Neue Entspannungspolitik unter Joe Biden?

Die Chancen sind da – Der Wille auch?

Soll ein neuer West-Ost-Konflikt sich nicht verewigen oder gar weiter eskalieren, ist eine Entspannungspolitik 2.0 unverzichtbar. Praktikable Vorschläge dafür liegen längst vor. Der Präsidentenwechsel in den USA wäre für die friedenspolitische Öffentlichkeit eine gute Gelegenheit, Druck zu machen.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich in Deutschland Politiker und Journalisten, die den II. Weltkrieg noch erlebt haben und während des ersten Kalten Krieges aktiv waren, in ihrer Einschätzung des Neuen West-Ost-Konflikts überraschend einig sind – unabhängig von Parteienzugehörigkeit und ungeachtet der Tatsache, dass sie zu Hochzeiten des Kalten Krieges nicht selten in völlig konträren Lagern standen. Vom Kanzleramtsminister Helmut Kohls und Architekten der deutschen Einheit, Horst Teltschik, über den engen Mitarbeiter und Redenschreiber Hans Dietrich Genschers, den Diplomaten a.D. Frank Elbe sowie Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe bis hin zum schneidigen Kommunistenfresser, Edmund Stoiber und dem vor zwei Jahren verstorbenen strammkonservativen ehemaligen Herausgeber des Bayernkuriers, Wilfried Scharnagl: Wie heftig auch immer sie sich damals bekämpft haben mögen, heute plädieren sie allesamt für eine neue Entspannungspolitik gegenüber Russland und befinden sich damit in deutlichem Gegensatz zum gegenwärtig dominierenden Mainstream in Politik und Medien.

Erst recht gilt dies für die mittlerweile verstorbenen Spitzenpolitiker, die Ende der Achtziger Jahre zusammen mit der Sowjetunion den Kalten Krieg so erfolgreich beendet hatten, dass kein einziger Schuss fiel: Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr, Richard von Weizsäcker – selbst der entschiedenste Protagonist des NATO-Nachrüstungsbeschlusses, Helmut Schmidt, sprach sich gegen Ende seines Lebens für einen anderen Umgang gegenüber Russland aus! Ganz zu schweigen von den Moskaukorrespondenten der ersten Stunde wie Fritz Pleitgen, Gerd Ruge und Gabriele Krone-Schmalz.

Auch Russland hat Sicherheitsbedürfnisse

Neben den Schrecken des II. Weltkrieges, die sie als junge Erwachsene oder Kinder noch am eigenen Leibe erfahren hatten und dem Bewusstsein für die Gefahr einer atomaren Apokalypse, das zu Zeiten des Kalten Krieges ohnehin deutlich ausgeprägter war, ist für alle die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel charakteristisch: die Bereitschaft, die Welt auch mal mit russischen Augen zu sehen und auch dem Sicherheitsbedürfnis Russlands Rechnung zu tragen.

Alle sehen sich nach wie vor als Transatlantiker. Der Ex-Diplomat und Genscher Vertraute Frank Elbe allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Vorausgesetzt, USA und NATO würden sich nach wie vor an die Prinzipien des Harmel-Berichtes halten! Zur Erinnerung: 1967 startete der damalige belgische Außenminister Pierre Harmel eine nach ihm benannte Initiative mit dem Ziel, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu schaffen. Seitdem verfolgte die NATO ihrem Selbstverständnis nach eine Doppelstrategie: einerseits auf der militärischen Ebene ausreichend Sicherheit für die Mitglieder zu schaffen und sich zugleich auf der politischen Ebene gegenüber der damaligen Sowjetunion um Entspannung, Abrüstung und Zusammenarbeit zu bemühen. Entsprechend lauteten die Grundsäulen der NATO: Sicherheit und Entspannung. Die Strategie war letztlich erfolgreich – allerdings mit erheblich viel Glück; Zwischenfälle, die die Welt nahe an den Abgrund geführt hatten, gab es zuhauf – und führte schließlich Ende der Achtziger Jahre zur Beendigung des Kalten Krieges und im Dezember 1990 zur Verabschiedung der „Charta von Paris“.

„Abschreckung und Dialog“ statt „Sicherheit und Entspannung“

Wie der Generalinspekteur der Bundeswehr a.D. und ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat scharfsinnig herausgearbeitet hat, lauten die heutigen offiziellen Begriffe der NATO-Strategie allerdings nicht mehr Sicherheit und Entspannung, sondern Abschreckung und Dialog! Die langjährige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz merkt dazu an:

Abschreckung ist ein aggressiver, Sicherheit ein defensiver Begriff. Dialog verkommt zur Leerformel, wenn man die Interessen des Gegenübers als illegitim betrachtet. Entspannung steht dagegen für ein Programm, für einen umfassenden politischen Ansatz. Der Qualitätsunterschied zwischen der Politik damals und heute ist allein in der Begrifflichkeit erkennbar.“

In ihrem vor drei Jahren erschienenen und nach wie vor aktuellen Buch „Eiszeit“ hat Gabriele Krone-Schmalz ein Konzept für eine neue Entspannungspolitik zwischen dem Westen und Russland skizziert, das die NATO erneut auf die Prinzipien von Harmel zurückverpflichtet. Ihre pragmatischen und – bei gutem Willen – ohne weiteres praktikablen Vorschläge lesen sich wie eine Roadmap aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse. Es bietet sich an, diese Gedanken im Hinblick auf den bevorstehenden Präsidentenwechsel in den USA zu aktualisieren und in der Phantasie einmal durchzuspielen, was jetzt getan werden könnte und müsste, um die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland zu entspannen – vorausgesetzt, der politische Wille dazu wäre auf allen Seiten vorhanden.

Erste Schritte aus der Konfrontation

Der erste Kalte Krieg wurde nicht zuletzt aufgrund der großen Kompromissbereitschaft der damaligen Sowjetunion unter Michail Gorbatschow beendet, besonders im Bereich der extrem gefährlichen landgestützten atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen (INF-Vertrag), aber auch im Bereich der Interkontinentalraketen (START I-Vertrag). Deshalb läge es diesmal am Westen, den ersten Schritt zu tun!

Die allererste und einfachste Maßnahme einer Biden-Administration, die zu einer Entspannungspolitik tatsächlich bereit wäre, wäre die Rettung des nahezu letzten bedeutenden Rüstungskontrollvertrags, des New START-Vertrags, der anderenfalls am 5. Februar kommenden Jahres ausläuft. Nötig dazu wäre nur eine Unterschrift des neugewählten Präsidenten. Ebenso könnte eine neue US-Administration ohne Gesichtsverlust wieder in den Open Skies-Vertrag einsteigen, der durch wechselseitige kontrollierte Überflugsrechte den Vertragsparteien ‚Glasnost‘ ermöglicht und damit der Vertrauensbildung dient. Beide Maßnahmen könnten ohne großen Aufwand zeitnah umgesetzt werden und würden – vor allem, wenn die USA sich dazu entschließen sollten, dem Iran-Nuclear-Deal wieder beizutreten – die Atmosphäre zwischen den USA und Russland schlagartig deutlich verbessern.

In einem so entspannteren Umfeld könnten dann bilaterale Verhandlungen über land- und möglicherweise auch seegestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite aufgenommen werden. Beide Seiten sollten sich zudem verpflichten, für den Zeitraum der Verhandlungen keine der genannten Waffensysteme zu stationieren. Michail Gorbatschow, der seinerzeit mit dem INF-Vertrag den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte erreichte, schrieb dazu in seinem jüngsten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“:

Wenn Russland und die Vereinigten Staaten sich erneut an den Verhandlungstisch setzen, wird sich auch die Stimmung insgesamt verbessern. Und ebenso die Voraussetzungen für den Dialog mit anderen Ländern, die ebenfalls Atomwaffen besitzen. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur bei atomarer Aufrüstung Wettbewerb möglich ist, sondern auch beim Verzicht.“

Die Roadmap zu einer Entspannungspolitik 2.0

Als weiterer Schritt, russischen Sicherheitsinteressen substanziell entgegenzukommen, würde sich laut Krone-Schmalz der Verzicht auf die Fertigstellung des geplanten Raketenabwehrsystems der NATO mit seinen Modulen in Rumänien und Polen eignen, von dem Russland sich mit Abstand am meisten bedroht fühlt. Da dieses sich, laut westlicher Lesart, eh niemals gegen Russland, sondern gegen den Iran gerichtet hat, wäre es allerspätestens mit einer allseitigen Erneuerung des Iran-Nuclear-Deals obsolet. Der Verzicht auf das Raketenabwehrsystem würde Russland Gelegenheit geben, ohne Gesichtsverlust seine Iskanderraketen wieder aus dem Kaliningrader Oblast zurückzuziehen.

Für den Fall, dass Russland zu diesem Schritt bereit wäre, schlägt Krone-Schmalz analog zur KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki eine große Konferenz zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt vor, bei der beide Seiten substanzielle Zugeständnisse machen müssten. Um russischen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung zu tragen, müsse die NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien zurückgenommen werden. Dann könne sich Russland seinerseits kompromissbereiter zeigen und z.B. einer Stationierung internationaler Friedenstruppen unter UN-Mandat im Donbass – möglicherweise auch in Transnistrien, Abchasien und Südossetien – zustimmen.

Denkbar wären zudem Verhandlungen über einen Rückzug der Truppen von NATO und USA aus Polen und dem Baltikum, wenn Russland bereit wäre, zugleich seine grenznahen Truppen aus den westlichen Militärbezirken und dem Kaliningrader Oblast ins Landesinnere zurückzuverlegen. Parallel dazu könnte ein entmilitarisierter Korridor auch zwischen dem Westen Russlands und dem Osten der Ukraine geschaffen werden. Dazu Krone-Schmalz: „Dies könnte den Auftakt für eine Anpassung bestehender Abrüstungsverträge bilden. Der A-KSE-Vertrag über die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa könnte wieder zum Leben erweckt, überarbeitet und anschließend ratifiziert werden. Auf diese Weise würde Rüstungskontrolle erneut etabliert, was langfristig dazu dienen kann, wieder Vertrauen und Stabilität zu schaffen.“

Was das heikle Thema „Krim“ angeht, an dem sich die Geister am Allerheftigsten scheiden, schlägt Krone-Schmalz eine Regelung analog zum Saarland nach dem I. Weltkrieg vor, um dem Status quo einen rechtlichen Unterbau zu geben: Die Krim solle zum Mandatsgebiet der UN erklärt werden. Völkerrechtlich bliebe sie bei der Ukraine, Russland jedoch wäre mit der Verwaltung betraut. Nach einer zu vereinbarenden Frist könne ein Volksentscheid durchgeführt werden, in dem die Krimbevölkerung unter UN-Aufsicht nochmals über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden würde. „Dieser Volksentscheid wäre international anerkannt und würde respektiert werden müssen.“ Flankierend schlägt Gabriele Krone-Schmalz ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Eurasischen Zollunion vor, auch um die Ukraine aus dem Spannungsfeld zwischen dem Westen und Russland zu entlassen.

Schließlich solle sich der Westen im Sinne der Vertrauensbildung jeglicher Versuche einer inneren Einmischung, genannt „Demokratisierungspolitik“, de facto: einer zivilen Variante des Regimewechsels gegenüber Russland enthalten.

Die „Breite Koalition der Vernunft“

Die Vorschläge von Frau Krone-Schmalz sind bestechend einfach. Sie könnten die Nagelprobe auf die Entspannungs- und Kompromissbereitschaft aller Konfliktparteien sein. Die alles entscheidende Frage lautet: Wie und von wem kann Druck in Richtung auf eine mögliche Umsetzung ausgeübt werden?

Dabei wird es nicht ausreichen, allein auf die notorischen „Russlandversteher“ zu setzen, von denen nicht wenige immer noch eher an den politischen Rändern angesiedelt sind. Hierzu bedarf es einer überparteilichen „Breiten Koalition der Vernunftaller an Deeskalation interessierten Personen und Organisationen. Sprich, es ist unbedingt nötig, die politische Mitte der Gesellschaft zu erreichen: Gewerkschaften, Kirchen, Persönlichkeiten aller Parteien innerhalb und außerhalb des Parlaments, für die das Thema „Entspannung zwischen Russland und dem Westen“ – letztlich eine Frage von Krieg und Frieden – wichtiger ist als ihre jeweiligen parteipolitischen Narrative.

Angesichts der bestehenden und möglicherweise noch wachsenden Spannungen ist es zwingend, das Thema „Deeskalation“ immer und immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen – innerhalb und außerhalb des Parlaments! Und darauf zu verweisen, dass es praktikable Lösungsmöglichkeiten gibt. Als aktueller Anlass würde sich – trotz aller gebotenen Skepsis – der Präsidentenwechsel in den USA eignen.

Völlig ausgeschlossen sollte es nicht sein, auf dieser breiten Basis politischen Druck auszuüben, schließlich sprechen sich seit Langem konstant um die 80% der Deutschen für ein besseres Verhältnis zu Russland aus.

Und wenn die USA und die NATO sich auch unter einem Präsident Biden von den Harmel-Prinzipien auf Dauer verabschieden sollten? Dann stände dem gesamten transatlantischen Verhältnis mittelfristig eine Legitimationskrise ins Haus, wie es sie seit dessen Bestehen noch niemals gegeben hat. Durchaus möglich, dass der NATO dann das widerfahren könnte, was der Warschauer Pakt schon seit fast drei Jahrzehnten hinter sich hat!

Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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