Sberbank hebt BIP-Prognose 2021 für Russland auf 4,4 Prozent an
Zur Verringerung der stark gestiegenen Corona-Infektionen wurden in Russland weitgehende Beschränkungen der Aktivitäten der Unternehmen angeordnet – unter anderem „arbeitsfreie Tage“. Die neuerlichen „Lockdown-Maßnahmen“ dürften den Anstieg der Produktion der russischen Wirtschaft im vierten Quartal 2021 dämpfen – ein kräftiges Wachstum der Industrieproduktion im September sorgt aber für ein gewisses Polster.
Bereits vor Anordnung der arbeitsfreien Tage meinte Wirtschaftsminister Reshetnikov mit Hinweis auf die steigenden Infektionszahlen, es sei unwahrscheinlich, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um mehr als 4,2 Prozent wachsen werde.
Nachdem die Produktion im Juli und August gegenüber dem Vormonat gesunken war, nahm sie nach ersten Rosstat-Berechnungen im September gegenüber August saison- und kalenderbereinigt um 1,7 Prozent zu und erreichte einen neuen Höchststand. Zudem stützt der weitere Anstieg des realen Einzelhandelsumsatzes im September die gesamtwirtschaftliche Produktion, die bereits im zweiten Quartal 2021 ihr „Vorkrisen-Niveau“ wieder erreichte. Die Arbeitslosenquote ist im September mit nur noch 4,3 Prozent sogar auf einen historischen Tiefstand gesunken. Die rasche Erholung der russischen Wirtschaft ist allerdings von einer unerwartet starken Beschleunigung des Preisanstiegs begleitet.
Die Sberbank rechnet 2021 jetzt mit etwas mehr Wachstum als die Regierung
Russlands Bruttoinlandsprodukt war nach ersten Schätzungen des Wirtschaftsministeriums im Zeitraum Januar bis September 4,6 Prozent höher als vor einem Jahr. Im gesamten Jahr 2021 wird die gesamtwirtschaftliche Produktion laut den Prognosen der Regierung um 4,2 Prozent höher sein als im Vorjahr. Damit rechnete bisher auch die Sberbank. Am 28. Oktober erhöhte die Bank aber ihre Wachstumsprognose für 2021 weiter auf 4,4 Prozent.
Sberbank-Prognosen für Urals-Ölpreis, Wirtschaftswachstum, Inflationsrate, Leitzins und Dollar-Kurs
Sberbank: Financial results and presentations; 28.10.2021; Presentation, S. 34; 28.10.2021
Stark angehoben hat die Sberbank jetzt ihre Prognosen zum Anstieg der Verbraucherpreise und des Leitzinses. In ihrer Ende Juli veröffentlichten Prognose rechnete die Bank noch mit einer jährlichen Inflationsrate von lediglich 5,8 Prozent am Jahresende 2021.
Unerwartet stark steigende Preise
Der Anstieg der Verbraucherpreise hat sich aber viel stärker als erwartet beschleunigt. Im September erreichte er im Vergleich zum Vorjahresmonat 7,4 Prozent. Im Zeitraum 19. bis 25. Oktober zog die Inflationsrate auf 8,0 Prozent an. Die Sberbank hob ihre Prognose für den jährlichen Preisanstieg im Dezember jetzt von 5,8 Prozent auf 7,6 Prozent an. Ihre Prognose für den Anstieg des Leitzinses bis zum Jahresende erhöhte die SberBank von 7 Prozent auf 7,75 Prozent. Nachdem der Leitzins am 22. Oktober bereits auf 7,5 Prozent erhöht wurde, erwartet die Sberbank damit im Dezember noch eine Erhöhung um 25 Basispunkte.
Auch Wirtschaftsministerium und Zentralbank erwarten mehr Inflation
Das Wirtschaftsministerium ging in seiner Ende September veröffentlichten „Prognose für die sozio-ökonomische Entwicklung Russlands im Jahr 2022 und im Planungszeitraum 2023-2024“ wie die Sberbank noch von einer Inflationsrate von 5,8 Prozent am Jahresende 2021 aus. Am 12. Oktober teilte Wirtschaftsminister Reshetnikov gegenüber der Presse jedoch mit, dass die Inflationsprognose auf 7,4 Prozent erhöht werde. Die Zentralbank rechnete Ende Juli in ihrer Prognose noch mit einer Inflationsrate von 5,7 bis 6,2 Prozent im Dezember 2021. In ihrer jüngsten Prognose vom 22.10. erhöhte sie diese Prognose auf 7,4 bis 7,9 Prozent (siehe linke Seite der folgenden Abbildung).
Kirill Tremasov, Direktor für Geldpolitik der Zentralbank, meinte dazu außerdem laut Finmarket.ru, dass die Inflationsrate im Dezember wahrscheinlich näher am oberen Ende dieser Spanne liegen werde. Bis Ende 2022 erwartet die Zentralbank einen Rückgang der Inflationsrate auf 4,0 bis 4,5 Prozent. 2023 soll das Inflationsziel der Zentralbank von 4,0 Prozent erreicht sein.
Mittelfristige Prognosen der Zentralbank
Zentralbank: „Russia’s Economic Outlook and Monetary Policy“; PDF; 28.10.2021
Die Prognosespanne der Zentralbank zum jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2021 (+ 7,4 Prozent bis +7,9 Prozent) liegt merklich über dem Ergebnis der Mitte Oktober veröffentlichten Umfrage der Zentralbank bei russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten. Bei der in der zweiten Oktober-Woche durchgeführten Umfrage hoben die Analysten ihre Prognose für die Inflationsrate im Durchschnitt „nur“ von + 5,9 Prozent auf + 7,0 Prozent an.
Eine weitgehende Übereinstimmung von Analysten und Zentralbank zeigte sich im Oktober hingegen bei der Einschätzung der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts:
- In der Umfrage der Zentralbank stieg die durchschnittliche Prognose der Analysten für das diesjährige Wirtschaftswachstum von 4,2 Prozent auf 4,3 Prozent. Sie liegt in der Mitte der von der Zentralbank erwarteten Wachstumsspanne von 4,0 bis 4,5 Prozent (siehe rechte Seite der obigen Abbildung).
- In einer Ende Oktober veröffentlichten Reuters-Umfrage stieg die durchschnittliche Wachstumsprognose von 4,3 auf 4,4 Prozent.
Jüngste Reuters-Umfrage zeigt deutlich gestiegene Inflationsprognosen
Die Veränderungen in der monatlichen Reuters-Umfrage signalisieren, dass im Verlauf des Oktobers auch Banken und Forschungsinstitute ihre Inflationsprognosen für das Jahresende 2021 stark angehoben haben. Ende September erwarteten die von Reuters Befragten im Durchschnitt für Dezember noch eine Inflationsrate von nur 6,5 Prozent. Einen Monat später nehmen sie in der Oktober-Umfrage an, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 7,8 Prozent erreichen wird. Damit wäre er kaum geringer als die Inflationsrate vom 19. bis zum 25. Oktober (+8,0 Prozent).
Weitere Leitzinserhöhung wahrscheinlich
Die Analysten erwarten in der Oktober-Umfrage von Reuters jetzt für das Jahresende auch einen deutlich höheren Leitzins als in der September-Umfrage. Damals rechneten sie im Durchschnitt mit einem Leitzins von 6,5 Prozent für das Jahresende. Jetzt liegen ihre Leitzinserwartungen zwischen 7,5 Prozent und 8,5 Prozent.
Eine weitere Anhebung des Leitzinses im Dezember von derzeit 7,5 Prozent auf 8,5 Prozent wird also nicht ausgeschlossen. Damit rechnet zum Beispiel laut Reuters die Sovcombank. Sie geht davon aus, dass sich die Inflationsrate bei 8 Prozent halten wird. Dann sei eine „entschiedene Reaktion“ der Zentralbank erforderlich.
Vereinzelt regt sich allerdings sogar in regierungsnahen Kreisen Kritik an der Zinspolitik der Zentralbank. Laut TASS meinte der Beauftragte Präsident Putins für die Rechte der Unternehmen, Boris Titow, die Inflation werde auch bei Zinserhöhungen der Zentralbank weiter steigen. Die Geldpolitik der russischen Zentralbank sei seit mindestens 10 Jahren veraltet. Überall sonst auf der Welt würde die Geldmenge erhöht, um das Wachstum und die Nachfrage der Verbraucher zu stimulieren. In Russland würden hingegen die Preise angesichts hoher Produktionskosten steigen.
Preistreiber Nahrungsmittel
Zum Anstieg der Verbraucherpreise im September um 7,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat trug die Verteuerung der Nahrungsmittel überdurchschnittlich stark bei. Sie verteuerten sich gegenüber September 2020 um 9,2 Prozent (grüne Linie in der folgenden Abbildung). Die Preise von „Nicht-Nahrungsmitteln“ stiegen um 8,1 Prozent (blaue Linie), die Preise für Dienstleistungen verteuerten sich unterdurchschnittlich stark um 4,2 Prozent (gelbe Linie).
Die Zentralbank reagierte auf die weitere Beschleunigung der Inflation am 22. Oktober mit einer Anhebung des Leitzinses um 75 Basispunkte auf 7,5 Prozent (schwarze Linie).
Leitzins der Zentralbank in Prozent pro Jahr (schwarze Linie) und
Veränderung der Verbraucherpreise gegenüber Vorjahresmonat in Prozent (Kerninflationsrate; Inflationsrate insgesamt; Preise für Nahrungsmittel, Nicht-Nahrungsmittel und Dienstleistungen)
Zentralbank: „Russia’s Economic Outlook and Monetary Policy“; PDF; 28.10.2021
Alexandra Bozhechkova , Leiterin der Abteilung für Geldpolitik des Gaidar-Instituts, machte in einem Gespräch mit dem Magazin Expert, darauf aufmerksam, dass die Nahrungsmittelpreise in Russland anders als saisonbedingt üblich in diesem Jahr im September gegenüber dem Vormonat nicht gesunken sind. Ein Grund dafür sei, dass sich die Ernte in diesem Jahr witterungsbedingt verzögert habe. Ein weiterer Grund für die Verteuerung der Nahrungsmittelpreise in Russland sei aber auch der weltweite Anstieg der Nahrungsmittelpreise. Durch die Abwertung des Rubels verteuern sich Nahrungsmittelimporte nach Russland zusätzlich.
Die Arbeitslosenquote sank im September auf ein historisches Tief
Rosstat teilte am Freitag auch mit, dass sich die Arbeitslosenquote im September weiter auf 4,3 Prozent verringert hat. So niedrig war sie laut Finmarket.ru in der gesamten Beobachtungszeit seit 1991 bisher nur im August 2019. Im Corona-Krisenjahr 2020 hatte die Arbeitslosenquote im August mit 6,4 Prozent ihren höchsten Stand seit März 2012 erreicht.
Die folgende Abbildung der Zentralbank zur Entwicklung des Arbeitsmarktes bis einschließlich August 2021 zeigt saisonbereinigte Daten.
Auf der linken Seite der Abbildung zeigt die rote Linie die Entwicklung der saisonbereinigten Arbeitslosenquote. Die blauen Säulen zeigen die Veränderung der Zahl der insgesamt verfügbaren Arbeitskräfte („Labour force“) gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent.
Die in der Abbildung angegebene Arbeitslosenquote in Höhe von 4,6 Prozent entspricht den auf der rechten Seite der Abbildung vermerkten Angaben zur Zahl der insgesamt verfügbaren Arbeitskräfte („Labour force“: 75,2 Millionen) und zur Zahl der Arbeitslosen (3,5 Millionen).
Rechts zeigt die Abbildung:
· die Zahl der insgesamt verfügbaren Arbeitskräfte (blaue Linie: 75,2 Millionen),
· die Zahl der tatsächlich beschäftigten Arbeitskräfte (gelbe Linie: 71,7 Millionen),
· die als Differenz errechnete Arbeitslosenzahl (rote Linie: 3,5 Millionen)
· die Zahl der registrierten Arbeitslosen (graue Linie: 0,9 Millionen).
Arbeitsmarktentwicklung in Russland
Zentralbank: „Russia’s Economic Outlook and Monetary Policy“; PDF; 28.10.2021
Reallöhne und real verfügbare Einkommen sind weiter gestiegen
Die Erholung der russischen Wirtschaft wird auch in der Entwicklung von Löhnen und Einkommen sichtbar. Olga Belenkaya (Chef-Volkswirtin des Finanzportals FINAM) berichtete über die von Rosstat am Freitag veröffentlichten Konjunkturdaten für September.
Das real verfügbare Einkommen der Haushalte war im dritten Quartal 2021 8,1 Prozent höher als im Vorjahresquartal. Das „Vorkrisenniveau“ im dritten Quartal 2019 wurde um 3,0 Prozent übertroffen.
Die Reallöhne überstiegen im August 2021 ihr Vorjahresniveau um 1,5 Prozent. Sie waren auch 3,0 Prozent höher als im August 2019.
Nur der Dienstleistungsumsatz ist noch etwas niedriger als vor der Krise
Der reale Einzelhandelsumsatz war in den ersten neun Monaten 2021 um 8,4 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum und um 4,3 Prozent höher als in den ersten neun Monaten des Jahres 2019.
Der Dienstleistungsumsatz hat hingegen das“Vorkrisenniveau“ noch nicht vollständig erreicht. Er stieg zwar gegenüber den ersten neun Monaten des Vorjahres um 18,8 Prozent, war aber noch 0,7 Prozent niedriger als in den ersten neun Monaten des Jahres 2019.
VEB-Institut: Die Industrieproduktion stieg gegenüber August um 2 Prozent
Die Ende Oktober beschlossenen „Lockdown-Maßnahmen“ dürften das Wachstum der russischen Wirtschaft im vierten Quartal zwar dämpfen. Dmitry Dolgin, Chefvolkswirt Russland der ING Bank, schätzt, dass eine Einhaltung der derzeitigen Restriktionen für die Dauer von einer Woche das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 0,1 Prozentpunkte verringern dürfte.
Das kräftige Wachstum der Industrieproduktion im September sorgt aber für ein gewisses „Polster“. Nachdem die Produktion im Juli und August gegenüber dem Vormonat gesunken war, nahm sie nach ersten Rosstat-Berechnungen im September gegenüber August saison- und kalenderbereinigt um 1,7 Prozent zu und erreichte einen neuen Höchststand.
Berechnungen des Forschungsinstituts der Venesheconombank zur saisonbereinigten Entwicklung der Industrieproduktion weichen von den Rosstat-Berechnungen etwas ab. Laut VEB-Institut war die saisonbereinigte Industrieproduktion im September insgesamt 2,0 Prozent höher als im August (schwarze Linie in der folgenden Abbildung).
Überdurchschnittlich stark stieg dabei die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (+ 2,7 Prozent; untere, hell-grüne Linie). Die Unternehmen des „Verarbeitenden Gewerbes“ konnten ihre Produktion nur gut halb so stark steigern (+ 1,4 Prozent; obere dunkel-grüne Linie).
Industrieproduktion (Jan. 2014=100)
Industrie insg.; Bergbau/Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe
Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 29.10.2021
ING Bank bleibt bei Wachstumsprognose von 4,3 Prozent im Jahr 2021
Dmitry Dolgin zieht aus seiner Konjunkturanalyse zwar das Fazit, dass die September-Daten darauf hindeuten, dass die Erholung im Konsumbereich an Schwung verliert. Der beschleunigte Preisanstieg, die Lockdown-Maßnahmen und die vorsichtige Geld- und Fiskalpolitik werden nach seiner Meinung das Wachstum im vierten Quartal und im Jahr 2022 dämpfen.
Russlands Konjunktur wird abhängiger von der weiteren Erholung im Rohstoff-Bereich, so Dolgin. Er erwartet hier aber mit der Lockerung der Ölförderbeschränkungen im Rahmen der Vereinbarungen in der OPEC+ und angesichts der wachsenden weltweiten Gasnachfrage einen weiteren Anstieg der Produktion.
Dolgin bleibt bei seiner Prognose, dass die gesamtwirtschaftliche Prouduktion im Jahr 2021 um 4,3 wächst und 2022 um 2,2 Prozent.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- WIIW: 2021 kräftige Produktionserholung – aber auch viel mehr Inflation; 25.10.2021
- Deutsche Institute: Russlands Wirtschaft wächst 2021 um 4,5 Prozent; 18.10.2021
- Weltbank hebt BIP-Prognose auf 4,3 Prozent an – aber das BIP sinkt seit Mai;10.2021
- Wie die ING-Bank und die UniCredit Russlands Konjunktur 2021/22 sehen; 05.10.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Stimmen aus der Wirtschaft zu Nord Stream 2 und zum Energiepreisanstieg: Prof. Dr. Klaus Mangold, früherer Vorsitzender des Ost-Ausschusses im RT DE-Interview; Dr. Wolgang Peters, The Gas Value Chain Company, im Podcast der AHK Russland
- Prof. Dr. Claudia Kemfert, DIW Berlin, sieht manches anders als die Praktiker: Die Energiewende ist nicht das Problem, sondern die Lösung
- Kommersant veröffentlichte 12-Charts: How the economic future of Russia is described in the budget