Am Freitag wird die russische Zentralbank mit ihrer Leitzinsentscheidung auch neue Konjunkturprognosen veröffentlichen. Seit Ende April ging sie in ihrem „Medium-term forecast“ davon aus, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr ein Wachstum von 0,5 bis 2,0 Prozent erreicht. Zentralbankpräsidentin Nabiullina meinte aber bereits Mitte Juni beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg, das Wachstum werde „in der oberen Hälfte“ dieser Spanne liegen.
Die russische Wirtschaft passe sich schneller als erwartet an die veränderten Bedingungen an. Ministerpräsident Mischustin äußerte Anfang Juli in einem Gespräch mit Präsident Putin sogar, er rechne 2023 mit einem Wachstum von „mehr als 2 Prozent“. Ein Wachstum von bis zu 2,5 Prozent hält auch der französische Russland-Experte Professor Jacques Sapir für möglich. Er berichtete jetzt von einem Seminar mit russischen Konjunkturforschern in Paris.
Die Zentralbank-Umfrage signalisiert jetzt 1,5 Prozent Wachstum für 2023
Ganz so optimistisch wie der Ministerpräsident sind auch die meisten russischen Analysten nicht. Bei der am 13. Juli veröffentlichten Zentralbank-Umfrage reichten die Prognosen der 26 russischen und 4 ausländischen Teilnehmer für das diesjährige Wachstum des russischen Bruttoinlandsprodukts zwar bis zu 2,5 Prozent. Im Mittelwert hoben die befragten Banken, Forschungsinstitute und Wirtschafts-Medien ihre Wachstumserwartung aber „nur“ auf 1,5 Prozent an.
Eine am 12. Juli veröffentlichte Interfax-Umfrage mit 10 Teilnehmern ergab für 2023 eine etwas höhere Wachstumserwartung von 1,7 Prozent. Die Prognosen für das Wachstum der Industrieproduktion und des Einzelhandels verbesserten sich in der Interfax-Umfrage auch deutlich. Gleichzeitig erwarteten die Teilnehmer angesichts der aktuellen Rubel-Schwäche für das Jahresende 2023 eine stärkere Abwertung des Rubels als bisher. Ihre Erwartungen für den Leitzinssatz am Jahresende 2023 hoben sie an. Gleichzeitig blieb ihre Inflationsprognose aber praktisch unverändert.
BIP-Prognosen 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Die bisherige Wachstumsprognose des russischen Wirtschaftsministeriums für 2023 vom 14. April beträgt 1,2 Prozent. Sie wird vom Ergebnis der neuen Zentralbank-Umfrage (+ 1,5 Prozent) erstmals übertroffen. Bei der letzten Zentralbank-Umfrage, veröffentlicht am 01. Juni, hatten die Teilnehmer noch damit gerechnet, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt 2023 um 0,8 Prozent steigt.
Die Wachstumsprognosen für 2023 sind stetig gestiegen
In der folgenden Abbildung der Zentralbank zeigen die Punkte auf den Linien die Mittelwerte der BIP-Prognosen für 2023, die sich in den letzten drei Umfragen der Zentralbank ergaben. Bei allen drei Umfragen erhöhte sich der Median der Prognosen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 deutlich. Bei der jüngsten Umfrage stieg der Median um 0,7 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent (oberer schwarzer Punkt). Bei der Juni-Umfrage war er um 0,9 Prozentpunkte auf 0,8 Prozent und bei der April-Umfrage um einen Prozentpunkt auf minus 0,1 Prozent gestiegen.
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
2023 bis 2025: Ergebnisse der im April, Juni und Juli veröffentlichten Umfragen
sowie höchste und niedrigste Prognosen in den Umfragen
Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR; 13..07.2023
Die Spannweite der Prognosen für die Veränderung des realen BIP im Jahr 2023 reichte bei der jüngsten Umfrage von + 0,7 Prozent bis + 2,5 Prozent. Bei der Anfang Juni veröffentlichten Umfrage wurde eine deutliche Rezession von einigen Analysten noch nicht ausgeschlossen. Die Prognosen reichten damals von – 1,5 Prozent bis + 1,9 Prozent.
Für die nächsten beiden Jahre erwarten die Analysten auch in der jüngsten Umfrage ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,4 Prozent (2024) und 1,5 Prozent (2025). Das ist deutlich weniger, als die Regierung prognostiziert (2024: + 2,0 Prozent; 2025: + 2,6 Prozent laut Vedomosti).
Das Inflationsziel von 4 Prozent wird erst Ende 2025 erreicht
Die folgende tabellarische Übersicht der Zentralbank zeigt die jüngsten Umfrageergebnisse im Vergleich mit den Ergebnissen der vorhergehenden Umfrage, die Anfang Juni veröffentlicht wurde, in Klammern.
Die Inflationserwartungen der Analysten nahmen in der neuen Umfrage nicht weiter ab, sondern stiegen etwas. Erwartet wird jetzt für Dezember 2023 eine jährliche Inflationsrate von 5,7 Prozent (Juni-Umfrage: 5,5 Prozent). Erst Ende 2025 soll laut der Umfrage das Inflationsziel der Zentralbank von 4,0 Prozent erreicht sein. In der Juni-Umfrage wurde damit schon für Ende 2024 gerechnet.
Die Erwartungen für die Höhe des durchschnittlichen jährlichen Leitzinses im Jahr 2023 hielten sich in der jüngsten Umfrage nicht mehr bei 7,5 Prozent, sondern stiegen auf 7,9 Prozent. 2024 wird im Jahresdurchschnitt bei einem Rückgang der Inflationsrate von 5,5 Prozent auf 5,0 Prozent nur noch ein schwacher Rückgang des Leitzinses auf 7,7 Prozent erwartet.
Starke Lohnsteigerungen bei sinkender Inflation treiben den Konsum
Die Prognose für die Arbeitslosenquote am Jahresende 2023 ist noch etwas weiter auf 3,4 Prozent gesunken. In der Juni-Umfrage war noch mit 3,6 Prozent gerechnet worden. In den beiden nächsten Jahren bleibt die Arbeitslosenquote laut der Umfrage ähnlich niedrig.
Die Erwartungen für den Anstieg der Nominallöhne haben sich gleichzeitig weiter erhöht. Die Analysten erwarten 2023 jetzt 10,0 Prozent höhere Nominallöhne. Bisher wurde ein Anstieg um 9,7 Prozent prognostiziert. Bei einem Anstieg der Verbraucherpreise um 5,5 Prozent dürften die Reallöhne in diesem Jahr damit um 4,5 Prozent steigen.
Bis 2025 halbiert sich der Reallohnanstieg aber auf gut 2 Prozent
So kräftig werden die Reallöhne in den nächsten beiden Jahren laut der Umfrage jedoch nicht weiter wachsen. 2024 wird ein Anstieg der Nominallöhne um 7,9 Prozent und 2025 um 6,1 Prozent erwartet. Der Anstieg der Verbraucherpreise dürfte gleichzeitig von 5,0 Prozent im Jahr 2024 auf 4,0 Prozent im Jahr 2025 sinken. Damit schwächt sich der Anstieg der Reallöhne 2024 auf knapp 3 Prozent ab und erreicht 2025 voraussichtlich nur noch gut 2 Prozent.
Ergebnisse der Umfrage der Zentralbank vom Juli 2023*
* In Klammern die Ergebnisse der Juni-Umfrage
Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR; 13..07.2023
Umfrage: Das Haushaltsdefizit verdoppelt sich 2023 nur vorübergehend
Zahlreiche Medien und Institute berichten zwar über sinkende Einnahmen des russischen Staates bei steigenden Ausgaben. Laut BOFIT, dem Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, waren die Ausgaben im föderalen Haushalt in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 um rund 27 Prozent höher als im Vorjahr. Die Einnahmen sanken gleichzeitig um rund 19 Prozent. Das Defizit des föderalen Haushalts im 12-Monats-Zeitraum Juni 2022 bis Mai 2023 entsprach laut BOFIT 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Das Defizit im konsolidierten Haushalt des Gesamtstaates wird in der neuen Zentralbank-Umfrage für das Jahr 2023 jedoch unverändert auf 2,7 Prozent des BIP veranschlagt. Damit verdoppelt sich die Defizitquote im Vergleich mit 2022 zwar fast. Ab 2024 wird jedoch weiterhin mit einem raschen Rückgang des Defizits bis auf 1 Prozent des BIP im Jahr 2025 gerechnet.
Das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ erwartet hingegen in seinem „Country Overview Russia“, dass das konsolidierte Defizit von 1,4 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 3,5 Prozent des BIP im Jahr 2023 steigt und sich bis 2025 nur auf 2,5 Prozent verringert.
Starker Rückgang der Ausfuhrerlöse im Jahr 2023
Die Einschätzung der außenwirtschaftlichen Entwicklung hat sich gegenüber der Juni-Umfrage wenig verändert. Die Analysten erwarten weiterhin in diesem Jahr einen starken Rückgang der Dollar-Exporterlöse um rund ein Fünftel im Vergleich zum Jahr 2022 bei gleichzeitig leicht steigenden Ausgaben für Einfuhren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ausfuhrerlöse im Jahr 2022 wegen des starken Anstiegs der Energie- und Rohstoffpreise um rund 16 Prozent gewachsen sind.
2023 wird der Urals-Ölpreis in Dollar aber laut der Umfrage gut ein Viertel niedriger sein als 2022. Mit gesunkenen Ausfuhrpreisen werden die Erlöse beim Export von Waren und Dienstleistungen im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2022 voraussichtlich um rund 22 Prozent auf 495 Milliarden US-Dollar einbrechen. Bis 2025 dürften sie sich lediglich um rund 3 Prozent auf 508 Milliarden Dollar erholen. Damit wären sie noch rund 8 Prozent niedriger als vier Jahre zuvor im Jahr 2021.
Der Exportüberschuss sinkt 2023 um rund 60 Prozent
Gleichzeitig mit dem Einbruch der Exporterlöse erhöhen sich 2023 die Ausgaben für Einfuhren voraussichtlich um rund 8 Prozent auf 380 Milliarden Dollar. Der Ausfuhrüberschuss sinkt von 286 Mrd. Dollar im Jahr 2022 auf 115 Mrd. Dollar im Jahr 2023 (rund – 60 Prozent). Bis 2025 wird ein Anstieg der Einfuhren auf 406 Milliarden Dollar erwartet. Der Ausfuhrüberschuss dürfte damit 2025 auf 102 Milliarden Dollar sinken. 2021 war er rund zwei Drittel höher (170 Mrd. US-Dollar).
Dabei wird für die Jahre 2023 bis 2025 ein ziemlich stabiler Ölpreis in US-Dollar angenommen. Der durchschnittliche Urals-Ölpreis im Jahr 2023 wird von den Analysten auf 57 USD pro Barrel geschätzt (bisher 56 USD). Im nächsten Jahr soll er auf 60 USD pro Barrel steigen und 2025 dieses Niveau halten.
Der Rubel wertet 2023 und 2024 stärker als bisher erwartet ab
Die Prognose für den durchschnittlichen Rubel-Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar im Jahr 2023 stieg im Vergleich mit der Juni-Umfrage um rund 5 Rubel von 76,9 Rubel auf 81,8 Rubel je US-Dollar. Gegenüber 2022, als im Jahresdurchschnitt nur 67,4 Rubel für einen Dollar bezahlt werden mussten, wird sich der US-Dollar laut der Prognose 2023 also um rund 21 Prozent verteuern. In den nächsten beiden Jahren wird sich das Tempo der Abwertung des Rubels laut der Umfrage stark verlangsamen. 2024 wird eine weitere Abwertung des Rubels um nur noch rund 3 Rubel auf 85,0 Rubel je US-Dollar erwartet. Mit diesem Kurs wird auch 2025 gerechnet.
Neuer Bericht von Professor Sapir zur Konjunktur in Russland
Professor Jacques Sapir, Studien-Direktor an der Pariser Hochschule „l’École des Hautes Études en Sciences Sociales“ ( EHESS), hatte sich bereits Mitte Juni im Podcast der AHK Russland „Zaren, Daten, Fakten“ im Gespräch mit Thomas Baier sehr zuversichtlich zum Wachstum der russischen Wirtschaft geäußert. Er meinte, die russische Wirtschaft könne im Jahr 2023 um 1,5 bis 2,5 Prozent wachsen (Minute 9).
Jetzt äußerte sich Sapir in einem Bericht über ein Seminar der Pariser „School of Economic Warfare“ und des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften am 03. bis 05. Juli in Paris erneut ausführlich zur Konjunktur in Russland (französische Fassung; englische Übersetzung von „Dezan, Shira & Associates“).
Sapir berichtet, dass einige Ökonomen für das zweite Halbjahr 2023 eine starke Verlangsamung des Wachstums der Produktion der russischen Wirtschaft erwarten, die das Wachstum im gesamten Jahr 2023 auf 1 bis 1,5 Prozent begrenzen dürfte. Er stellt den Argumenten, die für dieses „schwache“ Wachstum der russischen Wirtschaft vorgebracht werden, Argumente gegenüber, die für ein Wachstum von 2 Prozent und mehr sprechen.
Als Argumente für ein Wachstum der Wirtschaft von höchstens 1,5 Prozent nennt Sapir unter anderem:
- Die Investitionen scheinen im 1. Quartal 2023 deutlich nachgelassen zu haben und werden auch im 2. Quartal schwach bleiben.
- Die Fiskalpolitik und die Geldpolitik der Zentralbank könnten restriktiver werden.
- Der Export wird 2023 nicht mehr wie im Jahr 2022 die Rolle der „Lokomotive“ des Wachstums spielen.
- Der Rückgang des Wechselkurses (von der Zentralbank gewollt, um die Steuereinnahmen des Staates zu maximieren) wird sich negativ auf den Konsum der Haushalte auswirken.
Sapir: Die Fiskal- und Geldpolitik werden das Wachstum nicht bremsen
Professor Sapir entgegnet diesen Argumenten unter anderem, die Haushaltspolitik der russischen Regierung werde „relativ expansiv“ bleiben. Er meint:
Über den Kurs der Wirtschaftspolitik der Regierung herrscht zwar weiterhin erhebliche Unsicherheit. Im ersten Quartal 2023 stützte die Regierung die Wirtschaft weiterhin und nahm ein relativ hohes Haushaltsdefizit in Kauf. Die Möglichkeit einer „Rückkehr zur Haushaltsorthodoxie“ sollte aber nicht unterschätzt werden.
Mit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 wird Russland jedoch in einen neuen „Wahlzyklus“ eintreten. Logischerweise dürfte die Fiskalpolitik relativ expansiv bleiben. Die Regierung wird an ihrer „Butter and Guns“-Politik festhalten, die sich ganz deutlich auf das Wachstum auswirkt.
Die weitere Entwicklung der Leitzinsen hält Sapir für „weniger wichtig“ als vor dem Jahr 2022. Er begründet das so:
Aufgrund des starken Rückgangs der Inflation sind die Realzinsen in Russland zwar sehr hoch. Dies könnte ein Faktor sein, der die Wirtschaftsaktivitäten bremst. Bankkredite spielen in Russland für Investitionen inzwischen aber eine „untergeordnete Rolle“. Die offiziellen Zinssätze sind deswegen weniger wichtig sind als vor 2022.
Die Abwertung des Rubels sieht Sapir einerseits als Inflationsrisiko, andererseits aber auch als Einnahmequelle für den Staatshaushalt:
Einerseits ist klar, dass eine Abwertung des Rubels den Kauf von Ausrüstungen und Ersatzteilen aus dem Ausland verteuert und die Verbraucherpreise in die Höhe treibt, auch wenn der Anteil der Importe deutlich gesunken ist.
Andererseits erhöhen sich durch die Abwertung die Importsteuereinnahmen in Rubel. Das ermöglicht eine expansivere Haushaltspolitik
Warum Professor Sapir ein Wachstum bis zu 2,5 Prozent erwartet
Für ein starkes Wirtschaftswachstum sprechen laut Sapir folgende Argumente:
- Die private Inlandsnachfrage dürfte aufgrund des Anstiegs der Reallöhne und der Erhöhung von Renten und verschiedener Zulagen weiterhin hoch bleiben.
- Die öffentliche Nachfrage wird weiterhin stark bleiben, und zwar sowohl aufgrund der Ausgaben für den anhaltenden Krieg in der Ukraine als auch aufgrund der von der Regierung begonnenen Infrastrukturprogramme.
- Die Unternehmen sind auf einem starken Wachstumskurs und ihre Erwartungen sind eindeutig optimistisch.
WIIW-Experte Astrov: Die „Kriegswirtschaft“ erklärt nur einen Teil des Wachstums
Wie Professor Sapir ist auch Vasily Astrov, Russland-Experte des „Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche“, der Ansicht, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft nur zum Teil durch die „Kriegswirtschaft“ in Russland erklären lässt. In einem Interview mit dem niederländischen NRC Handelsblad erläuterte Astrov die Anhebung der Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft in der „Sommer-Prognose“ des WIIW auf 1,0 Prozent so:
„Das Wachstum, das wir in diesem Jahr erwarten, lässt sich zum Teil durch die Kriegswirtschaft in Russland erklären. Die Regierung schafft viel Inlandsnachfrage, mit Bestellungen für Drohnen, Panzer, Textilien für Uniformen, Medikamente – alles, was mit dem Krieg zu tun hat.
Zudem sind die Reallöhne gestiegen. Dadurch haben die Verbraucher mehr Geld zum Ausgeben. Die Inflation ist niedrig, etwa 3 Prozent. Das reale Lohnwachstum betrug in den ersten vier Monaten dieses Jahres auf Jahresbasis durchschnittlich mehr als 4 Prozent.“
Zur Widerstandsfähigkeit Russlands gegenüber Sanktionen meint Astrov:
„Man muss sich fragen, wie die russische Regierung all diese Kriegsausgaben weiterhin finanzieren kann. Russland bereitete sich seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 auf diesen Konflikt vor. Es reduzierte seine Auslands- und Staatsschulden und baute Devisenreserven auf. Deswegen ist Russland widerstandsfähiger gegenüber Finanzsanktionen.
Nach dem Einmarsch in die Ukraine brach im vergangenen Jahr in Russland eine kurze Finanzpanik aus. Schon damals reagierten die Behörden aus makroökonomischer Sicht vernünftig, auch mit Kapitalkontrollen.“
Nicht nur die Regierung, so Astrov, sondern auch die russische Wirtschaft habe sich als widerstandsfähig erwiesen: „Im Gegensatz zur Sowjetunion haben wir eine weitgehend privatisierte Wirtschaft, die sich als flexibel erwiesen hat.“
Insbesondere in Asien hätten die Unternehmen alternative Versorgungswege für Importe und neue Absatzmärkte für ihre Exporte gefunden.
Astrov: „Dieser Unternehmergeist ist beeindruckend.“
Zentralbank-Schätzung: Der konjunkturelle Höhepunkt ist fast wieder erreicht
Die volkswirtschaftliche Abteilung der russischen Zentralbank stellt in ihrem Konjunkturbericht „Talking trends“ fest, die russische Wirtschaft habe „ihren bisherigen konjunkturellen Höhepunkt“ bereits fast wieder erreicht. Ein starker fiskalischer Impuls, gepaart mit einem kräftigen Wachstum der Kredite, hätten die Nachfrage über das „Gleichgewichtsniveau“ getrieben. Das Angebot an Gütern und Dienstleistungen bleibe zunehmend hinter der Nachfrage zurück, trotz hoher Wachstumsraten der Produktion. Der Mangel an Arbeitskräften und Produktionskapazitäten verschärfe sich. Dies führe zu einem verstärkten Preisanstieg.
Die Zentralbank schätzt, dass sich das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2023 aufgrund des weiteren Anstiegs der privaten Inlandsnachfrage und anhaltend starker Impulse von den staatlichen Ausgaben beschleunigt hat. Gegenüber dem ersten Quartal sei das BIP saisonbereinigt voraussichtlich um 0,7 Prozent gestiegen.
Dazu veröffentlicht die Zentralbank folgende Abbildung zur Entwicklung der Produktion in „Basis-Bereichen“ der Wirtschaft (laut Rosstat gehören zu den „Basis-Bereichen“ u.a.: Landwirtschaft; Industrie; Bauwirtschaft; Groß- und Einzelhandel, ohne KFZ-Handel; Personen- und Güterverkehr). Die Abbildung zeigt, dass die Produktion im Mai 2023 wieder den bisherigen Höchststand vom Jahresende 2021 erreicht hat.
Entwicklung der Produktion in Basis-Bereichen der Wirtschaft,
saisonbereinigt, Januar 2021=1
Russische Zentralbank: Talking Trends, 5/2023, 12.07.2023
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
„Mehr als 2 Prozent“ – Hohe Wachstumserwartungen in Russland, 10.07.23
Russland: Konjunkturdaten stützen Wachstumsprognosen – trotz „Meuterei“, 03.07.23
Russlands Konjunktur: Deutsche Institute bleiben sehr geteilter Meinung, 25.06.23
Russland: Weitere Rezession oder Wachstum der Wirtschaft? 12.06.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument unter anderem zu:
- ZDF: Pressemitteilung:zur Doku “Putins Abgrund – Diktatoren-Dämmerung in Russland?“
- Phoenix: “Historischer Blick”: Gabriele Krone-Schmalz, Gerd Ruge und Peter Scholl-Latour im Jahr 2014 zur Ukraine-Politik
- Der Standard, Andras Szigètvari: Russlands Wirtschaft wächst trotz Sanktionen. Wie kommt das?
- GTAI, Hans-Jürgen Wittmann: Umbau zur Kriegswirtschaft dämpft den Abschwung.
- Josephine Bollinger-Kanne: Einnahmen für Russland durch Gasexporte brechen dramatisch ein