Weniger Wachstum nur im Dienstleistungsbereich erwartet
Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Russland hat sich seit der Jahresmitte etwa vervierfacht und erreicht immer neue Höchststände. Ein länger anhaltender „Lockdown“ mit umfassenden Beschränkungen der Produktionsmöglichkeiten der Wirtschaft ist offenbar weiterhin nicht zu erwarten – was sich deutlich in den aktuellen Wachstumserwartungen zeigt.
Wie sich Russlands Wirtschaftsbereiche bisher vom Corona-Einbruch erholten
Die Research-Abteilung der Sberbank illustrierte in der letzten Woche mit zwei Abbildungen die Entwicklung der Produktion in der Industrie, in der Bauwirtschaft, im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich vom Dezember 2019 bis zum September 2021. Sie lassen erkennen, wie schnell sich diese Wirtschaftsbereiche vom Rückschlag im Lockdown im Frühjahr 2020 erholt haben.
Die folgende Abbildung zeigt die saisonbereinigte Entwicklung der Produktion in der Bauwirtschaft (schwarze Linie) sowie in den beiden größten Bereichen innerhalb der Industrie, Im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (gelbe Linie) und im „Verarbeitenden Gewerbe“ (grüne Linie).
Starker Anstieg der Produktion im Bergbau und Rückgang der Bauproduktion im September (Dezember 2019=100; saisonbereinigt)
Sberbank: Global Economic News“; 01.11.2021
Der Rohstoff-Bereich trieb 2021 das Wachstum der Industrie
Insgesamt stieg die Industrieproduktion nach den ersten Berechnungen der Sberbank im September gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt um 1,3 Prozent. Wichtigster Faktor dafür war der starke Anstieg der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 4,3 Prozent gegenüber August (gelbe Linie). Nach ihrem tiefen Einbruch im Frühjahr 2020 hat die Produktion der Rohstoff-Branche jetzt wieder das Niveau vom Dezember 2019 erreicht.
Der Einzelhandel erholte sich schneller als der Dienstleistungsbereich
Der Dienstleistungsbereich wuchs im August und September kräftig (Dezember 2019=100; saisonbereinigt)
Sberbank: Global Economic News“; 01.11.2021
Im Vergleich September 2021 zu Dezember 2019 sind die realen Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich etwa gleich stark gestiegen. Der Nachfrageschub bei den Dienstleistungen im dritten Quartal 2021 wurde vom Anstieg der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung gestützt. Sie wuchsen laut Sberbank einschließlich der Einmal-Zahlungen um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal.
Auch die EBRD erwartet für 2021 jetzt 4,3 Prozent Wirtschaftswachstum
„Schrittmacher“ für den bisherigen Anstieg der Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft waren in diesem Jahr die russische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds. Schon am 24. Juli hob die Zentralbank ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 3,0 bis 4,0 Prozent auf 4,0 bis 4,5 Prozent an. 3 Tage später erhöhte der Internationale Währungsfonds im „World Econmic Outlook“ seine Wachstumsprognose für Russland auf 4,4 Prozent.
Damit waren die Prognosen der Zentralbank und des IWF Ende Juli noch ziemlich „einsame Spitze“. Inzwischen liegt die große Mehrheit der Wachstumsprognosen von Forschungsinstituten und Banken aber ebenfalls zwischen 4 und 4,5 Prozent.
Auch die Londoner Entwicklungsbank EBRD („European Bank for Reconstruction and Development“) erhöhte in ihrem Bericht „Regional Economic Prospects“ jetzt ihre Russland-Prognose auf 4,3 Prozent. Ende Juni rechnete sie noch mit lediglich 3,3 Prozent.
In der Anfang November veröffentlichten Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics bei Banken und Forschungsinstuten stieg die durchschnittliche Wachstumsprognose auf 4,2 Prozent.
Die Rating Agentur Moody*s erhöhte ihre Wachstumsprognose für Russland am 05. November sogar auf 4,8 Prozent. Sie senkte aber gleichzeitig ihre Wachsumserwartung für 2022 auf 2,2 Prozent. Der IWF rechnet nach einem Wachstum um 4,7 Prozent im Jahr 2021 im nächsten Jahr nur mit einer Abschwächung auf 2,9 Prozent.
Wachstumsprognosen 2021 bis 2023
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
2021 | 2022 | 2023 | ||
Moody’s | 05.11.21 | 4,8 | 2,2 | 1,5 |
ING Bank, Amsterdam | 05.11.21 | 4,3 | 2,2 | 3,0 |
EBRD, London | 04.11.21 | 4,3 | 3,0 | |
FocusEconomics Consensus | 02.11.21 | 4,2 | 2,6 | 2,2 |
Reuters-Umfrage | 29.10.21 | 4,4 | ||
Sberbank, Moskau | 28.10.21 | 4,4 | ||
Russische Zentralbank | 22.10.21 | 4,0 bis 4,5 Urals 70 $/b | 2,0 bis 3,0 Urals 65 $/b | 2,0 bis 3,0 Urals 55 $/b |
wiiw Wien | 20.10.21 | 4,0 | 3,0 | 2,8 |
Economist Intelligence Unit, London | 19.10.21 | 3,8 | 2,7 | 3,0 |
Russian Academy or Sciences | 19.10.21 | 4,1 | ||
Zentralbank-Umfrage | 14.10.21 | 4,3 | 2,4 | 2,2 |
Vnesheconombank Institute | 14.10.21 | 4,4 Urals 67 $/b | 2,4 Urals 60 $/b | |
Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute | 14.10.21 | 4,5 | 3,2 | 2,1 |
OPEC, Wien | 13.10.21 | 4,0 | 2,7 | |
CMASF, Moskau | 13.10.21 | 4,0-4,3 | 1,7-2,0 | 2,0-2,4 |
Internationaler Währungsfonds | 12.10.21 | 4,7 | 2,9 | 2,0 |
DekaBank, Frankfurt | 08.10.21 | 4,5 | 2,2 | |
Interfax Consensus Forecast | 06.10.21 | 4,4 | 2,5 | |
Weltbank | 05.10.21 | 4,3 | 2,8 | 1,8 |
IHS Markit | 05.10.21 | 4,3 | ||
Russisches Wirtschaftsministerium | 30.09.21 | 4,2 Urals 66,0 $/b | 3,0 Urals 62,2 $/b | 3,0 Urals 58,4 $/b |
Die EBRD erwartet nach einer „breit basierten Erholung“ auch 2022 ein relativ starkes Wachstum der russischen Wirtschaft
Die EBRD stellt in ihrer Analyse der diesjährigen Konjunkturentwicklung in Russland folgende Trends heraus:
Eine „breit basierte Erholung“ ließ die gesamtwirtschaftliche Produktion bereits im zweiten Quartal 2021 auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehren.
Starke Wachstumsimpulse kamen vom Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“. Auch die realen Einzelhandelsumsätze erholten sich nach der Lockerung der virusbedingten Beschränkungen des Geschäftsbetriebes schnell. Die Erholung des Arbeitsmarktes und das schnelle Wachstum der Konsumentenkredite trugen dazu bei.
Zu Beginn des dritten Quartals gab es zwar einige Anzeichen für eine Verlangsamung der Produktion im Sektor „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“. Die vereinbarten höheren OPEC+-Ölförderquoten dürften die Produktion in diesem Bereich aber in den kommenden Monaten stützen.
Die Entwicklung der Einzelhandelsumsätze blieb „robust“. Vor den DUMA-Wahlen im September wurden von der Regierung gezielt konsumstützende Sozialleistungen gewährt. Begünstigt wurden vor allem Verbrauchergruppen mit hoher Konsumquote, insbesondere Familien mit Kindern, Rentner und Beschäftigte beim Militär.
Die Regierung beschloss Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher vor den Folgen der beschleunigten Inflation (Die jährliche Inflationsrate erreichte im September 2021 ein 5-Jahreshoch von 7,4 Prozent und beschleunigte sich im Oktober weiter auf 8,1 Prozent). Zu diesen Maßnahmen gehören Preisobergrenzen für Lebensmittel und die Beschränkung von Ausfuhren. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins seit März 2021 um 350 Basispunkte auf 7,5 Prozent.
Getrieben wurde die Inflation zu einem großen Teil durch höhere Nahrungsmittelpreise und Versorgungsengpässe in den Lieferketten. Als Gründe für die beschleunigte Inflation sieht die Zentralbank zu einem gewissen Grad aber auch die rasche Erholung der Binnennachfrage (nicht zuletzt im Zusammenhang mit den zusätzlichen Sozialleistungen) und die steigenden Inflationserwartungen der Verbraucher und Unternehmen.
Die solide Lage der öffentlichen Finanzen stützt Russlands konjunkturelle Entwicklung. Die staatlichen Öl-Einnahmen sind aufgrund der hohen Ölpreise gestiegen. Die übrigen Einnahmen dürften durch Steuererhöhungen für Unternehmen gesteigert werden, auch weil hohe Gewinne aufgrund steigender Rohstoffpreise bei Exporteuren besteuert werden.
Die EBRD prognostiziert, dass das Bruttoinlandsprdukt 2021 um 4,3 Prozent und 2022 um 3,0 Prozent wachsen wird, unterstützt durch öffentliche Ausgabenprogramme, die durch höhere Rohstoffeinnahmen ermöglicht werden. Als „Abwärtsrisiken“ für diese Prognose verweist die EBRD auf „geopolitische Spannungen“, insbesondere das Risiko weiterer Sanktionen, sowie die hohe Volatilität der Öl- und Gaspreise.
IHS Markit-Umfrage signalisiert abnehmende Geschäftsaktivitäten
Ein Hinweis auf eine Verunsicherung der Unternehmen durch die steigenden Infektionszahlen und zunehmende Auflagen der Behörden zur Eindämmung der Pandemie sind die Ergebnisse der jüngsten „Einkaufsmanager-Umfragen“ von IHS Markit. Bei der Umfrage im Dienstleistungsbereich, der im Lockdown im Frühjahr 2020 besonders starke Produktionseinbußen verzeichnete, ergab sich ein deutlicher Rückgang.
Der Anfang November veröffentlichte Einkaufsmanagerindex im Verarbeienden Gewerbe erholte sich jedoch kräftig. Der Index stieg von 49,8 Punkten auf 51,6 Punkte. Die Befragungen der Unternehmen dazu fanden aber bereits im Zeitraum vom 12. – 25. Oktober statt, also hauptsächlich noch vor der Anordnung „arbeitsfreier Tage“ durch Präsident Putin am 20. Oktober.
Bei der Umfrage in den Unternehmen des Dienstleistungsbereichs, die vom 12 bis zum 27. Oktober durchgeführt wurde, ergab sich ein Rückgang des Indexes unter die „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten. Der Index sank von 50,5 Punkten im September auf 48,8 Punkte im Oktober. Das war der stärkste Rückgang seit Dezember 2020.
Auch der „kombinierte“ Index von Unternehmen des „verarbeitenden Gewerbes“ und des Dienstleistungsbereichs sank unter die „Wachstumsschwelle“. Er ging von 50,5 Punkten auf 49,5 Punkte zurück, was IHS Markit als Signal für einen Rückgang der Aktivitäten im Bereich der privaten Unternehmen deutet.
Russland PMI Output Index
Kombinierter Index für das Verarbeitenden Gewerbe und den Dienstleistungsbereich;
saisonbereingt; Index über 50: Wachstum gegenüber dem Vormonat
IHS Markit: Russia Services PMI: Fastest contraction in business activity for ten months in October; 03.11.2021
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Industrieproduktion auf neuem Jahreshoch – Sberbank erhöht BIP-Prognose; 03.11.21
- WIIW: 2021 kräftige Produktionserholung – aber auch viel mehr Inflation; 25.10.2021
- Deutsche Institute: Russlands Wirtschaft wächst 2021 um 4,5 Prozent; 18.10.2021
- Weltbank hebt BIP-Prognose auf 4,3 Prozent an – aber das BIP sinkt seit Mai;10.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Gerhard Schröder in seinem Agenda-Podcast zu Energiepolitik, Erdgas und Nord Stream 2 und was er im Handelsblatt zum „Feindbild Russland“ schrieb
- Martin Hoffmann und Dieter Dombrowski diskutieren über Russland-Politik
- Reinhard Krumm (Friedrich-Ebert-Stiftung) im Izvestia-Interview zur Russland-Politik
- Hans-Jürgen Wittmann, GTAI, im AHK- Podcast zu Klimawandel und Russland