Russische Wirtschaft: Trotz Corona-Welle steigende Wachstumsprognosen

Weniger Wachstum nur im Dienstleistungsbereich erwartet

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Russland hat sich seit der Jahresmitte etwa vervierfacht und erreicht immer neue Höchststände. Ein länger anhaltender „Lockdown“ mit umfassenden Beschränkungen der Produktionsmöglichkeiten der Wirtschaft ist offenbar weiterhin nicht zu erwarten – was sich deutlich in den aktuellen Wachstumserwartungen zeigt.

Anfang November war die Zahl der Neuinfektionen rund vier Mal so hoch wie im „Lockdown“ im Frühjahr 2020 (NZZ-Bericht mit Charts). Präsident Putin ordnete am 20. Oktober „arbeitsfreie Tage“ vom 30. Oktober bis zum 07. November an. Mehrere russische Regionen haben laut einem RND-Bericht die Phase der „arbeitsfreien Tage“ um eine weitere Woche verlängert. In Moskau ist das jedoch nicht vorgesehen. Die Wachstumserwartungen für Russland liegen jetzt mit wenigen Ausnahmen zwischen + 4,0 und + 4,5 Prozent.

Wie sich Russlands Wirtschaftsbereiche bisher vom Corona-Einbruch erholten

Die Research-Abteilung der Sberbank illustrierte in der letzten Woche mit zwei Abbildungen die Entwicklung der Produktion in der Industrie, in der Bauwirtschaft, im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich vom Dezember 2019 bis zum September 2021. Sie lassen erkennen, wie schnell sich diese Wirtschaftsbereiche vom Rückschlag im Lockdown im Frühjahr 2020 erholt haben.

Die folgende Abbildung zeigt die saisonbereinigte Entwicklung der Produktion in der Bauwirtschaft (schwarze Linie) sowie in den beiden größten Bereichen innerhalb der Industrie, Im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (gelbe Linie) und im „Verarbeitenden Gewerbe“ (grüne Linie).

Starker Anstieg der Produktion im Bergbau und Rückgang der Bauproduktion im September (Dezember 2019=100; saisonbereinigt)

Sberbank: Global Economic News“; 01.11.2021

Der Rohstoff-Bereich trieb 2021 das Wachstum der Industrie

Insgesamt stieg die Industrieproduktion nach den ersten Berechnungen der Sberbank im September gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt um 1,3 Prozent. Wichtigster Faktor dafür war der starke Anstieg der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 4,3 Prozent gegenüber August (gelbe Linie). Nach ihrem tiefen Einbruch im Frühjahr 2020 hat die Produktion der Rohstoff-Branche jetzt wieder das Niveau vom Dezember 2019 erreicht.

Im „Verarbeitenden Gewerbe“ (grüne Linie) war das schon Mitte 2020 gelungen. Seither ist die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes aber nur noch schwach gestiegen. Seit dem Frühjahr 2021 stagniert sie mit relativ geringen Schwankungen fast. Die Bauproduktion, die bis zum Juli 2021 kräftig gestiegen war, sank im August und September (schwarze Linie). Im September ging sie gegenüber dem Vormonat um 2,7 Prozent zurück, im August um 3,5 Prozent.
Die Produktion der Landwirtschaft, die im August besonders stark um 11,9 Prozent gesunken war, konnte diesen Rückgang im September laut den Sberbank-Berechnungen mit einem Anstieg um 4,9 Prozent knapp zur Hälfte aufholen.

Der Einzelhandel erholte sich schneller als der Dienstleistungsbereich

Die folgende Abbildung zeigt die reale Entwicklung der Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich seit Dezember 2019. Der reale Einzelhandelsumsatz (grüne Linie) brach im Lockdown im Frühjahr 2020 längst nicht so stark ein wie der reale Dienstleistungsumsatz (schwarze Linie). Der Einzelhandel erholte sich schneller als der Dienstleistungsbereich.
Anfang 2021 war der Einzelhandelsumsatz real bereits etwas höher als Ende 2019. Seit dem Frühjahr 2021 stagniert er aber mit kleinen Schwankungen annähernd. Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich hat erst im Frühjahr 2021 das „Vorkrisen-Niveau“ vom Dezember 2019 wieder erreicht und stagnierte dann einige Monate fast. Im August und September 2021 erhöhte sich der Umsatz im Dienstleistungsbereich jedoch kräftig.

Der Dienstleistungsbereich wuchs im August und September kräftig (Dezember 2019=100; saisonbereinigt)

Sberbank: Global Economic News“; 01.11.2021

Im Vergleich September 2021 zu Dezember 2019 sind die realen Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich etwa gleich stark gestiegen. Der Nachfrageschub bei den Dienstleistungen im dritten Quartal 2021 wurde vom Anstieg der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung gestützt. Sie wuchsen laut Sberbank einschließlich der Einmal-Zahlungen um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal.

Auch die EBRD erwartet für 2021 jetzt 4,3 Prozent Wirtschaftswachstum

„Schrittmacher“ für den bisherigen Anstieg der Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft waren in diesem Jahr die russische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds. Schon am 24. Juli hob die Zentralbank ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 3,0 bis 4,0 Prozent auf 4,0 bis 4,5 Prozent an. 3 Tage später erhöhte der  Internationale Währungsfonds  im „World Econmic Outlook“ seine Wachstumsprognose für Russland auf 4,4 Prozent.

Damit waren die Prognosen der Zentralbank und des IWF Ende Juli noch ziemlich „einsame Spitze“. Inzwischen liegt die große Mehrheit der Wachstumsprognosen von Forschungsinstituten und Banken aber ebenfalls zwischen 4 und 4,5 Prozent.

Auch die Londoner Entwicklungsbank EBRD („European Bank for Reconstruction and Development“) erhöhte in ihrem Bericht „Regional Economic Prospects“ jetzt ihre Russland-Prognose auf 4,3 Prozent. Ende Juni rechnete sie noch mit lediglich 3,3 Prozent.

In der Anfang November veröffentlichten Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics bei Banken und Forschungsinstuten stieg die durchschnittliche Wachstumsprognose auf 4,2 Prozent.

Die Rating Agentur Moody*s erhöhte ihre Wachstumsprognose für Russland am 05. November sogar auf 4,8 Prozent. Sie senkte aber gleichzeitig ihre Wachsumserwartung für 2022 auf 2,2 Prozent. Der IWF rechnet nach einem Wachstum um 4,7 Prozent im Jahr 2021 im nächsten Jahr nur mit einer Abschwächung auf 2,9 Prozent.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 202120222023
Moody’s05.11.214,82,21,5
ING Bank, Amsterdam05.11.214,32,23,0
EBRD, London04.11.214,33,0
FocusEconomics Consensus02.11.214,22,62,2
Reuters-Umfrage29.10.214,4
Sberbank, Moskau28.10.214,4
Russische Zentralbank22.10.214,0 bis 4,5

Urals 70 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 65 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 55 $/b

wiiw Wien20.10.214,03,02,8
Economist Intelligence Unit, London19.10.213,82,73,0
Russian Academy or Sciences19.10.214,1
Zentralbank-Umfrage14.10.214,32,42,2
Vnesheconombank Institute14.10.214,4

Urals 67 $/b

2,4

Urals 60 $/b

Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute14.10.214,53,22,1
OPEC, Wien13.10.214,02,7
CMASF, Moskau13.10.214,0-4,31,7-2,02,0-2,4
Internationaler Währungsfonds12.10.214,72,92,0
DekaBank, Frankfurt08.10.214,52,2
Interfax Consensus Forecast06.10.214,42,5
Weltbank05.10.214,32,81,8
IHS Markit05.10.214,3
Russisches Wirtschaftsministerium30.09.214,2

Urals 66,0 $/b

3,0

Urals 62,2 $/b

3,0

Urals 58,4 $/b

Die EBRD erwartet nach einer „breit basierten Erholung“ auch 2022 ein relativ starkes Wachstum der russischen Wirtschaft

Die EBRD stellt in ihrer Analyse der diesjährigen Konjunkturentwicklung in Russland folgende Trends heraus:

Eine „breit basierte Erholung“ ließ die gesamtwirtschaftliche Produktion bereits im zweiten Quartal 2021 auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehren.

Starke Wachstumsimpulse kamen vom Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“. Auch die realen Einzelhandelsumsätze erholten sich nach der Lockerung der virusbedingten Beschränkungen des Geschäftsbetriebes schnell. Die Erholung des Arbeitsmarktes und das schnelle Wachstum der Konsumentenkredite trugen dazu bei.

Zu Beginn des dritten Quartals gab es zwar einige Anzeichen für eine Verlangsamung der Produktion im Sektor „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“. Die vereinbarten höheren OPEC+-Ölförderquoten dürften die Produktion in diesem Bereich aber in den kommenden Monaten stützen.

Die Entwicklung der Einzelhandelsumsätze blieb „robust“. Vor den DUMA-Wahlen im September wurden von der Regierung gezielt konsumstützende Sozialleistungen gewährt. Begünstigt wurden vor allem Verbrauchergruppen mit hoher Konsumquote, insbesondere Familien mit Kindern, Rentner und Beschäftigte beim Militär.

Die Regierung beschloss Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher vor den Folgen der beschleunigten Inflation (Die jährliche Inflationsrate erreichte im September 2021 ein 5-Jahreshoch von 7,4 Prozent und beschleunigte sich im Oktober weiter auf 8,1 Prozent). Zu diesen Maßnahmen gehören Preisobergrenzen für Lebensmittel und die Beschränkung von Ausfuhren. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins seit März 2021 um 350 Basispunkte auf 7,5 Prozent.

Getrieben wurde die Inflation zu einem großen Teil durch höhere Nahrungsmittelpreise und Versorgungsengpässe in den Lieferketten. Als Gründe für die beschleunigte Inflation sieht die Zentralbank zu einem gewissen Grad aber auch die rasche Erholung der Binnennachfrage (nicht zuletzt im Zusammenhang mit den zusätzlichen Sozialleistungen) und die steigenden Inflationserwartungen der Verbraucher und Unternehmen.

Die solide Lage der öffentlichen Finanzen stützt Russlands konjunkturelle Entwicklung. Die staatlichen Öl-Einnahmen sind aufgrund der hohen Ölpreise gestiegen. Die übrigen Einnahmen dürften durch Steuererhöhungen für Unternehmen gesteigert werden, auch weil hohe Gewinne aufgrund steigender Rohstoffpreise bei Exporteuren besteuert werden.

Die EBRD prognostiziert, dass das Bruttoinlandsprdukt 2021 um 4,3 Prozent und 2022 um 3,0 Prozent wachsen wird, unterstützt durch öffentliche Ausgabenprogramme, die durch höhere Rohstoffeinnahmen ermöglicht werden. Als „Abwärtsrisiken“ für diese Prognose verweist die EBRD auf „geopolitische Spannungen“, insbesondere das Risiko weiterer Sanktionen, sowie die hohe Volatilität der Öl- und Gaspreise.

IHS Markit-Umfrage signalisiert abnehmende Geschäftsaktivitäten

Ein Hinweis auf eine Verunsicherung der Unternehmen durch die steigenden Infektionszahlen und zunehmende Auflagen der Behörden zur Eindämmung der Pandemie sind die Ergebnisse der jüngsten „Einkaufsmanager-Umfragen“ von IHS Markit. Bei der Umfrage im Dienstleistungsbereich, der im Lockdown im Frühjahr 2020 besonders starke Produktionseinbußen verzeichnete, ergab sich ein deutlicher Rückgang.

Der Anfang November veröffentlichte Einkaufsmanagerindex im Verarbeienden Gewerbe erholte sich jedoch kräftig. Der Index stieg von 49,8 Punkten auf 51,6 Punkte. Die Befragungen der Unternehmen dazu fanden aber bereits im Zeitraum vom 12. – 25. Oktober statt, also hauptsächlich noch vor der Anordnung „arbeitsfreier Tage“ durch Präsident Putin am 20. Oktober.

Bei der Umfrage in den Unternehmen des Dienstleistungsbereichs, die vom 12 bis zum 27. Oktober durchgeführt wurde, ergab sich ein Rückgang des Indexes unter die „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten. Der Index sank von 50,5 Punkten im September auf 48,8 Punkte im Oktober. Das war der stärkste Rückgang seit Dezember 2020.

Auch der „kombinierte“ Index von Unternehmen des „verarbeitenden Gewerbes“ und des Dienstleistungsbereichs sank unter die „Wachstumsschwelle“. Er ging von 50,5 Punkten auf 49,5 Punkte zurück, was IHS Markit als Signal für einen Rückgang der Aktivitäten im Bereich der privaten Unternehmen deutet.

Russland PMI Output Index

Kombinierter Index für das Verarbeitenden Gewerbe und den Dienstleistungsbereich;

saisonbereingt; Index über 50: Wachstum gegenüber dem Vormonat

IHS Markit: Russia Services PMI: Fastest contraction in business activity for ten months in October; 03.11.2021

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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