Wie schnell erholen sich Produktion und Investitionen in Russland?

Auch die BIP-Prognosen deutscher Institute klaffen noch weit auseinander

Momentan spricht fast alles für ein „moderates Wachstum“ der russischen Wirtschaft. Das meint das Konjunkturforschungsinstitut der Moskauer „Higher School of Economics“ zu den Ergebnissen seiner jüngsten monatlichen Berechnung von Konjunkturindikatoren. Wieviel Prozent dieses „moderate“ Wachstum 2021 erreichen dürfte, prognostiziert das HSE-Institut aber nicht. Ob es ausreichen wird, den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,0 Prozent vom Jahr 2020 schon in diesem Jahr aufzuholen? Darüber sind sich auch die deutschen Konjunkturforschungsinstitute in ihren „Sommerprognosen“ keineswegs einig.

Rosstat veröffentlichte bisher Daten für das BIP im ersten Quartal 2021

Neue „amtliche“ Daten für die Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts legte die Statistikbehörde Rosstat Mitte Juni für das erste Quartal vor. Es veröffentlichte in seinem Bericht auch eine Abbildung zur vierteljährlichen saisonbereinigten Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion. An solchen Darstellungen der Produktion, bei denen saisonbedingte Produktionsveränderungen berücksichtigt werden, lässt sich am besten ablesen, wo die Konjunktur aktuell steht.

Die Rosstat-Abbildung vermittelt jedoch ein deutlich anderes Bild der Produktionsentwicklung als in der letzten Woche veröffentlichte Abbildungen der Moskauer „Higher School of Economics, HSE“ und der „Economic Expert Group“. Die HSE weist auch darauf hin, dass sie andere Verfahren bei der Saisonbereinigung als Rosstat verwendet.

Im ersten Quartal 2021 war das BIP nur noch 0,7 Prozent niedriger als 2020

Mitte Mai hatte Rosstat in einer „vorläufigen Schätzung“ den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal 2021 im Vergleich gegenüber dem ersten Quartal 2020 zunächst auf 1,0 Prozent veranschlagt. Am 15. Juni veröffentlichte das Statistikamt seine „erste Schätzung“ mit Angaben zur Entwicklung der Produktion wichtiger Wirtschaftsbereiche. Danach war die gesamtwirtschaftliche Produktion im ersten Quartal nur 0,7 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.

Viele Industriebranchen schon im Produktionsplus

Rosstat veröffentlichte auch erste Ergebnisse zur Entwicklung der Produktion nach Herstellungsbereichen im ersten Quartal.

In der Industrie war vor dem Hintergrund einer weltweit geringen Nachfrage nach Energie im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ ein anhaltender Produktionsrückgang zu beobachten (- 7,4 %). Das „Verarbeitende Gewerbe“ verzeichnete hingegen einen leichten Anstieg (+ 0,6 %). Kräftige Zuwächse gab es bei den Unternehmen zur Versorgung mit Strom, Gas und Dampf (+ 9,0 %) sowie im Bereich „Versorgung mit Wasser; Entsorgung“ (+ 13,0 %).

Geringfügig gestiegen ist die Produktion in der Bauwirtschaft (+ 0,1%).

Deutliche Zuwächse gab es im Bereich „Information und Kommunikation“ (+ 4,5%) und im Finanz- und Versicherungsbereich (+ 6,7 %). Während der Groß- und Einzelhandel im ersten Quartal bereits einen leichten Zuwachs verzeichnete (+ 0,7 %) gab es in vielen Dienstleistungsbranchen noch Rückgänge der Produktion: – Hotels und Restaurants (-7,5 %); – Kultur- und Sporteinrichtungen (-4,1 %); – Transportunternehmen (-3,2 %)

Wo Rosstat das saisonbereinigte BIP im ersten Quartal ortet

Zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion veröffentlichte Rosstat folgende Abbildung. Darin zeigt die blaue Linie die Entwicklung des unbereinigten Bruttoinlandsprodukts (2016=100). Erkennbar ist, dass das unbereinigte BIP im ersten Quartal 2021 etwas niedriger war als ein Jahr zuvor.

Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts durchschnittlicher Quartalswert des Jahres 2016 = 100

Rosstat: On the production of the gross domestic product in the first quarter of 2021; 15.06.2021; Chart-Adresse

Das saisonbereinigte BIP sank schon seit dem dritten Quartal 2019

Der Verlauf der orangefarbenen Linie zeigt in der Rosstat-Abbildung die saisonbereinigte Entwicklung des BIP. Er lässt erkennen, dass Russlands BIP nicht erst mit dem Lockdown im zweiten Quartal 2020 gesunken ist. Schon im dritten Quartal 2019 begann der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorquartal. Bis zum zweiten Quartal 2020 ist das saisonbereinigte BIP (2016=100) laut der Rosstat-Abbildung von rund 107,5 Indexpunkten auf rund 103 Indexpunkte gesunken, also um rund 4 Prozent. Auf diesem Niveau hat die Produktion laut der Rosstat-Abbildung seitdem annähernd stagniert.

Russische Forschungsinstitute errechnen deutlich stärkere Veränderungen des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts als Rosstat

Der Rückgang der saisonbereinigten gesamtwirtschaftlichen Produktion vom dritten Quartal 2019 bis zum Lockdown im zweiten Quartal 2020 wird von Rosstat deutlich niedriger veranschlagt als von führenden russischen Forschungsinstituten. Laut der folgenden Abbildung aus dem am Freitag veröffentlichten Monatsbericht der „Economic Expert Group“ sank das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt im Lockdown im Frühjahr 2020 bis auf 155 Indexpunkte (dunkelblaue Linie). Gegenüber dem im Herbst 2019 erreichten Höchststand (178 Indexpunkte) war das ein Rückgang um fast 13 Prozent.

Der von der „Economic Expert Group“ berechnete saisonbereinigte Produktionsindex der Basis-Industrien (hellblaue Linie) fiel seit dem Herbst 2019 ähnlich stark wie das saisonbereinigte BIP. Zuletzt erreichte er aber wieder seinen Höchststand vom Herbst 2019 (176 Indexpunkte).

Auch das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt (dunkelblaue Linie) hat laut der der „Economic Expert Group“ zwischenzeitlich seinen alten Höchststand von 178 Indexpunkten fast wieder erreicht, fiel zuletzt aber wieder auf rund 172 Indexpunkte zurück.

Saisonbereinigtes Bruttoinlandsprodukt und Produktionsindex der Basis-Industrien (Januar 2003=100)

Economic Expert Group: Economic Review – 6/2021; Seite 13; 19.06..2021

HSE vergleicht die langfristige Entwicklung von BIP und Investitionen

Die Konjunkturforschungsabteilung der Moskauer „Higher School of Economics“ vermittelt ein ähnliches Bild von der saisonbereinigten Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts wie die „Economic Expert Group“. Das HSE Institut vergleicht in einem langfristigen Rückblick bis Anfang 2007 die saisonbereinigte Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Anlageinvestitionen.

Auch laut den Berechnungen des HSE-Instituts hat das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt (rote Linie) seinen Rückgang seit Herbst 2019 noch nicht völlig aufgeholt.

Die Anlageinvestitionen (blaue Linie) waren insbesondere in der Krise 2014/2015 tief eingebrochen. Sie haben zuletzt zwar fast wieder den Mitte 2019 erreichten Stand erreicht, sind aber noch merklich niedriger als 2013.

Reale saisonbereinigte Entwicklung des BIP und der Anlageinvestitionen vom 1. Quartal. 2007 bis zum 1. Quartal. 2021

Erstes Vierteljahr 2007 = 100 (linke Achse)

Quelle: Valery Mironov; Higher School of Economics: Investments in 2021: positive dynamics, but sluggish; 18.06.2021

Die Säulen in der Abbildung zeigen die Veränderungsraten von Bruttoinlandsprodukt (rote Säulen) und Anlageinvestitionen (blaue Säulen) gegenüber dem Vorquartal in Prozent (rechte Skala).

Professor Rochlitz: Die Regierung hat keine Wachstumsstrategie

Die HSE-Abbildung macht auch deutlich, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt aktuell kaum höher ist als 2013. Michael Rochlitz, Professor für Institutionenökonomik an der Universität Bremen, meint zur Stagnation der russischen Wirtschaftsleistung in seinem Kommentar „Die wirtschaftlichen Folgen autoritärer Politik“ in den Russland-Analysen vom 08.06.2021: „Das Problem liegt hierbei nicht so sehr beim Einbruch des Ölpreises seit Mitte 2014, sondern vielmehr beim völligen Mangel einer Strategie seitens der russischen Regierung. … Die Schwäche der russischen Regierung beruht zumindest teilweise auf einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der herrschenden Elite. Während unter Präsident Medwedjew vor allem wirtschaftsliberale Technokrat:innen das Sagen hatten, sitzen seit 2012 hauptsächlich Mitglieder der Sicherheitsdienste an den Schalthebeln der Macht. Diesen sogenannten Silowiki ist entweder die wirtschaftliche Entwicklung des Landes weniger wichtig als andere Ziele, oder sie verstehen nicht, wie sich Kontrolle und Repression auf die Entwicklung einer modernen Volkswirtschaft auswirken, oder beides. Leider hat sich diese Situation in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Seit etwa 2018 werden nicht nur Firmen und Unternehmen wieder vermehrt von staatlichen Aufsichtsbehörden und Sicherheitsdiensten angegriffen und unter Druck gesetzt, sondern zunehmend auch Forschung und Wissenschaft. Da Innovationen ein entscheidender Input für die notwendige Diversifikation der russischen Wirtschaft sind, sind die längerfristigen Auswirkungen dieser Entwicklung fatal.“

HSE-Konjunkturindikatoren stimmen kurzfristig optimistisch

Die vom Konjunkturforschungsinstitut der HSE monatlich berechneten „Indikatoren“ für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung lassen nach Einschätzung des Instituts derzeit „das Szenario eines moderaten Wachstums fast als das einzig mögliche“ für die russische Wirtschaft erscheinen.

Der Optimismus überwiege aktuell, heißt es in der Analyse des HSE-Instituts. Es verweist auf wachsende Aufträge für die Unternehmen. Die Ölpreise seien gestiegen. Der RTS-Aktienindex habe sich erhöht. Zudem sei die Wettbewerbsfähigkeit russischer Exporte gestiegen, weil sich der reale effektive Wechselkurs des Rubels abgeschwächt habe.

Eines der wichtigsten Anzeichen für die Erholung von der Rezession sei die gestiegene Nachfrage nach langlebigen Gebrauchsgütern. So sei zum Beispiel der Import von Personenkraftwagen im April um den Faktor 2,5 gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Auch die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen sei weiter gesunken, aber immer noch doppelt so hoch wie vor der Corona-Krise.

Die Wachstumsprognosen der deutschen Institute klaffen weit auseinander

Wie stark sich die russische Wirtschaft im Jahr 2021 erholen wird, ist aber weiterhin sehr umstritten. Das zeigen auch die in der letzten Woche veröffentlichten „Sommerprognosen“ der führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute. Ihre Tabellen zur weltwirtschaftlichen Entwicklung enthalten auch Prognosen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. Die aktuellen Einschätzungen der Institute zum Wirtschaftswachstum in Russland im laufenden Jahr reichen von 2,6 Prozent bis 4,2 Prozent.

Das Berliner „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW“ nahm seine vor rund drei Monaten veröffentlichte Prognose für Russlands diesjähriges Wachstum von 2,9 Prozent auf 2,6 Prozent zurück. Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft erwartet in Russland in diesem Jahr nur eine relativ schwache Erholung. Es senkte seine Prognose von 2,8 auf 2,7 Prozent.

Das Münchner ifo Institut hob hingegen seine Prognose vom Frühjahr von 2,3 Prozent sehr stark an. Es geht jetzt davon aus, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 4,2 Prozent wächst und im nächsten Jahr kräftig weiter um 3,5 Prozent steigt.

Ganz so stark sieht das Institut für Wirtschaftsforschung Halle Russlands Wirtschaft nicht wachsen. Das IWH hob seine Wachstumsprognose für 2021 von 3,3 auf 3,5 Prozent an. Diese Prognose entspricht dem Mittelwert der Anfang Juni von der russischen Zentralbank veröffentlichten Umfrage. 2022 wird sich das Wachstum laut IWH auf 3,0 Prozent abschwächen (Zentralbank-Umfrage: + 2,4 Prozent). Deutlich unter der IWH-Prognose für 2022 bleiben die Erwartungen der Institute in Berlin und Kiel. Das DIW meint, Russlands Wachstum werde 2022 einen BIP-Anstieg um 2,7 Prozent erreichen. Das ifW rechnet 2022 mit einer Abschwächung des Wachstums auf nur noch 2,3 Prozent (2021: 2,7 Prozent).

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202120222023
Helaba, Frankfurt18.06.213,02,0 
Commerzbank, Frankfurt18.06.213,72,5 
ifW Kiel17.06.212,72,3 
DIW Berlin17.06.212,62,7 
Ifo Institut München16.06.214,23,5 
IWH Halle15.06.213,53,0 
Fitch Ratings16.06.213,72,72,0
Economist Intelligence Unit, London15.06.213,22,31,7
ING Bank, Amsterdam11.06.212,52,23,0
RF Akademie der Wissenschaften10.06.213,43,02,7
OPEC, Wien10.06.213,0  
Weltbank08.06.213,23,22,3
FocusEconomics Consensus08.06.213,22,62,3
DekaBank, Frankfurt08.06.213,52,0 
Zentralbank-Umfrage03.06.213,52,42,2
IHS Markit03.06.213,1  
Sberbank01.06.213,8  
ACRA Rating31.05.213,53,02,2
OECD31.05.213,52,8 
Citibank23.05.213,02,5 
Scope Ratings, Berlin21.05.213,02,7 
Morgan Stanley17.05.213,63,0 
EU-Kommission12.05.212,72,3 
HSE-Umfrage12.05.213,12,42,3
Gaidar-Institut29.04.212,6 bis 2,81,9 bis 2,41,7 bis 2,2
Wirtschaftsministerium24.04.212,9 Urals 60,3 $/b3,2 Urals 56,2 $/b3,0 Urals 54,8 $/b
Russische Zentralbank23.04.213,0 bis 4,0 Urals 60 $/b2,5 bis 3,5 Urals 55 $/b2,0 bis 3,0 Urals 50 $/b
WIIW Wien15.04.213,22,72,3
Gemeinschaftsdiagnose15.04.213,02,7 
Internationaler Währungsfonds06.04.213,83,8 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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