Szenarien zur russischen Wirtschaftspolitik

Gibt es in Russland umfassende Reformen nach Bildung der neuen Regierung?

Am 7. Mai wird Präsident Putin seine neue sechsjährige Amtszeit antreten. Wird Ministerpräsident Medwedew im Amt bleiben? Wie lange wird es dauern, bis die neue Regierung gebildet ist? Welche Wirtschaftspolitik wird sie verfolgen? Gibt es Chancen, dass rasch umfassende Reformen verwirklicht werden, wie sie insbesondere der frühere Finanzminister Alexei Kudrin vorgeschlagen hat?

Den Russland-Beobachtern wird in der nächsten Zeit der Stoff für Spekulationen und Prognosen nicht ausgehen. Schon im Umfeld der Präsidentenwahl Mitte März wurden etliche Szenarien veröffentlicht. Oft rechnen die Experten damit, dass es auch nach der Wiederwahl Präsident Putins weitgehend bei Versprechungen von Reformen bleiben wird. Ihre Realisierung werde wohl weiter auf sich warten lassen.

Wir haben uns näher angesehen, was Tatiana Evdokimova (Nordea-Bank), Andreas Schwabe (Raiffeisenbank International) und Professor Yakov Mirkin (Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, IMEMO), zu den Perspektiven der russischen Wirtschaftspolitik sagen. Sie alle glauben nicht an rasche Reformen.

Financial Times: Kudrin kommt – Medwedew bleibt

Hoffnungen auf eine reformorientierte Politik der neuen Regierung machte jedoch am 02. Mai die Financial Times. Sie berichtet von Stimmen aus der Regierung, Präsident Putin wolle wahrscheinlich Alexei Kudrin in die neue Präsidialverwaltung als eine Art „Repräsentant des Präsidenten für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit“ aufnehmen. Ministerpräsident werde Dmitry Medwedew bleiben, aber seine Befugnisse in der Wirtschaftspolitik würden zugunsten von Kudrin begrenzt.

Die Financial Times zitiert dazu eine Stellungnahme von Professor Evgeny Gontmakher, Stellvertretender Direktor des IMEMO. Wenn Kudrin Mitglied der Präsidialverwaltung oder der Regierung werde, wäre dies ein Zeichen, dass man sich auf „gewisse“ Änderungen der russischen Politik geeinigt habe, einschließlich der Außenpolitik.

Stefan Meister: Steigende Ölpreise und erfolgreiche Wirtschaftspolitik sichern Putins Macht und schwächen Einflussmöglichkeiten des Westens

Dr. Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, erwartet aber nicht, dass Präsident Putin in den nächsten sechs Jahren mehr Kompromissbereitschaft zeigen wird und die Einflussmöglichkeiten des Westens auf die russische Politik wachsen. Er schreibt in einem Beitrag in „DGAPkompakt“ („In der Eskalationsspirale – Russland und der Westen nach der Wahl“):

„Neue ökonomische Spielräume – entstanden aufgrund steigender Ölpreise – und eine erfolgreiche makroökonomische Politik sichern Putins Macht für die kommenden Jahre weiter ab.

Im „Doing Business“-Ranking der Weltbank ist Russland zwischen 2010 und 2017 von Platz 124 auf 35 gestiegen. So bleibt neben Mitteln für die militärische Modernisierung nun auch etwas Geld für Sozialleistungen übrig.

Die geringe Inflation sowie die in den vergangenen Jahren erfolgte gewonnene Stabilisierung der Banken und ein Abbau bürokratischer Hindernisse ermöglichen eine Neuausrichtung des Wachstumsmotors nach innen. Ein Bauboom für Wohnungen und Infrastruktur sowie die Förderung des Dienstleistungssektors sollen dabei die bisherige Abhängigkeit vom Rohstoffsektor senken.

All diese Faktoren stärken den neuen alten Präsidenten. Sie lassen damit nichts Gutes ahnen für die Einflussmöglichkeiten des Westens und die Kompromissbereitschaft von Wladimir Putin in den nächsten sechs Jahren.“

Evdokimova: Unsicherheit über wirtschaftspolitische Agenda belastet

Tatiana Evdokimova, Chefvolkswirtin für Russland der Nordea-Bank, kommentierte die Wirtschaftspolitik Russlands und die Perspektiven für baldige wirtschaftspolitische Reformen im kürzlich veröffentlichten „Economic Outlook“ der Bank. Sie macht wenig Hoffnungen, dass eine neue Regierung rasch Reformen beschließt.

Evodokimova nennt als primäre Ursache für die Unsicherheit, die die russische Wirtschaft derzeit vor allem belastet, zwar die neuen US-Sanktionen. Zum äußeren Druck durch die Sanktionen und die geopolitischen Spannungen (Syrien-Konflikt, Skripal-Attentat) käme aber ein Mangel an Klarheit über die wirtschaftspolitische Agenda in der nächsten Amtsperiode des Präsidenten hinzu.

Im Mittelpunkt des Interesses stehe jetzt die Zusammensetzung der neuen Regierung, die im Mai gebildet werden soll. Danach werde die Unsicherheit in der Wirtschaft aber nur wenig abnehmen. Die Einstellung „abwarten und sehen was kommt“ werde in der Wirtschaft bis zur Veröffentlichung des neuen Regierungsprogramms anhalten. Unglücklicherweise sei dafür offiziell kein Termin festgelegt.

Evdokimova meint, durch diese Faktoren sei das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft auf eine „wenig beeindruckende“ Rate von höchstens 1,5 Prozent begrenzt. Sie behinderten ein stärker investitionsorientiertes Wachstum. Die weitere Isolierung Russlands von der Weltwirtschaft und die Beschränkungen für den Technologieimport würden das Wachstumspotenzial senken. Das Ziel, das Wachstum der russischen Wirtschaft dem Wachstum der Weltwirtschaft (rund 4 Prozent) zu nähern, erscheine angesichts der jüngsten Entwicklungen sehr viel weniger realistisch.

Ihre Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2018 nahm Evdokimova von 1,8 Prozent auf 1,2 Prozent zurück (Ostexperte.de berichtete).

Lob für Russlands Geld- und Finanzpolitik

Die Anstrengungen der russischen Zentralbank und des Finanzministeriums die Geld- und Finanzpolitik zu verbessern, beurteilt die Chefvolkswirtin der Nordea aber als erfolgreich. Sie seien durch die extreme Volatilität der Märkte im April einem „Stress-Test“ unterworfen worden.

Dank der gewachsenen Glaubwürdigkeit der Zentralbank könnten negative Folgen der Marktschwankungen offenbar begrenzt werden. Trotz der Abwertung des Rubels im April, gebe es gute Chancen, den Anstieg der Verbraucherpreise am Jahresende in der Nähe des 4-Prozent-Zieles zu halten. Die Geldpolitik hänge jetzt völlig von der geopolitischen Entwicklung ab. Falls die internationalen Spannungen nachließen, gebe es Raum für eine weitere Leitzinssenkung um mindestens 0,25 Prozentpunkte bis zum Jahresende.

Der russischen Finanzpolitik ist es, so Evdokimova, mit den 2016 eingeführten Budget-Regeln gelungen, die Währungsreserven Russlands um 27 Milliarden Dollar zu erhöhen. Das habe Russland in der aktuellen Krise geholfen. Der Ankauf von Devisen werde fortgesetzt, wenn sich die Märkte beruhigten.

Raiffeisenbank International zu Szenarien der russischen Wirtschaftspolitik

Andreas Schwabe, Osteuropa-Experte der Wiener Raiffeisenbank International, skizzierte Anfang April in der „Moskauer Deutschen Zeitung“, welchen Kurs die russische Wirtschaftspolitik nach der Wiederwahl Präsident Putins verfolgen dürfte. Mit rund 60 Prozent Wahrscheinlichkeit erwartet Schwabe „eher wenig Änderungen“ in der Wirtschaftspolitik. Einem „deutlichen Reformkurs“ ordnet er nur rund 15 Prozent Wahrscheinlichkeit zu.

Schwabes Basisszenario: „Eher wenig Änderungen“

  • Das Finanzministerium fährt weiterhin einen Sparkurs, das Haushaltsdefizit erreicht in den kommenden Jahren eine „schwarze Null“.
  • Die Zentralbank senkt die Leitzinsen nur langsam auf ein Niveau zwischen sechs und sieben Prozent.
  • Reformen werden auf das Notwendigste – z.B. eine Anpassung des Rentenalters – begrenzt. Es dürfte nur wenige Privatisierungen geben, der Einfluss des Staates und der Staatskonzerne auf die Wirtschaft dürfte sehr hoch bleiben.

Zu diesem Szenario würden, so Andreas Schwabe, mittelfristige Wachstumsraten nahe dem aktuellen Niveau von ein bis zwei Prozent pro Jahr passen.

Noch mehr Staat und Isolationismus sind möglich

Mit 25 Prozent Wahrscheinlichkeit hält Schwabe eine „verschärfte Entwicklung zu einer noch mehr vom Staat und Monopolen dominierten Wirtschaft und einem fortgesetzten Trend zum Isolationismus“ für möglich. Dies könne die Stagnationstendenzen in der russischen Wirtschaft noch weiter verstärken.

Deutliche Reformen unwahrscheinlich

Mit nur 15 Prozent Wahrscheinlichkeit erwartet Schwabe, dass nach den Wahlen ein „deutlicher Reformkurs“ eingeschlagen wird, zum Beispiel mit Privatisierungen, Bürokratieabbau und einer stärkeren Bekämpfung von Monopolen.

Warum Schwabe Reformen für unwahrscheinlich hält:

  • Sie würden auf deutliche Widerstände treffen, „da die Profiteure des jetzigen Wirtschafssystems mit Einbußen zu rechnen hätten“.
  • Soziale Härten und Entlassungen wären schwer vermeidbar.
  • Eine höhere Wirtschaftsdynamik (Wachstum von rund drei Prozent) würde erst nach einer Talsohle von ein bis zwei Jahren langsam sichtbar.

Schwabe schließt Reformen aber nicht völlig aus. „Das gute Abschneiden Putins könnte dem Kreml das notwendige Selbstvertrauen zu Reformen geben“, meint er.

Professor Mirkin hält Liberalisierungskurs für noch unwahrscheinlicher

Am Schluss eines Vortrags beim „International Center for Advanced and Comparative EU-Russia-NIS Research“ (ICEUR) am 22. März in Wien, skizzierte Professor Yakkov Mirkin (Leiter des Instituts für internationale Kapitalmärkte im Moskauer Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, IMEMO) kurz nach der Wiederwahl Präsident Putins auch Szenarien zur künftigen Entwicklung der Wirtschaftspolitik. Sie ähneln der Sicht von Andreas Schwabe.

Die Wahrscheinlichkeit einer plötzlichen Wende der Wirtschaftspolitik zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung, die die Wirtschaft mit allen geeigneten Instrumenten stimuliert, veranschlagt Mirkin nur auf 5 bis 10 Prozent.

Sein wahrscheinlichstes Szenario nennt er „Eingefrorene Wirtschaft“ (Wahrscheinlichkeit 50 bis 55 Prozent). Sie beschreibt er als eine stagnierende, „halb-geschlossene“ Wirtschaft mit veraltenden Technologien.

Für wahrscheinlicher als einen Liberalisierungskurs hält Mirkin auch eine Entwicklung ähnlich der spanischen Wirtschaft Ende der 50ger und Anfang der 60ger Jahre („Managed Cold“ nennt er sie; 30 bis 35 Prozent Wahrscheinlichkeit). Auch ein Szenario „Tsunami“, in dem nach einem starken internen oder externen Schock der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt auf über 85 Prozent erhöht wird, hält er für wahrscheinlicher (10 bis 15 Prozent) als einen Liberalisierungskurs (5 bis 10 Prozent).

Quellen und Lesetipps:

Titelbild
Quelle: kremlin.ru [/su_spoiler]