Gaidar-Institut erwartet für 2021 aber keine völlige Erholung der Produktion
Im März 2021 war die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands nach Schätzung des Wirtschaftsministerium erstmals wieder etwas höher als vor einem Jahr (+ 0,5 Prozent). Nach Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank erreichte der Anstieg sogar 0,8 Prozent. In vielen anderen Staaten bleibt das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr hingegen noch niedriger als vor der „Corona-Krise“. Dieser Bericht gibt Hinweise, wie schnell Russlands Wirtschaft insbesondere im Vergleich mit anderen großen „Emerging Markets“ die Produktionsverluste durch die Krise aufholt und wie das renommierte Gaidar-Institut die Perspektiven der russischen Wirtschaft bis 2024 beurteilt.
Schnelle Erholung vom Lockdown vor einem Jahr
Vom Einbruch der Produktion im Lockdown im zweiten Quartal 2020 hat sich die russische Wirtschaft schnell erholt. Nach Berechnungen des Forshungsinstituts der Vnesheconombank ist die gesamtwirtschaftliche Produktion im „Lockdown-Quartal“ saison- und kalenderbereinigt um 7,5 Prozent gegenüber dem vorangegangenen ersten Quartal 2020 gesunken. Rund zwei Drittel dieses Rückgangs wurden laut VEB-Institut bereits im dritten Quartal 2020 aufgeholt. Im vierten Quartal 2020 und im ersten Quartal 2021 hat sich das Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt weiter um jeweils 1,4 Prozent gegenüber dem Vorquartal erhöht.
Im ersten Quartal war das BIP nur noch 1 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor
Im Vergleich zum Vorjahresquartal hatte sich Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion Im Lockdown im zweiten Quartal 2020 um fast 8 Prozent verringert. Wie die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt ist der Rückgang gegenüber dem Vorjahresquartal im ersten Quartal 2021 auf nur noch 1 Prozent geschrumpft. Das teilte die Statistikbehörde Rosstat als „vorläufige erste Schätzung“ am 18. Mai mit. Genauere Daten wird Rosstat am 15. Juni veröffentlichen.
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent (Schätzung des VEB-Instituts)
Die ungewöhnlich kalte Witterung gab im ersten Quartal Wachstumsimpulse
Rosstat machte auch erste Angaben zur Produktionsentwicklung in wichtigen Wirtschaftsbereichen im ersten Quartal 2021. Niedriger als im Vorjahr war weiterhin die Produktion in den Bereichen des Einzelhandels und der persönlichen Dienstleistungen für die Bevölkerung, im Industrie-Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ und im Personentransport:
- Personentransport (- 34,0 Prozent)
- Bergbau, Förderung von Rohstoffen (- 7,3 Prozent)
- Dienstleistungen für die Bevölkerung (- 4,3 Prozent)
- Einzelhandel (- 1,6 Prozent)
Zuwächse der Produktion gegenüber dem Vorjahresquartal gab es vor allem bei öffentlichen Versorgungsunternehmen, dem Großhandel und dem wichtigsten Bereich der Industrie, dem „Verarbeitenden Gewerbe“:
- Wasser- und Abwasserversorgung, Entsorgung (+ 11.9 Prozent)
- Versorgung mit Strom, Gas, Dampf (+ 9,6 Prozent)
- Großhandel (+ 4,2 Prozent)
- Verarbeitendes Gewerbe (+ 0,9 Prozent)
Das VEB-Institut errechnete daraus für die folgende Abbildung, wie die Wirtschaftsbereiche zum Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,0 Prozent im ersten Quartal 2021 gegenüber dem ersten Quartal 2020 in Prozentpunkten beigetragen haben. Den größten positiven Wachstumsbeitrag im ersten Quartal 2021leistete der Bereich „Versorgung mit Strom, Gas und Dampf“ wie der hellblaue Säulenteil in der folgenden Abbildung zeigt. Ein Grund für den Produktionsanstieg in diesem Bereich war die ungewöhnlich kalte Witterung im ersten Quartal.
Beiträge der Wirtschaftsbereiche in Prozentpunkten zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im vierten Quartal 2020 und im ersten Quartal 2021
Wichtigste „Wachstumsbremse“ blieb der Industrie-Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (grauer Säulenteil). Der im ersten Quartal 2021 stark vergrößerte hellbraune Säulenteil zeigt den Beitrag „sonstiger Branchen“ zum Rückgang des BIP um 1 Prozent.
Mitte Mai hat auch der private Verbrauch die Rezession aufgeholt
Laut dem von der Sberbank berechneten „Sberindex“ überschritten die nominalen Ausgaben der russischen Verbraucher im Zeitraum vom 10. bis 16. Mai ihr bisher höchstes Niveau. Sie waren 6,5 Prozent höher als in den letzten 6 Wochen vor dem Lockdown (01.02. bis 15.03.2020). Das war laut Sberbank vor allem dem Wachstum der Ausgaben für Dienstleistungen zuzuschreiben. Sie waren 2,8 Prozent höher als vor der Pandemie.
Russland erholt sich schneller als Brasilien und Südafrika
Der Internationale Währungsfonds erwartet in seiner „Frühjahrsprognose“ vom 06. April, dass Russland 2021 mit einem Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,8 Prozent den Rückgang des Jahres 2020 (- 3,0 Prozent) klar aufholen wird. Zwei anderen großen „Emerging Markets“ wird dies laut IWF nicht gelingen. Brasilien dürfte den Ausgleich nur knapp verfehlen. Seine Wirtschaft wächst 2021 voraussichtlich um 3,7 Prozent (Rückgang 2020: – 4,1 Prozent). Südafrika kann den letztjährigen Einbruch seiner Wirtschaftsleistung um 7 Prozent mit einem Wachstum um 3,1 Prozent voraussichtlich nur knapp zur Hälfte ausgleichen.
Wachstum und Inflation in Russland im Vergleich der „Emerging Markets“
Einen umfassenderen Vergleich der Entwicklung von Wachstum und Inflation in Russland und anderen großen „Emerging Markets“ ermöglichen die Ergebnisse einer Umfrage der Nachrichtenagentur Bloomberg.Danach wird Russlands Bruttoinlandsprodukt 2021 nicht wie vom IWF erwartet um 3,8 Prozent steigen, sondern „nur“ um rund 3 Prozent, was auch den jüngsten Umfragen der Moskauer „Higher School of Economics“, des Beratungsunternehmens FocusEconomics und der Nachrichtenagentur Interfax entspricht. Um rund 3 Prozent wird voraussichtlich auch die gesamtwirtschaftliche Produktion in Brasilien zunehmen. Der Anstieg der Verbraucherpreise dürfte sich in beiden Ländern gleichzeitig auf rund 5 Prozent beschleunigen. Ein etwas stärkeres Wachstum als in Russland und Brasilien wird laut „Bloomberg Consensus“ in Südafrika und Polen mit jeweils rund 4 Prozent erwartet. Dabei dürften die Verbraucherpreise in diesen Ländern merklich weniger steigen als in Russland und Brasilien. Die Türkei dürfte ihr Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr sogar um rund 5 Prozent steigern (Wachstum 2020: knapp 2 Prozent). Die Inflationsrate wird in der Türkei mit gut 15 Prozent aber rund drei Mal so hoch wie in Russland und Brasilien sein. Die folgende Abbildung der Danske Bank zeigt diese Entwicklungen (senkrechte Skala: Veränderung der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent; horizontale Skala: Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent).
Wachstum und Inflation in Russlan im Vergleich mit anderen großen „Emerging Markets“
Besonders positiv schneidet China in diesem Vergleich wichtiger „Emerging Markets“ ab. Dort dürfte sich nicht nur das Wirtschaftswachstum auf rund 8,5 Prozent beschleunigen. Gleichzeitig wird auch ein Rückgang der Inflationsrate von rund 2,5 Prozent auf knapp 2 Prozent erwartet.
Unterdurchschnittliche Wachstumsprognose des Gaidar-Instituts
Etwas unterhalb der für 2021 in den Analysten-Umfragen ermittelten Wachstumsprognosen von rund 3 Prozent liegt die Wachstumserwartung des renommierten Moskauer Gaidar-Instituts. Alexey Vedev präsentierte die Szenarien des Instituts Ende April bei der internationalen Bankenkonferenz in St. Petersburg (PDF der Präsentation; Video der Präsentation in Minute 40 bis 60). Das Gaidar-Institut geht davon aus, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr um 2,6 bis 2,8 Prozent wachsen wird, der Produktionsrückschlag des letzten Jahres also noch nicht ganz aufgeholt wird. Es bleibt damit rund einen Prozentpunkt unter der Wachstumsprognose des IWF (+ 3,8 Prozent), die am oberen Rand der Wachstumserwartungen der russischen Zentralbank von 3 bis 4 Prozent liegt. 2022 erwartet das Gaidar-Institut eine Abschwächung des Wachstums auf 1,9 bis 2,4 Prozent. In dieser Spanne liegen unter anderem die Prognose der EU-Kommission (+ 2,3 Prozent) und das Ergebnis der HSE-Umfrage (+ 2,4 Prozent), die Ostexperte.de in der letzten Woche vorstellte.
Prognose des Gaidar-Instiuts zu Indikatoren der sozio-ökonomischen Entwicklung Russlands
Indikatoren in der Tabelle:
- Reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts; Veränderung ggü. Vorjahr in Prozent
- Nominales Bruttoinlandsprodukt; Billionen Rubel
- Verbraucherpreisanstieg im Dezember in Prozent ggü. Vorjahr
- Anlageinvestitionen; Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent
- Real verfügbare Einkommen der Bevölkerung; Veränderung ggü. Vorjahr in Prozent
- Realer Einzelhandelsumsatz; Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent
- Arbeitslosenquote in Prozent; Definition der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO
- Ölpreis „Urals“, Dollar je Barrel
- Rubel/US-Dollar-Wechselkurs (Jahresdurchschnitt)
Alexey Vedev stellte die Konjunkturprognose des Gaidar-Instituts auch in einem ausführlichen TV-Interview vor (Video 45 Minuten).
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Wachstumsprognosen Russland: EU-Kommission pessimistischer als IWF; 17.05.2021
- Rasche Erholung, aber kein anhaltend kräftiger Aufschwung; 10.05.2021
- Russische Wirtschaft: Steigende Produktion, sinkende Realeinkommen; 03.05.2021
- Kräftige Leitzinserhöhung in Russland – Zentralbank erwartet mehr Inflation; 26.04.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Deutsch-russische Beziehungen: “Potsdamer Begegnungen” (Deutsch-Russisches Forum) und “Wirtschaftspolitische Gespräche” des Ost-Instituts Wismar
- Studie zur Einbindung Russlands in den “European Green Deal” veröffentlicht
- Nord Stream 2: Aussetzung der US-Sanktionen; Interview mit OA-Geschäftsführer Harms