Russlands digitale Agenda 2024

Russlands digitale Agenda 2024

Die neue Regierung setzt auf digitale Technologien als Enabling-Faktor für den Strukturwandel

Wenn es um die Digitalisierung geht, kann Russland vor allem beim E-Government der digitalen Verwaltung, womit sich zum Beispiel Deutschland mit seinem mehrstufigen Verwaltungsföderalismus schwer tut – einige Erfolge vorweisen. Das Online-Portal für Verwaltungsleistungen GOSUSLUGI.RU, das die Regierung vor acht Jahren gestartet hat, zählt heute etwa 68 Millionen registrierte Nutzer.

Die Onlineangebote der Föderalen Steuerbehörde FNS sind auch gefragt. Nicht etwa, weil den russischen Steuerzahler eine besonders gute Steuermoral auszeichnet, sondern weil das FNS-Portal hilfreich und bequem in der Nutzung ist. Und wer seine Steuerangelegenheiten lieber von unterwegs aus erledigen möchte, kann es auch über eine mobile App tun.

Moskaus Wandel zur Smart City

Auf regionaler Ebene hat die Stadt Moskau die digitale Führerschaft inne. Was zum Teil als Hauptstadt strukturell bedingt, aber auch das Ergebnis einer planvollen Arbeit der Stadtverwaltung ist. Eine Megacity von mehr als 12,5 Millionen Menschen (nach offiziellen Angaben, inoffiziell etwa 15 Millionen) zu managen, ist keine triviale Aufgabe. Noch vor zehn Jahren erstickte die Stadt im Lärm und Verkehrschaos, öffentliche Freiflächen zum Erholen waren extrem rar.

Nach dem Amtsantritt des neuen Bürgermeisters Sergei Sobjanin 2010 und dem Startschuss zur „Information City“ verwandelt sich Moskau gegenwärtig immer mehr in ein interaktives digitales Ökosystem. Ihre Verwaltungsanliegen erledigen die Moskowiter oft virtuell, via das MOS.RU-Portal, das vom Geoinformationsportal GOROD.MOS.RU und das Active-Citizen-Portal AG.MOS.RU mit E-Voting-Funktion ergänzt wird.

Dass die Fachverfahren im Backoffice technisch reibungslos ablaufen und die Onlinedienste bürgerfreundlich konzipiert sind, ist das Verdienst der IT-Abteilung der Stadt, die bemerkenswert proaktiv agiert und keine Scheu vor künstlicher Intelligenz oder Blockchain hat, wenn es der Stadt nützt. Die innovativen E-Government-Ansätze aus Moskau haben übrigens auch international Anerkennung gefunden. Die Stadt war mehrmals für den „World Smart City Award“ des „Smart City Expo“-Kongress in Barcelona nominiert.

Produktivitätsfortschritt vor allem im Verkehr- und Energiesektor

Die Digitalisierung birgt für Russland mit seinen großen Entfernungen und zum Teil extremen klimatischen Bedingungen besonders bei Verkehr und Transport sowie im Energiesektor neue Möglichkeiten, um Kosten zu senken und die Produktivität zu steigern. In Ufa, Kaliningrad und St. Petersburg experimentiert man bereits mit „intelligenten Netzen“.

In Jakutien im Fernen Osten weisen erneuerbare Energien heute schon einen Kostenvorteil gegenüber Dieselgeneratoren auf. Smart Grids, intelligente Netze und Energieeffizienz gehören zu den Themen der „Russian Energy Week” (REW) der Regierung. Die REW-2018 Anfang Oktober wurde abermals von Präsident Wladimir Putin eröffnet.

Für den smarten Verkehr hat Russland auch wichtige technische Weichen gestellt. Erstens gibt es mit GLONASS ein eigenes Satellitennavigationssystem. Zweitens ist man gerade dabei, eine „Russische Telematische Service-Plattform“ für künftige autonome Fahrzeuge aufzusetzen. Sie wird Russlands Online-Plattform für das Transportsystem sein.

Drittens will der Staat die digitale Ungleichheit im Land beseitigen und die Internetinfrastruktur verbessern. „The Big Four“ der Netzbetreiber – MegaFon, MTS, VympelKom und Tele2 – beschleunigen gegenwärtig den Ausbau der 4G-LTE-Funknetze. MegaFon hat während der Fußballweltmeisterschaft 2018 den neuen Mobilfunkstandard 5G getestet. Spätestens ab 2022 will man 5G-Netze in der Fläche ausrollen.

Wladimir Putin auf der Russischen Energiewoche im Oktober 2018

Russische Industrie 4.0

Edda Wolf von der Wirtschaftsfördergesellschaft Germany Trade & Invest (GTAI) zufolge ist die Vielfalt digitaler Business-Cases in der russischen Wirtschaft eindrucksvoll. Zum Beispiel haben das Sibirische Bergbauunternehmen SUEK und die Softwareschmiede SAP gerade ein elektronisches Handelssystem auf der Basis von SAP Commodity Management gestartet.

Nanolek, ein Biopharmaunternehmen, bereitet die Kennzeichnung von Arzneimitteln mit SAP Track&Trace for Pharmaceuticals vor. Der russische Lkw-Bauer KAMAZ setzt IT-Lösungen von Siemens und Industrieroboter von KUKA ein. SAP liefert Webshop- und Predictive-Maintenance-Software an Severstal. Beim Projekt „4.0 RU” arbeiten Siemens, Kaspersky Lab (IT-Sicherheit) und ITELMA (Logistik) an der Entwicklung eines einheitlichen Cyberraums für die russische Industrie 4.0 zusammen.

Ohne Anschubförderung und entsprechende Infrastruktur wären viele Digitalprojekte in der Vergangenheit nicht möglich gewesen. Erst das Staatsprogramm „Informationsgesellschaft“, dann das Gesetz „Über die Industriepolitik in Russland“ von 2014, untermauerten den Kurs auf die Re-Industrialisierung. Die ersten industriellen Technoparks in Tatarstan und in Moskau gehen darauf zurück.

Edda Wolf, GTAI
Edda Wolf, Bereichsleiterin GUS/Südosteuropa bei Germany Trade & Invest (GTAI), auf der RUSummit – Fachkonferenz zur Digitalwirtschaft in Russland am 21. September 2018

Nationale Technologische Initiative

Auch die Nationale Technologische Initiative (NTI) ist ein Ergebnis dieser neuen Industrie- und Innovationspolitik. Es ist ein Netzwerk aus Unternehmerverbänden, Technologie- und IT-Firmen sowie Universitäten mit der Aufgabe, für Russland relevante Zukunftsmärkte von Anfang an zu besetzen. Man wählt Start-ups mit vielversprechenden technischen Lösungen aus und fördert diese gezielt. Die Finanzierung setzt sich aus diversen Quellen zusammen, darunter der NTI-Fonds, der Fonds für Innovationsförderung, Venture-Capital-Geber, Großunternehmen und Banken.

Die NTI als Ökosystem sei ein wahrer Schatz an innovativen Ideen, meint auch Edda Wolf. „Quantencomputing, maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz, Robotik, 3D-Druck, Smart Grids – 869 Experten und 451 Unternehmen arbeiten zurzeit in der Initiative an derartigen Projekten“, so Wolf auf dem RUSummit „Digital Economy in Russia”, der kürzlich in Berlin stattfand.

E-Commerce als wesentliche Triebkraft

Für 87,7 Millionen Russen, rund 71 Prozent der Bevölkerung, spielt sich der digitale Wandel heute vor allem in den sozialen Netzwerken und bei Onlineeinkäufen ab. Dass E-Commerce eine wesentliche Triebkraft der russischen Digitalwirtschaft ist, geht auch aus der Jahresstudie „Runet 2018“ des Branchenverbands RAEK (Russische Vereinigung elektronischer Kommunikation) hervor.

Das boomende Segment zieht Investoren an. So gaben die Alibaba Group aus China zusammen mit russischen Partnern Megafon, Mail.ru Group und dem Fonds für Direktinvestitionen auf dem Wirtschaftsforum in Wladiwostok kürzlich die Gründung der Online-Handelsplattform AliExpress Russia bekannt.

AliExpress Russia könnte den Markt, auf dem bisher immer noch Platz für Alternativangebote wie das Onlineshop Shipping Point aus München und die Otto Group Russia war, gründlich umkrempeln. Olesja Becker, CEO und Gründerin von Shipping Point, fühlt sich darauf allerdings gut vorbereitet. Die Abläufe sind digitalisiert, die Zollabwicklung läuft automatisiert, dies helfe, Kosten zu sparen, so Becker auf dem RUSummit in Berlin.

Zudem würden deutsche Produkte aufgrund ihrer Qualität einen guten Ruf bei russischen Kunden genießen. Martin Schierer, CEO der Otto Group Russia, teilt diese Meinung. Das Versandhaus gilt in der Branche als Vorreiter, der zunächst sich selbst einer umfassenden Disruptionskur unterzogen und den Onlinehandel maßgeblich geprägt hat.

Dreifache Steigerung von Investitionen in digitale Wirtschaft bis 2024

Die seit Mai dieses Jahres amtierende Regierung hat die Digitalisierung der Wirtschaft zu Prioritäten ihrer Politik erklärt. Ziel ist, laut Mai-Ukas des Präsidenten, Investitionen in die digitale Wirtschaft bis 2024 mindestens um das Dreifache im Vergleich zu 2017 zu steigern. Etwa 1,08 Billionen Rubel habe man für die Förderung entsprechender Projekte im Rahmen des Nationalprogramms „Digitale Wirtschaft“ reserviert. Die Weltbank spricht im ihrem jüngsten Russia Economic Report von einem Jahresbudget von 1,8 Milliarden US-Dollar bis 2025.

Für russische Unternehmen ist dies eine gute Nachricht, doch die Finanzierung wird nicht einfach zu stemmen sein. Steigende Steuern winken bereits. Die Mehrwertsteuer steigt bereits ab dem 1. Januar 2019 von 18 auf 20 Prozent. Das Rentenalter wird voraussichtlich um fünf Jahre heraufgesetzt.

Zudem muss man sicherstellen, dass die staatlichen Fördermittel auch zweckgebunden eingesetzt werden: Vorteilsnahme und Bestechlichkeit sind in Russland weit verbreitet. „Brain Drain“ und Fachkräfte sind ein weiteres Problemfeld. Russland hat sehr gut ausgebildete IT-Spezialisten, doch viele dieser kreativen Top-Leute verlassen das Land. Wie man die „Brain Power“ behält und die Arbeitskräfte auf die Anforderungen der digitalen Welt vorbereitet, entscheidet heute über die Innovationsfähigkeit eines Landes.

Interaktiver Roboter des Moskauer Technologie- und Innovationszentrums Skolkovo auf der Hannover-Messe

Ministerium für digitale Entwicklung

Also treibt der russische Staat seine Digitalisierungsoffensive voran. Das „Rebranding“ des zuständigen Ressorts allein ist eine Ansage. In der neuen Regierung agiert es als „Ministerium für digitale Entwicklung“. Der Minister Konstantin Noskow ist auch neu. Das wichtigste Koordinierungsorgan für die Digitalisierungsoffensive dürfte jedoch die gleichnamige Regierungskommission werden, die mit Premierminister Dmitrij Medwedew und seinem Stellvertreter Maxim Akimow hochrangig besetzt ist.

Neben dem Digitalminister gehören dem Gremium sieben weitere Minister an sowie zahlreiche leitende Beamte. Die Kommission soll Vorschläge zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft mittels IT entwickeln, die sie dem Präsidenten direkt vorstellen wird.

Den meisten russischen Unternehmen steht jedoch eine industrielle und digitale Revolution noch bevor – wenn Betriebe automatisiert, Wertschöpfungsketten vernetzt sowie Maschinen, Roboter, aber auch virtuelle Teams in Arbeitsprozessen eingesetzt werden. Auch bei Hardwarekompetenzen, in der Mikroelektronik und Computertechnik – die der Staat im Übrigen als zentral für die technologische Unabhängigkeit und strategische Autonomie des Landes ansieht – gibt es jede Menge Arbeit.

Digitale Wettbewerbsfähigkeit Russlands im IMD Ranking 2018

Gegenwärtig liegt Russland in punkto „Digitale Wettbewerbsfähigkeit“ auf Platz 40 des IMD Digital Competitiveness Ranking. 2018 hat es zwar Italien und Chile abgehängt, doch das Regulierungs- und Technologieumfeld sowie die „Business Agility“ sind Experten des IMD-Instituts zufolge noch stark verbesserungswürdig.

Für die „digitale Perestrojka“ hat die Regierung nun sechs Jahre Zeit. Dabei dürfte sie die digitale Agenda der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) auch im Auge behalten. Wenn Russland, Kasachstan, Belarus, Kirgisien und Armenien es tatsächlich schaffen, bis 2025 neben dem Gemeinsamen Markt auch einen digitalen Binnenmarkt umzusetzen, könnte es ihnen eine zusätzliche – digitale – Dividende bescheren.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: PopTika / Shutterstock.com