Zentralbank-Umfrage: Russlands BIP sinkt 2022 um 8 Prozent

Düstere Wachstumsprognosen für 2022

Die „militärische Sonderoperation“ Russlands in der Ukraine und die daraufhin gegen Russland verhängten Sanktionen werden die Produktion der russischen Wirtschaft voraussichtlich weit zurückwerfen und einen starken Inflationsschub auslösen.

Darauf lässt jedenfalls eine von der russischen Zentralbank am 09. März veröffentlichte Umfrage bei russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten schließen. Während bei einer fünf Wochen zuvor veröffentlichten Umfrage der Zentralbank für das diesjährige Wachstum des Bruttoinlandsprodukts noch ein Median (Zentralwert) von + 2,4 Prozent ermittelt wurde, ergab sich bei der neuen Umfrage als Median ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 8,0 Prozent. Der Median der Prognosen für den jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2022 stieg jetzt auf + 20,0 Prozent (bisher: + 5,5 Prozent).

Wachstumsprognosen abgestürzt, Inflationsprognosen explodiert

Wie stark sich die Prognosen für die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, der Verbraucherpreise und des Leitzinses in den letzten fünf Wochen geändert haben, zeigt folgende Tabelle mit Daten der Zentralbank-Umfrage.

Umfrage der russischen Zentralbank vom 01. bis 09. März 2022;
Prognosen für die Entwicklung von BIP, Verbraucherpreisen und Leitzins
(in Klammern: Ergebnisse der am 03. Februar veröffentlichten Umfrage)

Zentralbank: Macroeconomic survey of the Bank of Russia; 10.03.2022.

In der neuen Umfrage wird jetzt für 2022 ein Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 8 Prozent erwartet. 2023 dürfte sich Produktion kaum erholen (+ 1,0 Prozent). Bisher wurde damit gerechnet, dass sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 4,7 Prozent im Jahr 2021 auf 2,4 Prozent im Jahr 2022 verringert.

Die bisherigen Erwartungen, dass die jährliche Inflationsrate bis zum Jahresende 2022 auf 5,5 Prozent sinkt und im Dezember 2023 das Inflationsziel der russischen Zentralbank von 4,0 Prozent erreicht wird, rücken in weite Ferne. Jetzt wird erwartet, dass die Inflationsrate im Dezember 2022 bei 20 Prozent liegt und Ende 2023 noch 8 Prozent betragen wird.

Ihren Leitzins hat die russische Zentralbank zur Stützung des Rubel-Kurses zuletzt am 28. Februar von 9,5 Prozent auf 20 Prozent erhöht (Pressemitteilung). Die befragten Analysten gehen jetzt davon aus, dass der Leitzins im Jahresdurchschnitt 2022 18,9 Prozent betragen wird. Anfang Februar hatten sie noch einen Leitzins von durchschnittlich 9,1 Prozent für das Jahr 2022 erwartet.

Vergleich der Zentralbank-Umfrage mit der FocusEconomics-Umfrage

Bei einem Vergleich der Zentralbank-Umfrage mit anderen Analysten-Umfragen muss man beachten, dass andere Umfragen als Prognosewert meist nicht den Median („Zentralwert“) ermitteln, sondern das „arithmetische Mittel“ der Analysten-Prognosen (weitere Hinweise dazu am Ende dieses Artikels).

Erstaunlich große Unterschiede weist ein Vergleich der Ergebnisse der Zentralbank-Umfrage und der zwei Tage zuvor am 08. März veröffentlichen Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics auf.

FocusEconomics erfasst für seine monatlichen Berichte zur russischen Wirtschaft zwar ähnlich viele Prognosen (39) wie die russische Zentralbank als Teilnehmer ihrer Umfrage nennt (34). Allerdings wertet FocusEconomics nur sehr wenige Prognosen russischer Banken und Forschungsinstitute aus. Bei der Umfrage der Zentralbank stellen russische Teilnehmer hingegen rund zwei Drittel aller Teilnehmer.

Die Anfang März durchgeführte Umfrage von FocusEconomics ergab, dass die Teilnehmer im „arithmetischen Mittel“ jetzt für 2022 noch ein Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent erwarten. FocusEconomics ermittelte aus seiner Umfrage aber wie die Zentralbank auch den Median der Prognosen. Er beträgt sogar noch + 2,5 Prozent.

Während die Zentralbank-Umfrage also auf einen voraussichtlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 um 8,0 Prozent hindeutet, lässt der von FocusEconomics ermittelte Median noch auf einen Anstieg um 2,5 Prozent schließen.

Wie sind die sehr unterschiedlichen Ergebnisse zu erklären?

Hauptursache dürfte sein, dass die Zentralbank in ihrem Umfragebericht zwar 34 Banken und Forschungsinstitute als „Teilnehmer“ der Befragung nennt, nach Angaben in einer Anlage zu dem Bericht aber nur 18 „Antworten“ bei der Berechnung der Ergebnisse berücksichtigt wurden. Vermutlich hat die Zentralbank als „Antworten“ hauptsächlich sehr aktuelle Prognosen berücksichtigt, die nach dem Beginn der „militärischen Sonderoperation“ in der Ukraine erstellt wurden. Über die individuellen Prognosen der teilnehmenden Institute informiert die Zentralbank leider nicht.

Viele Banken und Institute haben ihre Prognosen noch nicht revidiert

FocusEconomics berücksichtigte hingegen die Prognosen sämtlicher 39 befragten Banken und Forschungsinstitute. Sie dürften weit überwiegend vor dem Beginn der „militärischen Sonderaktion“ in der Ukraine erstellt worden sein. FocusEconomics nennt in seinen monatlichen Berichten nämlich auch die Prognosen der einzelnen Umfrageteilnehmer. Ein Vergleich ihrer Prognosen vom März und Februar zeigt, dass rund 70 Prozent der Teilnehmer auf die jüngste Eskalation im Ukraine-Konflikt noch nicht reagierten, sondern bei ihren bisherigen Prognosen vom Februar oder noch älteren Prognosen blieben. FocusEconomics merkt an, dass bei der nächsten Umfrage im April ein Rückgang der Wachstumsprognosen zu erwarten ist.

Breite „Streuung“ der Rezessions-Prognosen

Die folgende Tabelle zeigt Prognosen von Teilnehmern der FocusEconomics-Umfrage, die bereits einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts für 2022 erwarten und wie stark sie ihre Prognosen geändert haben. Die Prognosen für den Rückgang im Jahr 2022 liegen zwischen lediglich -1,0 Prozent (Fitch Solutions) und – 10,4 Prozent (Polish Chamber of Commerce).

In Deutschland rechnet die Hamburger Berenberg Bank nur mit einem leichten Rückgang des russischen BIP im Jahr 2022 um rund ein Prozent. Die Berliner Rating-Agentur Scope senkte ihre Prognose hingegen auf – 5 Prozent, ähnlich wie die Frankfurter DekaBank. Die Helaba rechnet mit einem relativ geringen Rückgang um 3,7 Prozent.

Allianz-Szenarien für die Entwicklung der russischen Wirtschaft

Die sehr unterschiedlichen BIP-Prognosen zeigen die große Unsicherheit über die weitere Entwicklung der russischen Wirtschaft. In einer Präsentation für ein Webinar zu den volkswirtschaftlichen Perspektiven angesichts des Krieges zwischen Russland und der Ukraine veröffentlichte „Allianz Research“ am 04. März drei Szenarien zur möglichen weiteren Entwicklung der russischen Wirtschaft.

Die Ergebnisse der Umfrage der russischen Zentralbank entsprechen am ehesten dem Allianz-Szenario „Conflict Escalation“. Diesem Szenario ordnet Allianz eine Wahrscheinlichkeit von 55 Prozent zu.

Allianz Research erwartet in diesem „Eskalations-Szenario“, dass im Finanz- und Handelsbereich weitere Sanktionen gegenüber Russland verhängt werden. Wegen der hohen Abhängigkeit Deutschlands und der EU von russischen Energielieferungen rechnet Allianz Research dabei jedoch nicht damit, dass im Bereich des Energiehandels weitere Sanktionen beschlossen werden.

Die Prognosen der Allianz für das Szenario „Eskalation des Konfliktes“:

  • Das Bruttoinlandsprodukt sinkt 2022 um 5 Prozent und 2023 um 2,5 Prozent (rote Linie in der folgenden Abbildung).
  • Die jährliche Inflationsrate steigt 2022 auf 28 Prozent und schwächt sich 2023 nur auf 20 Prozent ab.
  • Ein „Sovereign default“ (Zahlungsausfall bei der Bedienung der vom russischen Staat aufgenommenen Kredite) ist im Zeitraum 2022/2023 „möglich“.

Allianz-Szenarien für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Verbraucherpreise in Russland bis 2023

Allianz Research: War in Ukraine: What to Expect? Präsentation bei Webinar, 04.03.2022

Dem Szenario „Ceasefire“, bei dem ein Waffenstillstand vereinbart wird und bei anhaltenden Sanktionen nach einer diplomatischen Lösung gesucht wird, ordnet Allianz nur eine Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent zu.

Das Szenario „Black out“, bei dem mit scharfen Sanktionen die wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen „eingefroren“ werden, hat für Allianz eine Wahrscheinlichkeit von 35 Prozent. In diesem Szenario erwartet Allianz im Jahr 2022 einen Rückgang des BIP um 10 Prozent und im Jahr 2023 einen weiteren starken Rückgang um 6 Prozent. Die Inflationsrate beschleunigt sich beim „Black out“ 2022 auf 40 Prozent und beträgt 2023 noch 25 Prozent.

Diese drei Szenarien hatte Euler Hermes/Allianz zunächst für eine am 24. Februar veröffentlichte Studie („Russia-Ukraine Crisis: Conflict Escalation“) entwickelt. Darin wird u.a. festgestellt, dass sich Russland hinsichtlich der Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der aktuellen Sanktionen aktuell in einer stärkeren Ausgangsposition befindet als im Jahr 2014 beim Krim-Konflikt.

Die folgende Allianz-Tabelle aus dieser Studie zeigt, dass die Öl- und Gaspreise aktuell deutlich höher sind als Ende 2014. Russlands Haushaltsdefizit war 2021 gemessen am BIP niedriger als 2014, der Leistungsbilanzüberschuss war mehr als doppelt so hoch. Auch die Währungsreserven sind seit 2014 kräftig gestiegen.

Indikatoren für die finanzielle Belastbarkeit Russlands
am Beginn der Krisen 2014 und 2021/2022

Euler Hermes: Russland-Ukraine: Eskalation des Konflikts; PDF; 24.02.2022

Weitere Hinweise zur Zentralbank-Umfrage: Was ist ein Median?

Die meisten Konjunkturumfragen zur voraussichtlichen Entwicklung von Produktion und Preisen ermitteln, welche Werte sich als „arithmetisches Mittel“ („Durchschnittswert“) ergeben: Die abgefragten Prognose-Werte werden addiert und ihre Summe durch die Anzahl der Prognosen dividiert.

Die russische Zentralbank weist in ihrem Bericht zu ihrer Konjunkturumfrage zwar in einer Anlage auch aus, welche Werte sie als „Durchschnittswert“ errechnet hat. In den Vordergrund rückt die Bank in ihrem Bericht aber die Entwicklung der Median-Werte („Zentralwert“).

Der „Median“ ist der Wert in der Mitte der bei der Umfrage ermittelten Prognosen. Bei einer ungeraden Zahl von Prognosen zeigt die eine Hälfte der Prognosen höhere Werte als der Median, die andere Hälfte der Prognosen zeigt niedrigere Werte. Bei einer geraden Anzahl von Prognosen ist der Median die Hälfte der Summe der beiden in der Mitte liegenden Werte.

Ein Vorteil der Verwendung des Medians als Prognose-Wert ist, dass der Median weniger durch außergewöhnliche hohe oder niedrige Prognosen bestimmt wird als das „arithmetische Mittel“. Angesichts der aktuell außergewöhnlich hohen Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Konjunkturentwicklung in Russland gibt es derzeit eine besonders große „Streubreite“ der Prognosen.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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