Russlands Wirtschaft vor dem SPIEF 2019

Ein Überblick über Russlands Wirtschaft – und was der IWF der Regierung rät

Wie sehen die aktuellen Wachstumsraten aus? Welche Prognosen treffen Experten über die russische Wirtschaft? Ein Überblick kurz vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg (SPIEF).

Kurz vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg sorgte er wieder für Schlagzeilen. Rechnungshofpräsident Kudrin, um den es zuletzt etwas stiller geworden war, brachte sich in Erinnerung. Er sei weiterhin der Meinung, dass Russlands Wirtschaftswachstum in diesem Jahr ein Prozent nicht übersteigen werde, meinte Kudrin laut TASS gegenüber Journalisten. Auch der Internationale Währungsfonds äußerte sich bereits im Vorfeld des SPIEF, das am 06. Juni beginnt, zu den Konjunkturaussichten in Russland und zur russischen Wirtschaftspolitik.

Bereits am letzten Montag war die Entwicklung der russischen Wirtschaft Thema einer Konferenz im Nachbarland Finnland. In Helsinki lud BOFIT, das renommierte „Bank of Finland Institute for Economies in Transition“, zu Vorträgen ein. Laura Solanko, Senior-Advisor bei BOFIT, widmete sich zur Einführung der Frage „Wird sich Russlands Wachstum abschwächen?“.

Nur knapp 1 Prozent Wachstum pro Jahr seit 2009

Solanko erinnerte zunächst an die höchst unterschiedliche „Wachstumsgeschichte“ Russlands in den letzten 20 Jahren. Dem „Boom“ von 1999 bis 2008, als die gesamtwirtschaftliche Produktion um jährlich 6,9 Prozent stieg, schlossen sich von 2009 bis 2018 zehn Jahre mit einem Wachstum von durchschnittlich nur 0,9 Prozent an.

Quelle: Laura Solanko (BOFIT): Präsentation Russland-Konferenz 2019, 27.05.2019

Die BOFIT-Expertin stellte fest, dass die russische Wirtschaft nach der Rezession im Jahr 2015 zwar wieder wächst. Aber erst im letzten Jahr hat sie den Rückgang der Produktion um 2,3 Prozent im Rezessionsjahr 2015 wettgemacht. Mit dem schwachen Wachstum in den Jahren 2016 (+0,3 Prozent) und 2017 (+1,6 Prozent) war das noch nicht gelungen. Der kleine Wachstumssprung im letzten Jahr (+ 2,3 Prozent) brachte die Produktion dann wieder über das vor der Rezession erreichte Niveau.

Im laufenden Jahr dürfte das Wachstum jedoch schon wieder deutlich geringer ausfallen. Laura Solanko verwies darauf, dass sich das Wachstum zu Beginn des Jahres 2019 abschwächte.

Wirtschaftswachstum sank in den ersten vier Monaten auf 0,8 Prozent

Nach Schätzung der Statistikbehörde Rosstat war das Bruttoinlandsprodukt in den ersten drei Monaten nur 0,5 Prozent höher als vor einem Jahr. Das russische Wirtschaftsministerium veröffentlichte dazu am letzten Freitag in seinem Bericht „Bild der Wirtschaftsaktivität“ folgende Abbildung. In ihr sind die von Rosstat errechneten vierteljährlichen Wachstumsraten gegenüber dem jeweiligen Quartal des Vorjahres durch dunkle Punkte markiert.

Abb. 1: “Im April beschleunigte sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts“

Quelle: Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität; 24.05.2019

Das Wirtschaftsministerium meinte in einer Presseerklärung dazu, die Erhöhung der Mehrwertsteuer habe die inländische Nachfrage geschwächt. Die Kreditaufnahme der Unternehmen wachse weiterhin nur langsam und die Aufnahme von Hypotheken schwäche sich etwas ab. Die „allgemeine Nachfrageschwäche“ werde auch durch den raschen Rückgang der Inflationsrate bestätigt.

Im April hat sich nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums die monatliche  Wachstumsrate jedoch auf 1,6 Prozent beschleunigt (hellblaue Linie). Allerdings war die Beschleunigung des Wachstums zum Teil „kalenderbedingt“: Es gab im April einen Arbeitstag mehr als vor einem Jahr. Den Anstieg des BIP in den ersten vier Monaten schätzt das Ministerium auf 0,8 Prozent.

Im weiteren Jahresverlauf rechnet das Wirtschaftsministerium jedoch mit einer Beschleunigung des Wachstums. Auch Zentralbankpräsidentin Nabiullina geht davon aus. Das meldete Reuters am 30. Mai. Erwartungen, die Zentralbank werde schon bei ihrer Sitzung am 14. Juni den Leitzins von derzeit 7,75 Prozent senken, könnten damit einen Dämpfer erhalten haben. Laut Reuters sagte Nabiullina, es sei „zu früh, um über die Möglichkeit einer Änderung des Leitzinses am 14. Juni zu reden.“

Regierung und Analysten erwarten im 2019 nur 1,3 bis 1,5 Prozent Wachstum

Im Jahresdurchschnitt soll das Wachstum nach den Erwartungen des Wirtschaftsministeriums noch 1,3 Prozent erreichen. Gegenüber 2018 wäre das aber fast eine Halbierung des Wachstumstempos. Ähnlich skeptisch sieht auch eine große Mehrheit der Analysten die Wachstumsaussichten in diesem Jahr: Das zeigten Umfragen von Bloomberg (+ 1,2 Prozent), der Moskauer „Higher School of Economics“ (+ 1,3 Prozent), des Research-Unternehmens FocusEconomics (+ 1,4 Prozent) und von Reuters (+1,5 Prozent).

  Bruttoinlandsprodukt, real ggü. Vj. %  
201920202021
RIA Rating28.05.191,3
Berenberg Bank, Hamburg27.05.191,31,7
Helaba, Frankfurt24.05.191,71,7
Commerzbank, Frankfurt17.05.191,51,2
DekaBank, Frankfurt15.05.191,41,6
Nordea, Stockholm15.05.191,31,5
SEB, Stockholm15.05.191,62,0
Economist Intelligence Unit15.05.191,51,61,7
OPEC, Wien14.05.191,6
EBRD, London08.05.191,51,8
EU-Kommission, Brüssel07.05.191,51,8
FocusEconomics07.05.191,41,71,7
Reuters Umfrage30.04.191,5
HSE-Umfrage30.04.191,31,71,9
Morgan Stanley26.04.191,51,6
Citibank24.04.191,72,52,5
BNP Paribas, Paris19.04.191,51,7
Eurasian Development Bank17.04.191,52,0
Russisches Wirtschaftsministerium09.04.191,3
Urals 63,4 $/b
2,0
Urals 59,7 $/b
3,1
Urals 57,9 $/b
Internationaler Währungsfonds09.04.191,61,7
Weltbank; Financial Inclusion05.04.191,41,81,8
Gemeinschaftsdiagnose04.04.191,51,7
Danske Bank, Kopenhagen01.04.191,31,8
WIIW, Wien27.03.191,81,71,9
Russische Zentralbank,
Basisszenario
22.03.191,2 bis 1,7
Urals 60 $/b
1,8 bis 2,3
Urals 55 $/b
2,0 bis 3,0
Urals 55 $/b
Sachverständigenrat19.03.192,11,6
BOFIT, Bank of Finland15.03.191,41,71,6

BOFIT erwartete in seiner Russland-Prognose Mitte März, dass sich das Wachstum 2019 auf 1,4 Prozent abschwächt und auch in den beiden nächsten Jahren kaum stärker sein wird (2020: 1,7 Prozent; 2021: 1,6 Prozent).

Solanko: „3 Prozent Wachstum sind schwer zu glauben“

Laura Solanko wies in ihrem Vortrag zwar auf die solide Basis hin, die die russische Wirtschaftspolitik geschaffen habe. Im Föderationshaushalt und im Haushalt des Gesamtstaates wurden 2018 hohe Überschüsse erreicht. Die Geldpolitik der Zentralbank konnte die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt 2018 auf 2,9 Prozent senken. Mit der Mehrwertsteuererhöhung zog sie zwar im März 2019 auf 5,3 Prozent an, sank im April aber bereits wieder (+ 5,2 Prozent).

Trotz dieser Erfolge meint Solanko aber, es sei schwer zu glauben, dass die russische Regierung ihr Wachstumsziel von rund 3 Prozent (ab 2021) erreichen werde. Die Regierung setze diese Erwartung auf die Substitution von Importen durch russische Produkte, eine Förderung der heimischen Wirtschaft und umfangreiche „nationale Projekte“. Die für mehr Wachstum erforderlichen realen Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen seien aber nicht Teil dieser Programme stellt Solanko am Schluss ihres Vortrags heraus.

IWF: „Nationale Projekte“ reichen nicht zur Wachstumsbelebung

Auch der Internationale Währungsfonds unterstrich nach Beratungen mit der russischen Regierung im Mai in einer Stellungnahme zur russischen Wirtschaftspolitik die Bedeutung von Reformen zur Förderung des Wettbewerbs und zur Begrenzung der Eingriffe des Staates in die Wirtschaft.

Der IWF meint in seiner Stellungnahme, dass die russische Wirtschaft 2019 mit einer ähnlich niedrigen Wachstumsrate wächst wie im Durchschnitt der letzten 3 Jahre (1,4 Prozent).

Um das Wachstumspotenzial zu erhöhen, müsse die Regierung strukturelle Reformen der russischen Wirtschaft in den Mittelpunkt stellen. Mit dem Übergang zu einer flexiblen Wechselkurspolitik, ihrer Finanzpolitik („Fiskal-Regel“) und ihrer Geldpolitik („inflation targeting“) habe sie bereits ein glaubwürdiges makroökonomisches Rahmenwerk geschaffen, das wichtige Grundlagen dafür biete. Auch die erreichten Verbesserungen im Bankensektor und die 2018 beschlossene Rentenreform könnten das Wachstum unterstützen.

Von den öffentlichen Infrastrukturausgaben im Rahmen der „Nationalen Projekte“ erwartet der IWF in Kombination mit dem höheren Arbeitskräfteangebot durch die Rentenreform eine Steigerung der potenziellen Wachstumsrate in einer Spanne von 0,1 bis 0,5 Prozentpunkten. Wie stark der Wachstumseffekt sein werde, werde davon abhängen, wie effektiv die Projekte ausgewählt, geplant und umgesetzt würden. Außerdem müssten sie ergänzt werden durch weitreichende Anstrengungen zur Stärkung des Wettbewerbs, zur Verringerung des Anteils staatlicher Unternehmen an der Wirtschaft und zur Verbesserung ihrer Effizienz.

Der IWF ist für eine weitere fiskalische Konsolidierung, sieht aber Möglichkeiten für eine geldpolitische Lockerung

Der IWF rät der russischen Regierung bei der Anwendung der „Fiskal-Regel“, die vor Schwankungen des Ölpreises schütze, weitere Lockerungen zu vermeiden. Die Regierung solle quasi-fiskalische Aktivitäten des „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ (in dem staatliche Öl-Einnahmen bei Überschreiten eines bestimmten Ölpreises gespart werden) nicht zulassen. Die im Wohlfahrtsfonds gesparten Finanzmittel sollten im Interesse künftiger Generationen weiterhin in hoch-qualitativen ausländischen Anlagen investiert werden.

In der „gemäßigt festen“ Geldpolitik der russischen Zentralbank hält der IWF jetzt eine Lockerung für angemessen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer habe die Inflationsrate weniger als erwartet beschleunigt. Die Inflationsrate könne das Ziel von 4 Prozent in den ersten Monaten des Jahres 2020 auch bei einem sinkenden Leitzins erreichen. Verzögerungen bei der Senkung der Zinsen würden die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass im nächsten Jahr das Inflationsziel unterschritten würde.

Um das Wachstum signifikant zu erhöhen, muss die russische Regierung nach Ansicht des IWF mit Reformen den fehlenden Wettbewerb und im Zusammenhang damit den hohen Anteil staatlicher Unternehmen an der Wirtschaft und die weitgehenden Eingriffe des Staates in die Aktivitäten der Unternehmen angehen.

Der IWF hatte sich zuvor in seinem Anfang April veröffentlichten „World Economic Outlook“ zur russischen Wirtschaftspolitik ähnlich geäußert. Er kritisierte die kürzliche Lockerung der „Budget-Regel“, die das Sparen ölpreisbedingter Mehreinnahmen vorschreibt. Die Lockerung habe „einen prozyklischen positiven fiskalischen Impuls“ ausgelöst. Der Fonds warnt, dass so die Glaubwürdigkeit der russischen Haushaltspolitik geschwächt werden könnte. Eine weitere fiskalische Konsolidierung sei erforderlich, um auf mittlere Sicht die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik zu gewährleisten.

Zur Geldpolitik der Zentralbank meinte der IWF schon Anfang April, der Leitzins sei angesichts des wachsenden Inflationsdrucks in der zweiten Jahreshälfte über die „neutrale Zinsrate“ hinaus erhöht worden. Falls sich die Inflation nicht beschleunige, habe die Zentralbank deswegen die Möglichkeit, die Konjunktur geldpolitisch zu stützen, wenn sich die wirtschaftliche Aktivität in nächster Zeit abschwächen sollte.

Nabiullina: Zinssenkung ist möglich, wenn…

Die russische Zentralbank veröffentlichte auf ihrer Internet-Seite einen kurzen Hinweis auf den Bericht des IWF. Zu den bemerkenswert offenen Vorschlägen des IWF für eine Lockerung der Geldpoltik nahm sie aber nicht Stellung.

Präsidentin Nabiullina wiederholte am Donnerstag in einer Rede zum Jahresbericht der Zentralbank vor der Duma immerhin ihre grundsätzliche Position zu Leitzinssenkungen:

„Now, when the inflationary factors that required our intervention, have largely exhausted themselves, we consider it possible to return to a reduction in the rate in the II – III quarter.“

Im Verlauf des zweiten bis dritten Quartals ist eine Leitzinssenkung also möglich – unter der Voraussetzung, dass sich die inflationären Faktoren weitgehend erschöpft haben. Nabiullina rechnet damit, dass das Inflationsziel von 4 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2020 erreicht wird.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: acidmit / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik:

Berichte von Ministerien, Zentralbank, Rosstat… (mit Medien- und Analystenberichten):

Industrieproduktion im April 2019 Nach der Revision:

Vor der Revision:

·       Finanzministerium: Haushaltsergänzung 2019

·         Berichte zur Preisentwicklung im April:

Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften:

Konjunkturberichte internationaler Wirtschaftsorganisationen (EU, Weltbank, IWF…):

Sonstige periodische, meist monatliche oder vierteljährliche Konjunkturberichte

Kalender für Veröffentlichung neuer russischer Konjunkturdaten:

Sonstige Berichte und Analysen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann: