Kolumne: Besser durch die Krise als gedacht

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Über unterschiedliche Herangehensweisen an die Krise – und warum Russlands Wirtschaft besser gewappnet ist als gedacht.

Die eigene Freiheit endet, wo die der anderen anfängt

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“ war für mich immer ein sehr deutsches Sprichwort. Aber eigentlich passt es ja mehr zu einem Volk, das vom Schicksal oder von denjenigen, die jeweils für das Schicksal zuständig sind, überdurchschnittlich häufig auf die Probe gestellt wurde und wird. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, dass Russen einen Gleichmut entwickelt haben, der hierzulande schlicht nicht vorstellbar ist. „Ich will meine grundgesetzlich verbrieften Rechte auch jetzt wahrnehmen dürfen“, ist ein Satz, der in Deutschland augenblicklich sehr gern verwendet wird, vornehmlich um das eigene Missvergnügen an der Rücksichtnahme gegenüber anderen zu kaschieren. Aus gutem Grund sind die persönlichen Freiheitsrechte im Grundgesetz festgeschrieben, aber es gilt eben auch, dass die eigene Freiheit spätestens dort endet, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. In Zeiten von Pandemien ist es naturgemäß schwieriger den total praktizierten Individualismus auszuleben. Vielleicht hilft ein Blick auf den Rest der Welt. Denn wir können uns sehr glücklich schätzen in einem Land zu leben, in dem staatliche Willkür und Repressionen die absolute Ausnahme sind.

Das Beste daraus machen

Aber zurück zur Hoffnung. Russische Firmen – und nicht nur die – schauen mit großem Respekt auf ein Instrument wie das Kurzarbeitergeld, das sowohl Arbeitnehmern als auch Firmen hilft, solidarisch durch ein konjunkturelles Tal zu kommen. Finanziell könnte sich Russland das wahrscheinlich auch leisten, aber der Staat hat lieber sechs Wochen arbeitsfrei verordnet, und diese „Ferien“ die Firmen bezahlen lassen. Die Hoffnung auf eine Beteiligung des Staates an diesen Kosten ist, naja noch nicht gestorben, aber doch ziemlich gering. Genauso gering wie die Chance für viele kleine und mittelständische Firmen zu überleben. Russische Unternehmerverbände sprechen von bis zu einer Million erwarteten Insolvenzen. Das wäre jedes sechste mittelständische Unternehmen. Allerdings ist die Zahl der Einzelunternehmer und Kleinstunternehmen unter ihnen überdurchschnittlich hoch. Die meisten davon sind im Dienstleistungssektor tätig, also eher nicht so relevant für das Gesamtsystem. Wer jetzt glaubt, die Russen versinken in Schwermut, der irrt. Ich habe ehrlich gesagt nie verstanden, woher diese Einschätzung der kollektiven Depression kommt. Oblomov war eher faul, Raskolnikov desillusioniert und das Drama um Anna Karenina hätte sich auch in jeder anderen europäischen Stadt abspielen können. Jedenfalls versuchen die Russen – jenseits aller Romanvorlagen – was sie immer versuchen; aus der Situation das Beste zu machen.

Vertrauen in die Entscheidungen der Zentralbank

Und tatsächlich scheint es so, als ob die russische Wirtschaft und die russische Gesellschaft besser durch diese Krise kommen als andere. Das liegt unter anderem daran, dass weit über die Hälfte der Wirtschaftsleistung von staatlichen Unternehmen erbracht wird, die auf Hilfe hoffen können und sie auch bekommen. Die meisten als systemrelevant eingestuften Unternehmen sind große bzw. sehr große Firmen, darunter viele staatliche. Aber es liegt auch daran, dass sich die solide Finanzpolitik der letzten Jahre jetzt in erheblichen Reserven und dem Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik der Zentralbank niederschlägt. Die verfügt noch über ein weiteres Mittel, die Konjunktur zu beleben, das wir in Europa schon lange nicht mehr kennen – Zinssenkungen. Ende April wurde der Leitzins auf 5,5 Prozent gesenkt, mit der Option auf weitere Zinsschritte.

Abhängigkeit vom Ölpreis geringer als gedacht

Und Russland ist im Vergleich mit anderen Ölförderländern nicht so abhängig vom Export und dem Preis für Öl an den internationalen Märkten. Nach Angaben der Alfa-Bank ist das Budget schon bei einem Ölpreis von 48 US-Dollar pro Barell ausgeglichen. Aktuell zahlt man für ein Barell Brent ca. 40 US-Dollar. Es fehlt also nicht mehr viel. Zum Vergleich, der Iran bräuchte 155 US-Dollar, Venezuela taucht in dieser Statistik erst gar nicht auf. Außerdem wird die Diversifizierung des Exports zwar nicht immer besonders effizient, aber konsequent vorangetrieben. Davon profitieren auch deutsche Produzenten in Russland. Exportförderung, niedriger Rubelkurs und freie Kapazitäten machen Produkte aus Russland international konkurrenzfähig. Jetzt zahlt sich die viel kritisierte Politik der Lokalisierung und Importsubstitution aus, mit der man sich Qualität, Know-how und Expertise ins Land geholt hat.

Russland als Lieferant interessant

Offenbar setzt auch bei den deutschen Unternehmen ein Umdenken ein. In einer Umfrage des Ost-Ausschusses aus der letzten Woche zur konjunkturellen Erholung nach Corona erwägen knapp 20 Prozent der Firmen, künftig verstärkt in Russland zu investieren. Mehr als die Hälfte plant in Russland zu sourcen. Das ist ein starkes Signal für eine verstärkte Zusammenarbeit. Allerdings wird dieser Wille mit klaren Vorstellungen an die Änderung der Rahmenbedingungen verknüpft. Deutlich mehr Markt, weniger Staat und fairere Marktzugangsbedingungen bilden den Rahmen; im Speziellen werden besser qualifizierte Lieferanten, steuerliche Vergünstigungen, die gezielte Förderung von Mittelständlern unabhängig von ihrer Herkunft und transparentere Ausschreibungen gefordert. Legt man die Maxime der russischen Industriestrategie zugrunde, nach der bestmögliche Technik und modernste Produktionsmethoden – die es oft nur im Ausland gibt – russische Waren weltmarktfähig machen sollen, dann müssten diese Forderungen auf offene Ohren stoßen. Ein Rätsel bleibt allerdings, wie sich dieser Anspruch mit dem verschärften „buy local“-Gebot von Ende April vertragen soll.

Entwicklung gemeinsam mit Europa

Aber bleiben wir beim Prinzip Hoffnung. Vielleicht hat es in Russland noch nicht jeder begriffen, aber die Kraftzentren der internationalen Wirtschaft liegen im 21. Jahrhundert in den USA, China resp. Südostasien und so die Europäer es wollen auch auf dem alten Kontinent. Russlands Industriestrategie kennt zwar keine wirkliche geografische oder geopolitische Ausrichtung, aber es wäre sicher kein Fehler, das Land und die eigene Wirtschaft gemeinsam mit Europa zu entwickeln. Der Wille auf Seiten der deutschen Unternehmen ist unverkennbar. Befragt nach den gemeinsamen Entwicklungsfelder der Zukunft sehen die deutschen Firmen mehrheitlich Potential in den so genannten Zukunfts- und grünen Technologien: Industrie 4.0, Digitalisierung, Green Energy, Green Tech, bei der Recycling- und Kreislaufwirtschaft und bei Infrastrukturprojekten. Einige Unternehmen können sich auch eine Zusammenarbeit bei der Forschung und Entwicklung in Russland vorstellen. Die Hoffnung besteht darin, dass dieses Potential gemeinsam geschöpft wird und aus Hoffnung Gewissheit wird.

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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