Wie die ING-Bank und die UniCredit Russlands Konjunktur 2021/22 sehen
Vor rund zwei Wochen senkte die OECD ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf +2,7 Prozent. Und das Berliner Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnet seit Mitte September sogar nur noch mit +2,2 Prozent. Anders die Mailänder Großbank UniCredit (+4,0 Prozent) und die Amsterdamer ING Bank (+4,3 Prozent) – die sich den Schätzungen des russischen Wirtschaftsministeriums nähern.
Die Mailänder Großbank UniCredit erhöhte ihre Wachstumsprognose für Russland Ende September von +3,4 auf +4,0 Prozent. Nachdem das russische Statistikamt Rosstat am Freitag die Konjunkturdaten für August mitgeteilt hat, hob die Amsterdamer ING Bank ihre Prognose für den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts sogar von +3,8 auf +4,3 Prozent an.
Auch bei der Ende September veröffentlichten Analysten-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters wurde im Durchschnitt mit 4,3 Prozent Wachstum gerechnet. Die russische Regierung, die bei der Planung ihres Staatshaushalts von einem Wirtschaftswachstum von +4,2 Prozent im Jahr 2021 ausgeht, kann sich also von vielen Analysten bestätigt fühlen. Im Zeitraum Januar bis August war das Bruttoinlandsprodukt nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums 4,7 Prozent höher als vor einem Jahr. Bisher folgt offenbar kaum jemand den Abwärtsrevisionen der Prognosen der OECD und des DIW für Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2021.
Einkaufsmanager-Index im Verarbeitenden Gewerbe kräftig erholt
Der am Freitag von IHS Markit veröffentlichte kräftige Anstieg des Einkaufsmanager-Indexes im Verarbeitenden Gewerbe von 46,5 Indexpunkten im August auf 49,8 Indexpunkte im September spricht auch nicht dafür, dass mit einem deutlichen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im zweiten Halbjahr zu rechnen ist.
IHS Markit Einkaufsmanager Index im Verarbeitenden Gewerbe
Der Index liegt jetzt nur noch knapp unter der „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten, ab der eine Verbesserung der Geschäftsentwicklung registriert wird. IHS Markit ermittelte in der Unternehmensumfrage, dass die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes im September erstmals seit Juni wieder gestiegen ist. Die Nachfrage der Kunden wuchs insgesamt. Dabei sanken die Aufträge aus dem Ausland aber weiter.
Das kräftige BIP-Wachstum im zweiten Quartal 2021 wurde vor allem vom Verbrauch getragen
Nach einer ersten Rosstat-Schätzung war das reale Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2021 um 10,5 Prozent höher als im zweiten Quartal 2020. Damals war es wegen des „Lockdowns“ gegenüber dem Vorjahr um 7,8 Prozent gesunken.
Am Freitag teilte Rosstat mit, wie sich die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2021 entwickelte. Vor allem der private Verbrauch wuchs kräftig (+ 28,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal). Die Bruttoanlageinvestitionen stiegen um 12,8 Prozent. Einen negativen Wachstumsbeitrag stellten die Netto-Exporte. Die realen Exporte sanken um 2,7 Prozent während die realen Importe um 31,9 Prozent stiegen.
Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der ING Bank, veröffentlichte dazu folgende Abbildung. Sie zeigt die Veränderungsraten des Bruttoinlandsprodukts im Vorjahresvergleich (violette Linie) und die Beiträge von Investitionen, Verbrauch und Netto-Exporten zur Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in Prozentpunkten.
Der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 10,5 Prozent wurde vor allem vom Verbrauch getragen; der Beitrag der Investitionen war aber auch beachtlich
Weiteres starkes Konsumwachstum im dritten Quartal
Am Freitag veröffentlichte Rosstat auch Daten zur Konjunkturentwicklung im August. Der reale Einzelhandelsumsatz (blaue Linie in der folgenden Abbildung) stieg im August um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Zum Wachstum des Einzelhandels beigetragen hat der starke Anstieg der Verbraucherkredite. Er stabilisierte sich im August bei rund 25 Prozent im Vorjahresvergleich (schattierte Fläche).
Realer Einzelhandelsumsatz, Verbraucherkredite und Reallöhne
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Eine Ursache für das reale Wachstum des Einzelhandelsumsatzes war der Anstieg der Reallöhne im Juli um 6,5 Prozent gegenüber Juli 2020 (rote Linie). Außerdem verbesserte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter. Die Zahl der Beschäftigten stieg im August auf 72,3 Millionen, einen neuen Höchststand seit Dezember 2019. Im „Lockdown“ im Frühjahr 2020 war die Beschäftigtenzahl auf rund 70 Millionen gesunken.
Die Reallöhne und die Beschäftigtenzahl stiegen weiter
Die Arbeitslosenquote sank im August auf nur noch 4,4 Prozent. Vor einem Jahr, im August 2020, war sie auf 6,4 Prozent gestiegen, den höchsten Stand seit März 2012.
2021 kommt noch ein starker Wachstumsimpuls von den Einmal-Zahlungen
Dank der im August/September erfolgten „Einmal-Zahlungen“ an Rentner, Militärangehörige und Familien mit Kindern (rund 700 Milliarden Rubel) erwartet Dolgin im September ein zweistelliges Wachstum des Einzelhandelsumsatzes. Seine bisherige Prognose für das diesjährige Wachstum des Bruttoinlandsprodukts hob er deswegen von +3,8 Prozent auf +4,3 Prozent an. Dabei geht er für das dritte Quartal von einem Wachstum um 4,5 Prozent und für das vierte Quartal um 3,0 Prozent aus.
Was das Wachstum im nächsten Jahr bremsen dürfte
2022 erwartet Dolgin (wie viele andere Beobachter; siehe Umfragen der Zentralbank und von Interfax) allerdings eine deutliche Abschwächung des BIP-Wachstums auf nur noch +2,0 bis +2,5 Prozent. Die russische Regierung geht hingegen nur von einem Rückgang der Wachstumsrate auf 3,0 Prozent aus.
Dolgin verweist zur Begründung seiner Prognose auf eine Abschwächung der Kreditaufnahme, Signale für eine relativ restriktive Geld- und Fiskalpolitik sowie mit der Covid-Pandemie verbundene Risiken. Auf „mittlere Sicht“ sieht er folgende „Risikofaktoren“ für das Wachstum:
- Beschleunigter Preisanstieg: Die aktuell starke Konsumentennachfrage hat bereits dazu beigetragen, dass sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise in der letzten Septemberwoche weiter auf +7,3 Prozent beschleunigte. Schneller steigende Preise schwächen den realen Anstieg der Einkommen und könnten die Zentralbank von einer Lockerung ihrer Geldpolitik abhalten.
- Verschärfte Bedingungen für die Gewährung von Verbraucherkrediten: Das Volumen „ungesicherter“ Kredite hat in Russland mit rund 10 Prozent des BIP bereits einen historischen Höchststand erreicht. Die Zentralbank verschärft die Anforderungen für die Kreditgewährung.
- Restriktivere staatliche Ausgabenpolitik: Die Haushaltsplanung für 2022 bis 2024 lässt eine Straffung der staatlichen Ausgabenpolitik erwarten. Investitionen in die allgemeine Infrastruktur oder in Gazprom-Projekte aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds oberhalb der derzeit diskutierten rund 12 Milliarden US-Dollar pro Jahr (0,6 Prozent des BIP) sind laut Dolgin „unwahrscheinlich“. Der Anteil der staatlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt dürfte von 21,3 Prozent im Jahr 2020 bereits im Jahr 2022 auf nur noch 17,7 Prozent gesenkt werden.
Entwurf für den Staatshaushalt 2022-24:
Die Ausgabenquote sinkt deutlich
Auch einen erneuten „Lockdown“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie schließt Dolgin nicht aus. Er macht mit Abbildungen auf die neue Infektionswelle in Russland, die historisch hohe Zahl von Sterbefällen und die niedrige Impfquote aufmerksam. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts bei einem erneuten „Lockdown“ wird nach seiner Einschätzung aber viel schwächer sein als am Beginn der Pandemie.
UniCredit erwartet nach kräftiger Erholung 2022 auch nur noch +2,4 Prozent Wachstum
Die Research-Abteilung der Mailänder Großbank UniCredit erwartet in ihrem Ende September erschienenen vierteljährlichen Konjunkturbericht für die Länder in Mittel- und Osteuropa (CEE Quarterly) für Russland einen ähnlichen Wachstumsverlauf wie die ING Bank. Die Analysten Artem Arkhipov (Head of Macroeconomic Analysis and Research Russia) und Ariel Chernyy hoben im Russlandkapitel (Seite 56-59) ihre Wachstumsprognose für 2021 von +3,4 Prozent auf +4,0 Prozent an. 2021 rechnen sie wie die ING Bank aber nur noch mit einem Wachstum von +2,4 Prozent.
Nach Schätzung der UniCredit wird im laufenden Jahr der private Verbrauch um 9,2 Prozent steigen. Der Rückschlag im Corona-Jahr 2020 um 8,6 Prozent wird damit aufgeholt. Laut UniCredit ist das Einkommen der privaten Haushalte durch die Einmal-Zahlungen vor der Duma-Wahl um 0,4 Prozent des BIP gestiegen.
Bei den Anlageinvestitionen gelingt die Erholung vom Corona-Rückschlag in diesem Jahr laut UniCredit noch nicht. Sie steigen nur um +2,2 Prozent (nach einem Rückgang um -4,3 Prozent im Jahr 2020).
Der Staatsverbrauch, der im Jahr 2020 zur Stützung der Konjunktur um 4,0 Prozent erhöht wurde, wird in diesem Jahr nur noch knapp halb so stark ausgeweitet werden (+1,8 Prozent). Der Netto-Export, der 2020 die Konjunktur mit einem Wachstumsbeitrag stützte, weil die Importe viel stärker eingeschränkt wurden (- 12.0 Prozent) als die Exporte sanken (- 4,3 Prozent), wird 2021 das Wirtschaftswachstum voraussichtlich deutlich bremsen.
Die Importe werden viel stärker wachsen (+15,1 Prozent) als die Exporte (+1,6 Prozent). Die folgende Abbildung zeigt die von UniCredit zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 4,0 Prozent im Jahr 2021 erwarteten Wachstumsbeiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten. Der weitaus größte Wachstumsbeitrag kommt vom privaten Verbrauch (Personal Consumption). Viel kleinere Wachstumsbeiträge kommen vom öffentlichen Verbrauch (Public Consumption), von den Anlageinvestitionen (Fixed Capital Formation) und von den Lagerveränderungen (Inventories). 2022 erwartet UniCredit eine Abschwächung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts auf nur noch +2,4 Prozent (graue Linie).
UniCredit: Der Verbraucherpreisanstieg sinkt von 5,9 auf 4,2 Prozent
In der letzten September-Woche beschleunigte sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr auf 7,3 Prozent. Im Dezember 2021 wird die jährliche Inflationsrate nach Einschätzung der UniCredit noch 5,9 Prozent betragen. Im Verlauf des nächsten Jahres erwartet UniCredit einen Rückgang der Inflationsrate auf 4,2 Prozent am Jahresende. Das Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent würde damit nicht ganz erreicht.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- BIP-Wachstum 2021: Gestiegene Prognosen – Aber die Produktion beginnt zu sinken; 27.09.2021
- Prognosen deutscher Institute für Russlands Wachstum differieren stark; 20.09.2021
- Weitere Leitzinserhöhung auf 6,75 Prozent; verschärfter Preisanstieg; 13.09.2021
- Russlands BIP-Wachstum: Prognosen 2021 deutlich gestiegen; 07.09.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Kommt jetzt eine neue Russlandpolitik? Antworten von Peter Köpf und den Parteiprogrammen; Diskussion beim Deutsch-Russischen Forum: „Russland im Gespräch“: mit Hermann Krause, Anna Rose, Pjotr Fedosov, Johannes Grotzky und Alexander Rahr am 04.10.2021; siehe auch: DRF-Podcast ForumsARENA: Daniel Reißmann im Gespräch mit Dr. Pjotr Fedosov; 23.09.2021
- Nord Stream 2: Uniper rechnet nicht mit zügiger Betriebserlaubnis
- Russia and the COVID-19 pandemic. Economic and social consequences; FOI-Report
- Die Herbstausgabe ist erschienen: AHK Russland: Russland in Zahlen