätzt. Die Sanktionen schadeten Deutschland und der ganzen Welt mehr als Russland. Das berichtete das Portal Karenina (Petersburger Dialog) mit Bezug auf einen FAZ-Artikel. Inzwischen zog Gertrud Traud ihren Kommentar in einer Erklärung auf der Helaba-Internetseite aber zurück, weil sie die „politisch-moralische Dimension der Sanktionen“ nicht berücksichtigt habe. Eine abschließende Beurteilung der Sanktionen allein auf Basis der von ihr gewählten ökonomischen Aspekte sei nicht angemessen.

Im ersten Halbjahr 2022 war Russlands BIP nur 0,5 Prozent niedriger im Vorjahr

Laut ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums war Russlands Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2022 nur 0,5 Prozent niedriger als im ersten Halbjahr 2021, berichtet Interfax. Niedriger als im Vorjahresmonat ist die gesamtwirtschaftliche Produktion seit April. Im Juni unterschritt sie laut dem Wirtschaftsministerium ihr Vorjahresniveau um 4,9 Prozent. Im gesamten zweiten Quartal 2022 war das Bruttoinlandsprodukt um 4,0 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.

Saisonbereinigt sank das BIP von März bis Juni aber um 6,4 Prozent

Laut Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank sinkt die Produktion der russischen Wirtschaft seit März jedoch von Monat zu Monat. Der vom VEB-Institut berechnete Index des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts ging im Juni gegenüber Mai weiter um 0,5 Prozent zurück. Er ist jetzt 6,4 Prozent niedriger als im Februar.

Index des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014=100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“ , 29.07.2022

Die IWF-Prognosen entsprechen den Einschätzungen der russischen Zentralbank

Im April hatte der IWF noch prognostiziert, 2022 werde die Rezession der russischen Wirtschaft 8,5 Prozent erreichen. Im Update seines Weltwirtschaftsausblicks erwartet er jetzt also mit einem Rückgang des BIP um 6 Prozent einen um 2,5 Prozentpunkte schwächeren Rückgang der Produktion als bisher. Im nächsten Jahr wird sich die Rezession nach Einschätzung des IWF aber mit einer höheren Rate fortsetzen (-3,2 Prozent) als er bisher veranschlagte (- 2,3 Prozent).

Diese Erwartungen des IWF für 2022 und 2023 „passen“ in die Prognose-Spannen, die die russische Zentralbank 4 Tage zuvor veröffentlichte. Wie der IWF hat auch die Zentralbank ihre Rezessionsprognose für 2022 merklich abgemildert (von – 6 bis – 8 Prozent auf – 4 bis – 6 Prozent). Für 2023 erwartet die Zentralbank jetzt aber auch einen etwas stärkeren Produktionsrückgang als bisher.

Die neue Rezessionsprognose des IWF für 2022 (- 6 Prozent) entspricht genau dem Ergebnis der von der Zentralbank Mitte Juli veröffentlichten Zentralbank-Umfrage bei Banken und Forschungsinstituten (an der zu rund drei Vierteln russische Analysten beteiligt waren). Die IWF-Prognose deckt sich auch weitgehend mit der Prognose des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, die schon am 21. Juni veröffentlicht wurde.

Eine Ende Juli durchgeführte Reuters-Umfrage ergab sogar einen Rückgang der durchschnittlichen Rezessionsprognose auf nur noch 5 Prozent. Ende Juni war in der Reuters-Umfrage noch ein Rückgang des BIP um 7,1 Prozent erwartet worden.

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

IWF-Chefvolkswirt: Krisen-Maßnahmen der Regierung „ziemlich effektiv“

Der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), Pierre-Olivier Gourinshas, betonte in einer Pressekonferenz auf eine Frage zur Abschwächung der Rezessions-Prognose des IWF von minus 8,5 Prozent auf minus 6 Prozent zunächst, dass damit in Russland weiterhin eine „sehr schwere Rezession“ zu erwarten sei (Video ab Min. 25:30).

Es gebe hauptsächlich zwei Gründe für die günstigere Einschätzung der Produktionsentwicklung in Russland im Jahr 2022. Zum einen seien die in Russland ergriffenen finanziellen und monetären Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanz-Sektors „ziemlich effektiv“ gewesen. Sie hätten geholfen, die Wirtschaft im Inland zu stützen. Die Binnen-Wirtschaft in Russland entwickele sich „recht gut“. Zum anderen habe Russland im außenwirtschaftlichen Bereich in der ersten Hälfte dieses Jahres sehr hohe Exporteinnahmen durch den Verkauf von Öl und Gas erzielt.

Der IWF-Chefvolkswirt betonte abschließend, dass es andererseits laut der neuen IWF-Prognose im Jahr 2023 wegen der Sanktionen zu einem stärkeren Rückgang der Produktion in Russland kommen werde (-3,2 Prozent) als der IWF im April prognostiziert habe (-2,3 Prozent).

Petya Koeva Brooks, stellvertretende Direktorin der Forschungsabteilung des IWF, meinte ergänzend, die Inlandsnachfrage in Russland habe sich als ziemlich resilient erwiesen. Die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen hätten erfolgreich dazu beigetragen, das Vertrauen in das Finanzsystem wiederherzustellen, das zu Beginn der Krise gefehlt habe. Darüber hinaus seien von der Regierung erhebliche finanzielle Mittel zur Stützung der Inlandsnachfrage bereitgestellt worden.

IWF: Russland kam bisher besser als erwartet durch die Krise, Europa nicht

Auch im „World Economic Outlook“ merkt der IWF an, die russische Inlandsnachfrage habe sich als ziemlich widerstandsfähig erwiesen, weil die Auswirkungen der Sanktionen auf den Finanzsektor eingedämmt werden konnten (S.4). Außerdem habe sich der Arbeitsmarkt weniger als erwartet abgeschwächt. Im Außenhandel hätten sich die Ausfuhren von Rohöl und Nicht-Energie-Produkten besser als erwartet entwickelt. Insgesamt sei die Produktion der russischen Wirtschaft im zweiten Quartal weniger geschrumpft als prognostiziert wurde.

Der IWF vergleicht die Entwicklung in Russland und den europäischen Volkswirtschaften. In den europäischen Volkswirtschaften seien die Auswirkungen des Krieges negativer als erwartet ausgefallen. Gründe dafür seien die höheren Energiepreise und auch ein geschwächtes Vertrauen der Verbraucher. Außerdem habe sich das Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe wegen anhaltender Störungen der Lieferketten und steigender Einkaufspreise verringert.

Umfrage: Westdeutsche deutlich „sanktionswilliger“ als Ostdeutsche

Negative Folgen der Sanktionen gegen Russland werden laut einer Umfrage von infratest/dimap im Auftrag der ARD in Westdeutschland wesentlich bereitwilliger hingenommen als in Ostdeutschland. Im Westen werden die Sanktionen zum Beispiel von 66 Prozent der Bevölkerung auch dann unterstützt, wenn es dadurch zu Engpässen in der Energieversorgung kommt (im Osten nur von 42 Prozent). Steigende Energiepreise und Lebenshaltungskosten als Folge der Sanktionen wollen 61 Prozent im Westen akzeptieren (im Osten nur 40 Prozent).

Deutsche Welle, Bernd Riegert: Wirken die EU-Sanktionen gegen Russland? 30.07.2022

Wo steht Russlands Konjunktur im Vergleich mit dem Juni 2021?

Gegenüber Juni 2021 hat sich die russische Konjunktur bisher vor allem im Bereich des privaten Verbrauchs stark abgeschwächt. Das berichtet u.a. Olga Belenkaya (Finanzportal Finam.ru) auf der Basis der Angaben des Wirtschaftsministeriums.

Die Industrieproduktion war im Juni 2022 insgesamt 1,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Dabei stieg die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ im Vorjahresvergleich um 2,3 Prozent (Zunahme der Ölförderung bei deutlich niedrigerer Gasförderung).

Im Verarbeitenden Gewerbe beschleunigte sich der Rückgang der Produktion gegenüber Juni 2021 auf 4,5 Prozent. Überdurchschnittlich stark sank die Produktion in exportorientierten Branchen (Metallurgie, Chemie, Holzverarbeitung) und in Branchen, die vom Import von Komponenten abhängig sind (KFZ-Produktion, Textilindustrie, Möbelherstellung). Die Produktion von PKW sank um 89 Prozent. Zu den wenigen wachsenden Branchen gehörte die Herstellung von Arzneimitteln und Materialien für medizinische Zwecke (+ 16,5 Prozent).

Der reale Umsatzrückgang gegenüber dem Vorjahr verstärkte sich im Juni im Transportgewerbe (Eisenbahn; Pipelinetransport, vor allem von Gas) und im Großhandel. Die Bauproduktion stagnierte im Juni nach dem Wachstum der Vormonate auf dem Vorjahresniveau. Die landwirtschaftliche Produktion stieg im Vorjahresvergleich weiterhin (Juni: + 2,1 Prozent).

Verbrauchernachfrage weiterhin stark gedrückt

Der reale Einzelhandelsumsatz war auch im Juni rund 10 Prozent niedriger als vor einem Jahr – trotz der niedrigen Arbeitslosigkeit, einer Verlangsamung des Preisanstiegs und wachsender Konsumentenkredite. Der Anstieg des realen Umsatzes bei den privaten Dienstleistungen verlangsamte sich im Juni auf nur noch 0,2 Prozent.

Ursachen für die schwache Verbrauchernachfrage dürften der Rückgang der verfügbaren Realeinkommen um 0,8 Prozent im zweiten Quartal 2022 und die gestiegene Sparneigung sein (Die Reallöhne waren im Mai 2022 um 6,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr)

Die weiterhin sehr niedrige Arbeitslosenquote (historischer Tiefstand im Juni: 3,9 Prozent) erklärt sich zum Teil durch einen Übergang der Unternehmen zu mehr Teilzeitbeschäftigung.

Realer Einzelhandelsumsatz stabilisierte sich saisonbereinigt auf tiefem Niveau

Laut Berechnungen des VEB-Instituts ist der reale Einzelhandelsumsatz im April gegenüber März 2022 saisonbereinigt um 10,5 eingebrochen. Im Mai (minus 0,1 Prozent gegenüber April) und im Juni (+0,3 Prozent gegenüber Mai) stabilisierte er sich aber (schwarze Linie in der folgenden Abbildung).

Der Rückgang der realen Umsätze im Bereich der privaten Dienstleistungen (grüne Linie) war wesentlich schwächer als im Einzelhandelsbereich.

Hintergrund für die gedrückte Konsumkonjunktur ist der Rückgang der Reallöhne (graue Linie). Saisonbereinigt sind sie im April gegenüber März um 9,9 Prozent gesunken. Im Mai erholten sie sich kaum (+ 0,4 Prozent gegenüber April).

Reallöhne und reale Umsätze von Einzelhandel und Dienstleistungen

(Januar 2014 = 100, saisonbereinigt)
Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“ , 29.07.2022

Auch die Industrieproduktion erholte sich im Juni saisonbereinigt etwas

Laut den Berechnungen des VEB-Instituts ist auch die Industrieproduktion im Juni gegenüber Mai saisonbereinigt etwas gestiegen (+ 0,3 Prozent, schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Der Anstieg war der weiteren Erholung der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ zu verdanken (untere, hellgrüne Linie; + 3,2 Prozent gegenüber Mai). Im Verarbeitenden Gewerbe (dunkelgrüne Linie) setze sich der Rückgang der Produktion im Juni fort (- 1,0 Prozent).

Index der Industrieproduktion
(Januar 2014 = 100, saisonbereinigt)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“ , 29.07.2022

Helaba-Chefvolkswirtin Gertrud Traud zieht Kommentar zu Sanktionen zurück

„Karenina – Petersburger Dialog online“ berichtete in seiner Presseschau am 27. Juli zu einem Kommentar von Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Helaba, zur Wirkung der Sanktionen gegen Russland:

Der Krieg in der Ukraine könne mit Sanktionen gegen Russland nicht gewonnen werden, schreibt die Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), Gertrud Traud in ihrem neuesten Newsletter „Vertrau(d)lich“, aus dem die FAZ zitiert. Die Auswirkungen des Kriegs und der Sanktionen auf die russische Wirtschaft seien deutlich geringer als zunächst erwartet. Aber sie schadeten Deutschland und der ganzen Welt mehr als dem Land, gegen das sie gerichtet sind.

Russland sei gut auf den Krieg vorbereitet gewesen, „in der Welt weniger isoliert als erhofft“ und die Industrieproduktion sei im April „zwar eingebrochen, aber nicht so stark wie in der globalen Finanzkrise 2009“. Außerdem habe die Verknappung von Importgütern Russland „nicht so destabilisiert wie erwartet, vielmehr habe sich die ‚Pro-Putin-Stimmung‘ noch verstärkt“. Und der Handel mit anderen Ländern nehme zu.

Trauds Fazit: „Der Westen hat die Verletzlichkeit Russlands über- und die Bedeutung seiner Rohstoffe für die Welt unterschätzt.““

Am 29. Juli veröffentlichte Gertrud Traud auf der Internet-Seite der Helaba folgende Erläuterung zu ihrem Kommentar:

„In meinem jüngsten Kommentar hatte ich versucht, die Risiken und Nebenwirkungen von Sanktionen gegenüber Russland aus einer ökonomischen Sicht einzuschätzen. Unberücksichtigt blieb dabei die politisch-moralische Dimension der Sanktionen. Diese wiegt vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine allerdings schwerer. Schließlich werden in der Ukraine unsere Werte und unsere Demokratie verteidigt. Eine abschließende Beurteilung der Sanktionen ist allein auf Basis der von mir gewählten ökonomischen Aspekte nicht angemessen. Deshalb habe ich mich entschieden, den Kommentar zurückzuziehen.“

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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