Russisches BIP-Wachstum: Wie schnell erholt sich die Wirtschaft?

Russische Sberbank: Der BIP-Rückschlag durch Corona war schon im April aufgeholt

Wie schnell erholt sich Russlands Wirtschaft? Zentralbankpräsidentin Nabiullina meinte bereits am 11. Juni zur Begründung der kräftigen Leitzinserhöhung, die russische Wirtschaft erhole sich rasch. Das Bruttoinlandsprodukt werde schon im laufenden zweiten Quartal wieder so hoch sein wie vor der Pandemie. Die volkswirtschaftliche Abteilung der Sberbank teilt diese Einschätzung. Ihren Berechnungen zufolge hat die gesamtwirtschaftliche Produktion im April 2021 wieder das Niveau vom Dezember 2019 erreicht.

Inzwischen wurden erste Angaben zur Industrieproduktion im Mai veröffentlicht. Laut der Statistikbehörde Rosstat ist die Produktion im Mai gegenüber April saison- und kalenderbereinigt weiter gestiegen. Das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank errechnete hingegen einen leichten Rückgang.

Informationen zur Veränderung der Wertschöpfungsstruktur der russischen Wirtschaft seit 2011 sammelte das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank. Auch die Corona-Krise wirkte sich auf die BIP-Struktur aus. Verringert hat sich seit 2019 aber mit der Einschränkung der Ölförderung vor allem die Rohstofflastigkeit der russischen Wirtschaft.

Sberbank: Das BIP hat sich vom Corona-Einbruch bereits wieder völlig erholt

Auf der Basis der Konjunkturdaten für April veröffentlichte die Sberbank am 21. Juni eine Schätzung für die monatliche Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion einschließlich April 2021. Sie geht davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt den Rückschlag in der Corona-Krise inzwischen vollständig aufgeholt hat. Zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts veröffentlichte sie folgende Abbildung:

„Die Wirtschaft ist zurück auf dem Vorkrisen-Niveau“

Schwarze Linie: Index des Bruttoinlandsprodukts (Dez. 2019=100; rechte Skala)
Säulen: BIP-Veränderungen gegenüber dem Vormonat in Prozent (linke Skala)
Sberbank: Wochenbericht „Global Economic News“; S. 8; 21.06.2021

Die schwarze Linie in der Abbildung zeigt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt von Dezember 2019 (Index=100, rechte Skala) im Verlauf des Lockdowns bis zum Mai 2020 um rund 10 Prozent auf rund 90 Indexpunkte sank. Die schwarzen Säulen zeigen, wie stark die gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Zeitraum gegenüber dem Vormonat in Prozent zurückging. Seit Juni 2020 wuchs das BIP von Monat zu Monat (grüne Säulen). Die Indexlinie übertraf im April 2021 knapp die 100 Punkte-Marke, das BIP war also etwas höher als im Dezember 2019.

War Russlands Industrieproduktion im Mai bereinigt höher als im April?

Ob sich das Wirtschaftswachstum im Mai fortgesetzt hat? Ein wichtiger Indikator dafür ist die Industrieproduktion. Russlands Statistikbehörde Rosstat überschrieb am 23. Juni ihre Pressemeldung zur Entwicklung der Industrieproduktion im Mai mit der Schlagzeile: „Das Wachstum setzt sich fort“. Das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank teilte hingegen in seinem zwei Tage später veröffentlichten Wochenbericht mit, die Industrieproduktion sei im Mai gegenüber April laut seinen Berechnungen saison- und kalenderbereinigt etwas gesunken.

Der Einbruch im Lockdown 2020 erschwert Vergleiche mit dem Vorjahr

Ein Grund für die etwas unterschiedlichen Ergebnisse der Berechnungen zur Industrieproduktion dürfte neben unterschiedlichen Berechnungsmethoden der tiefe Einbruch der Produktion Im Lockdown vor einem Jahr sein. So sank die Industrieproduktion im Mai 2020 im Vorjahresvergleich um 8,0 Prozent.

Nach der Erholung der Produktion ergeben sich jetzt im Vergleich zum Vorjahresmomat ungewöhnlich hohe Zuwachsraten .So ermittelte Rosstat einen Anstieg der Industrieproduktion um 11,8 Prozent im Mai 2021 gegenüber Mai 2020. Dabei stieg die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ um 11,4 Prozent. Auch die zuvor lange rückläufige Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ nahm zuletzt kräftig zu (+ 12,3 Prozent). In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres war die Industrieproduktion 3,2 Prozent höher als vor einem Jahr. Damals war sie in den ersten fünf Monaten um 1,0 Prozent gesunken.

Wegen der „Verzerrungen“ der Vorjahresvergleiche durch den Lockdown veröffentlichte Rosstat auch Vergleiche mit dem noch „normalen“ Jahr 2019. Danach war die Industrieproduktion im Mai 2021 insgesamt 2,9 Prozent höher als vor zwei Jahren im Mai 2019. Dabei stieg die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ um 6,3 Prozent. Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ war gleichzeitig 2,0 Prozent niedriger.

Rosstat: Die bereinigte Industrieproduktion stieg im Mai um 1,1 Prozent

Besonders deutlich wird die Entwicklung der Industrieproduktion in Darstellungen des Verlaufs der saison- und kalenderbereinigten Daten. Ohne Bereinigung schwankt die Industrieproduktion aufgrund von saisonalen Unterschieden und wegen einer unterschiedlichen Zahl von Arbeitstagen von Monat zu Monat sehr stark (siehe gelbe Linie in der folgenden Rosstat-Abbildung).

Deswegen nimmt auch Rosstat Berechnungen zur Berücksichtigung der saisonalen und kalenderbedingten Einflüsse auf die Produktion vor. In der folgenden Rosstat-Abbildung zeigt die blaue Linie, dass die Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt seit dem Mai des letzten Jahres ziemlich stetig von rund 96 Indexpunkten auf rund 106 Indexpunkte gestiegen ist. Außerdem berechnete Rosstat auch einen längerfristigenTrend (rote Linie), der zeigt, dass sich die Produktion seit dem Einbruch im Frühjahr 2020 stetig erholt hat.

Index der Industrieproduktion (2018=100)

Rosstat: Industrieproduktion im Mai 2021; mit Chart und Tabelle; 23.06.2021

Einer von Rosstat am 23. Juni veröffentlichten Tabelle ist zu entnehmen, dass die Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt im Mai gegenüber April insgesamt um 1,1 Prozent gestiegen ist.

VEB-Institut: Die bereinigte Industrieproduktion sank im Mai um 0,3 Prozent

Das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank kommt hingegen in seinen zwei Tage später veröffentlichten Berechnungen zum Ergebnis, dass die bereinigte Industrieproduktion im Mai 0,3 Prozent niedriger war als im April (siehe schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Dabei sank laut VEB-Institut die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ um 0,3 Prozent (obere dunkelgrüne Linie) und die Produktion im Industrie-Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 0,5 Prozent gegenüber dem Vormonat (untere hellgrüne Linie).

Index der Industrieproduktion (2014=100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; Page 4; 25.06.2021

Rosstat und das VEB-Institut stimmen aber überein, dass die bereinigte Industrieproduktion zuletzt nicht nur ihren Einbruch im Lockdown aufgeholt hat, sondern auch ihren bisherigen Höchststand vom Oktober 2019 etwas übertraf.

BOFIT: Corona veränderte auch die Wertschöpfungsstruktur

Folgen der Corona-Pandemie zeigen sich auch in der Entwicklung der Beiträge wichtiger Branchen zur gesamtwirtschaftlichen Produktion. BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, hat in der letzten Woche dazu in „BOFIT Weekly“ folgende Abbildung veröffentlicht, die die Entwicklung der realen Bruttowertschöpfung wichtiger Wirtschaftszweige in Preisen von 2016 vom ersten Quartal 2011 bis zum ersten Quartal 2021 zeigt.

The GDPs produced by different sectors of the Russian economy have moved variably over the past decade

BOFIT; Bank of Finland: Significant differences in pace of development in various sectors of the Russian economy; BOFIT Weekly, 24.06.2021

Erkennbar ist, dass im Lockdown im Frühjahr 2020 vor allem die reale Bruttowertschöpfung des Groß- und Einzelhandels gesunken ist (Wholesale and retail trade, oberste rote Linie). Deutliche Auswirkungen hatte der Lockdown offensichtlich auch auf die Wertschöpfung der privaten Dienstleistungen für Haushalte und Unternehmen (Non public services to households and firms). Auch die Wertschöpfung der Immobilienwirtschaft (Real estate activities) knickte vorübergehend leicht ein.

Bis zum ersten Quartal 2021 hat die Bruttowertschöpfung des Groß- und Einzelhandels jedoch den Rückschlag im Lockdown aufgeholt. Sie ist jedoch immer noch rund ein Zehntel niedriger als in den Jahren 2012 bis 2014 und rund 5 Prozent niedriger als 2011.

Die Bruttowertschöpfung des „Verarbeitenden Gewerbes“ (Manufacturing industries) stagnierte seit dem Sommer 2019 laut der BOFIT-Darstellung annähernd. Der deutliche (aber nur kurzfristige) Rückgang der Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ im Lockdown 2020 hatte offenbar nur geringe Auswirkungen auf die vierteljährliche Entwicklung der Bruttowertschöpfung.

Die Rohstofflastigkeit der russischen Wirtschaft hat sich verringert

Einen langfristig steigenden Trend ihrer Bruttowertschöpfung zeigen vor allem die Bereiche „Banken und Versicherungen“ (Finance and insurance), öffentliche Verwaltung (Public administration, civil and military) und Immobilienwirtschaft (Real estate activities).

Die reale Bruttowertschöpfung des „Verarbeitenden Gewerbes“ (Manufacturing industries) war trotz der Stagnation seit Sommer 2019 zuletzt rund ein Fünftel höher als vor zehn Jahren. Die Bruttowertschöpfung im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (Minerals extractions, incl. oil and gas) und im Bereich „Transport/Lagerung“ („Transport and storage“) sinkt hingegen schon seit dem Frühjahr 2019. Im ersten Quartal 2021 war die Bruttowertschöpfung im Rohstoffbereich laut BOFIT rund 14 Prozent niedriger als in der Spitze im Jahr 2019 und nur noch etwa so hoch wie vor 10 Jahren.

Zu diesem Rückgang trug hauptsächlich die Begrenzung der Ölförderung entsprechend den Vereinbarungen in der OPEC+ bei.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Oleg Korchagin I Shutterstock.com