Neue Wirtschaftsprognosen für Mittel-, Ost- und Südosteuropa

WIIW: 2021 kräftige Produktionserholung – aber auch viel mehr Inflation

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, wiiw, erhöhte am Mittwoch seine Prognose für das diesjährige Wachstum der Wirtschaft in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (MOSOEL) um 1,2 Prozentpunkte auf 5,4 Prozent. Dabei hob es seine Wachstumsprognose für Russland um 0,5 Prozentpunkte auf 4,0 Prozent an.

Gleichzeitig stellt das Institut fest, dass auch in den MOSOE-Ländern die Inflation stark anzieht. In den meisten Ländern sei der Anstieg der Verbraucherpreise inzwischen um 3 bis 4 Prozentpunkte höher als zu Beginn des Jahres. Im Jahresdurchschnitt 2021 erwartet das wiiw für die Region einen Anstieg der Inflationsrate auf 8,0 Prozent (2020: 5,1 Prozent). Viele Notenbanken haben mit Zinserhöhungen reagiert. So auch die russische Zentralbank. Sie erhöhte am Freitag den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 7,5 Prozent. Die Zentralbank erwartet jetzt, dass die jährliche Inflationsrate im Dezember 7,4 bis 7,9 Prozent beträgt. Mitte Oktober hatte der Preisanstieg bereits 7,8 Prozent erreicht. Ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft beließ die Zentralbank bei 4,0 bis 4,5 Prozent.

WIIW: Mittel-, Ost- und Südosteuropa wächst stärker als die Eurozone

Das wiiw erwartet in seiner „Herbstprognose“ vom 20. Oktober in der MOSOE-Ländern (23 Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, einschl. der Türkei und Kasachstan) in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 5,4 Prozent. Damit dürfte die Region 2021 laut wiiw deutlich stärker wachsen als die Eurozone (+ 4,8 Prozent).

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, wiiw: Herbstprognose für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas (MOSOEL): Erholung übertrifft die Erwartungen; 20.10.2021

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche: wiiw-Ländergruppen

2022 rechnet das wiiw mit einer „milden Abschwächung“ des Wachstums in den Ländern der MOSOEL-Region auf 3,7 Prozent. Als einen Grund nannte Richard Grieveson, Stellvertretender Direktor des wiiw, in der Pressekonferenz des Instituts die Straffung der Geldpolitik. Die „Abwärtsrisiken“ für das Wirtschaftswächstum hätten zugenommen. Die Pandemie-Lage habe sich deutlich verschlechtert.

Risiken berge auch eine „überhastete“ Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Das berichtet Intellinews. Eine Zusammenfassung der „Herbstprognose“ des wiiw mit Hinweisen zur Entwicklung in den einzelnen Ländern bietet die zum Download kostenfrei verfügbare  „Excecutive Summary“ aus dem Bericht „Recovery Beating Expectations“ des wiiw. Über die Konjunkturentwicklung in den einzelnen Ländern informiert das Institut auch auf seiner Internet-Seite „Countries Overview“.

wiiw: Die Lockerung der COVID-Restriktionen treibt die Prognosen nach oben

Grieveson meinte, der wichtigste Grund für die Anhebung der Wachstumsprognose für die MOSOEL-Region von 4,2 auf 5,4 Prozent für das Jahr 2021 sei, dass die COVID-Restriktionen dort jetzt viel lockerer seien als in Westeuropa. Zu Beginn der derzeitigen „vierten Welle“ sei Lettland bisher das einzige Land in der Region, das wieder einen „Lockdown“ angeordnet habe.

Das wiiw konstatiert eine „abnehmende Bereitschaft“ der Regierungen der Region, die COVID-Beschränkungen aufrecht zu erhalten. Dazu veröffentlichte es folgende Abbildung. Sie zeigt, dass die Werte für den von der Blavatnik School of Government der Universität Oxford ermittelten „Stringenzindex“ in fast allen Ländern im Verlauf des Jahres 2021 von Quartal zu Quartal gesunken sind. Nur der Stringenzindex für Russland (RU) war im dritten Quartal 2021 etwas höher als im zweiten Quartal.

In fast allen MOSOEL-Ländern war der Stringenzindex im dritten Quartal deutlich niedriger als in Deutschland, Italien und Österreich.  

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, wiiw: Herbstprognose für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas (MOSOEL): Erholung übertrifft die Erwartungen; 20.10.2021

Der auf der Internet-Seite „Our World in Data“ mögliche Vergleich der Stringenzindizes für Russland und Deutschland zeigt jedoch, dass sich die Indizes für die beiden Länder im Verlauf des dritten Quartals stark genähert haben. Im August und September wurden die Restriktionen in Deutschland gelockert, in Russland verschärft. Mitte Oktober waren die Indizes in beiden Ländern fast gleich hoch.

Russlands Regierung rechnet mit kaum mehr Wachstum als das wiiw

Seine Prognose für das diesjährige Wirtschaftswachstum in Russland hob das wiiw gegenüber seiner „Sommerprognose“ vom 07. Juli von 3,5 auf 4,0 Prozent an. Damit rechnet das wiiw in Russland in diesem Jahr mit weniger Wachstum als die Weltbank (+ 4,3 Prozent), als die „Gemeinschaftsdiagnose“ der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute (+ 4,5 Prozent) und als der Internationale Währungsfonds (+ 4,7 Prozent).

Die wiiw-Prognose ist aber kaum niedriger als die von der russischen Regierung für 2021 erwartete Wachstumsrate. Wirtschaftsminister Reschetnikow bekräftigte laut Interfax am 18. Oktober im Haushaltsausschuss der Duma, dass er einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4,2 Prozent für realistisch hält. Interfax berichtet, der Minister habe darauf verwiesen, dass die Wirtschaftsaktivität in den beiden letzten Monaten abgenommen habe. Die Phase der wirtschaftlichen Erholung sei abgeschlossen. Zudem habe sich die epidemiologische Lage verschlechtert. Mit einer höheren Wachstumsrate könne man kaum rechnen.

In der letzten Woche wurden in Russland zudem strengere Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie angeordnet (siehe AHK Russland: Corona-Liveticker). Die Moscow Times berichtete am Freitag, dass die Zahl der in Russland in den letzten 24 Stunden an COVID-19 Verstorbenen (1.064) und die Zahl der Infizierten (37.141) auf neue Höchststände gestiegen sei.

Präsident Putin kündigte an, dass der Zeitraum 30. Oktober bis 07. November „arbeitsfrei“ sein soll. Die Stadtverwaltung Moskau verschärfte die „Corona-Regeln“. Analysten von Sova Capital schätzen, dass allein die jüngsten Restriktionen in Moskau und der Region Moskau Russlands Wirtschaftswachstum um bis zu 0,3 Prozentpunkte drücken könnten, so „The Bell“.

Bisher kam Russlands Wirtschaft überdurchschnittlich gut durch die Krise

Das wiiw vergleicht in der Präsentation zu seiner „Herbstprognose“, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktion in den Ländern der MOSOEL-Region seit dem zweiten Quartal 2019 entwickelt hat. Wie weit haben sich die Länder vom Rückgang der Produktion im „Corona-Krisenjahr“ 2020 erholt?

Die folgende Abbildung zeigt: Im Durchschnitt übertraf das Bruttoinlandsprodukt in den Ländern der Region bereits im zweiten Quartal 2021 das jeweilige „Vorkrisenniveau“ vom zweiten Quartal 2019 knapp.

Das Wachstum der russischen Wirtschaft (RU) gegenüber dem zweiten Quartal 2019 war etwas stärker als das durchschnittliche Wachstum in den Ländern der Region. Etwas stärker als Russland wuchs die Wirtschaft in Polen (PL) und Ungarn (HU), etwas schwächer in Rumänien (RO) und Lettland (LV).

Den größten Aufholbedarf hat im Vergleich des zweiten Quartals 2021 mit dem zweiten Quartal 2019 die Wirtschaft der Ukraine (UA).

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, wiiw: Herbstprognose für die Länder Mittel-,Ost- und Südosteuropas (MOSOEL): Erholung übertrifft die Erwartungen; 20.10.2021

Langfristig rechnet das wiiw wie der IWF mit wenig Wachstum in Russland

Laut Intellinews meinte Richard Grieveson in der Pressekonferenz jedoch, dass Russland in den letzten fünf Jahren die „mehr oder weniger am langsamsten wachsende Volkswirtschaft in der Region“ war. In den nächsten Jahren werde es zu dieser schwachen Leistung zurückkehren.

Verantwortlich für die schlechten langfristigen Wachstumsaussichten Russlands seien die ungünstigen Rahmenbedingungen für die Unternehmen und die straffe Fiskalpolitik der Regierung. Sie sei darauf ausgerichtet, Schulden bei westlichen Kreditgebern zu vermeiden. Der „Stabilität“ werde gegenüber dem Wachstum der Wirtschaft Vorrang gegeben.

2022 erwartet das wiiw in seiner Herbstprognose wie die russische Regierung aber lediglich einen Rückgang der Wachstumsrate auf 3,0 Prozent, während viele andere mit einer deutlich stärkeren Abschwächung des Wachstums in Russland rechnen (Zentralbank-Umfrage: Rückgang des Wachstums auf + 2,4 Prozent).

Auch 2023 erwartet das wiiw in Russland noch ein Wachstum von + 2,8 Prozent (Zentralbank-Umfrage: Rückgang auf + 2,2 Prozent).

Auf noch längere Sicht bis 2026 traut auch der Internationale Währungsfonds Russland vor allem im Vergleich mit der Ukraine, Polen, Kasachsten, China und der Gruppe der „Emerging Markets“ nur wenig Wirtschaftswachstum zu wie folgende Tabelle der GTAI zeigt.

IWF-Prognosen: Bruttoinlandsprodukt zu konstanten Preisen;
Wachstum gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Gerit Schulze; GTAI Moskau: Tweet vom 13.10.2021

Russlands Zentralbank bleibt bei ihrer Wachstumsprognose von 4 bis 4,5 Prozent

Die russische Zentralbank blieb anlässlich ihrer Leitzinsentscheidung am 22. Oktober bei der Aktualisierung ihrer mittelfristigen Prognose bei der Einschätzung, dass Russlands Wirtschaft 2021 um 4,0 bis 4,5 Prozent wachsen wird. In den folgenden drei Jahren erwartet die Zentralbank weiterhin ein Wachstum von jährlich 2,0 bis 3,0 Prozent. Die Prognosen in der Haushaltsplanung der Regierung gehen für 2022 bis 2024 von einem jährlichen Wachstum von 3,0 Prozent aus.

Wachstumstreiber ist nach Einschätzung der Zentralbank vor allem der Verbrauch der privaten Haushalte, der 2021 um 9 bis 10 Prozent steigen dürfte. Die Bruttoanlageinvestitionen werden laut Zentralbank um 5,4 bis 7,4 Prozent wachsen.

Anlass für eine Senkung ihrer Wachstumsprognosen wegen der neuen Corona-Infektionswelle sieht die Zentralbank offenbar nicht. Sie weist aber darauf hin, dass die Erholung des Dienstleistungssektors durch die Infektionsentwicklung behindert werde. Zudem hätten auch in Russland viele Branchen derzeit mit Beschaffungsproblemen zu kämpfen. Bei einer Verschärfung der Restriktionen zur Verringerung der Infektionen könnten sich die wachstumsdämpfenden Effekte der Schwierigkeiten auf der Einkaufsseite verstärken. Das berichtet die Moscow Times.

Starke Leitzinserhöhung auf 7,5 Prozent

Am 22. Oktober hob die Zentralbank den Leitzins unerwartet stark um 0,75 Prozentpunkte auf 7,50 Prozent an (siehe rote Linie in der folgenden Abbildung) Zentralbankpräsidentin Nabiullina begründete die Entscheidung nicht nur mit dem beschleunigten Inflationstempo. In der Woche bis zum 18. Oktober hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise auf 7,8 Prozent verschärft (siehe graue Fläche).

Nabiullina verwies auch auf die weiter steigenden Inflationserwartungen. So rechneten die privaten Haushalte zuletzt damit, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise in den nächsten 12 Monaten auf 13,6 Prozent verstärkt (blaue Linie).

So hoch waren der Anstieg der Verbraucherpreise und die Inflationserwartungen der privaten Haushalte seit rund 5 bis 6 Jahren nicht mehr wie die folgende Abbildung der ING Bank zeigt.

Bank of Russia raises rates,
as CPI and households’ inflationary expectations touch 5-6 year highs

Dmitry Dolgin; ING Bank: Russian key rate up 75bp and the cycle is not over; 22.10.2021

Die Inflationsprognose der Zentralbank ist deutlich erhöht worden

Von den COVID-Restriktionen erwartet die russische Zentralbank inzwischen preistreibende Effekte. Das berichtet „The Bell“ von der Pressekonferenz von Zentralbankpräsidentin Nabiullina zur Leitzinserhöhung. Nabiullina sagte in ihrem Statement, die Erfahrungen während der Pandemie-Wellen hätten gezeigt, dass die Nachfrage der Verbraucher durch COVID-Restriktionen immer weniger gedämpft werde. Das Angebot der Unternehmen gehe jedoch zurück, wenn sie gezwungen würden, ihre Aktivitäten einzuschränken.

Die Zentralbank erwartet in ihrer mittelfristigen Prognose jetzt, das die jährliche Inflationsrate am Jahresende 2021 nicht nur wie im Juli prognostiziert 5,7 bis 6,2 Prozent erreicht, sondern 7,4 bis 7,9 Prozent (siehe erste Zeile der folgenden Tabelle).

Im Jahresvergleich 2021/2020 rechnet die CBR jetzt mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um 6,5 bis 6,6 Prozent (s. zweite Zeile). Im Jahresdurchschnitt 2020 war die Inflationsrate mit 3,4 Prozent nur rund halb so hoch.

Auch ihre Prognose für den Preisanstieg im Jahresdurchschnitt 2022 hob die Zentralbank an. Bisher rechnete sie mit einem Rückgang der Inflationsrate auf 4,1 bis 4,9 Prozent. Jetzt erwartet sie im nächsten Jahr im Jahresdurchschnitt einen Preisanstieg von 5,2 bis 6,0 Prozent. Am Jahresende 2022 soll die Inflationsrate aber wie schon bisher erwartet auf 4,0 bis 4,5 Prozent zurückgehen.

Zentralbank: Medium-term forecast; 22.10.2021

Das wiiw erwartet 2021 eine etwas geringere Beschleunigung des Preisanstiegs als die Zentralbank. Es rechnet damit, dass die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt auf 6,2 Prozent steigt. Im nächsten Jahr werde sie sich aber bereits wieder auf 4,4 Prozent verringern und 2024 auf 3,2 Prozent sinken (siehe „Country overview Russia“ des wiiw).

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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