Ost-Ausschuss-Kolumne: “Der Abstand wird kleiner”

Weltschmerz im Schlechte-Laune-Land

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de. Heute geht es um die deutsche Unlust an der Dienstleistung und die Hidden Champions der Weltwirtschaft aus Sachsen.

Deutsche haben den „Weltschmerz“ erfunden

Wer an dieser Stelle – völlig zurecht – Lesenswertes und Neues zu den Volkswirtschaften und Ländern Osteuropas erwartet, muss sich dieses Mal ein wenig gedulden. Aber versprochen, der Bezug kommt später. Denn ich bin verwundert. Nein, eigentlich bin ich entsetzt. Wir leben in Deutschland in einem Land, dem es so gut geht wie noch nie seit es Deutsche gibt. Die Germanen vor der Zeitenwende mitgerechnet, sind das ungefähr 2.500 Jahre. Die allermeisten Kennzahlen sind positiv, die Lohnabschlüsse hoch wie nie, die Arbeitslosigkeit sinkt und sinkt und sinkt. Dafür steigen die Renten, die verfügbaren Einkommen, die Vermögen und der Konsum. Ja, auch die Mieten und die Pflegekosten. Aber insgesamt steht Deutschland im europäischen und auch im weltweiten Vergleich so gut da, wie schon lange nicht mehr. Trotzdem werden Sie kaum jemanden finden, der zufrieden mit dem Land, der Politik, der Gesamtsituation oder seinem persönlichen Schicksal ist. Ja, ich weiß, deutsche Philosophen haben den wunderbaren, unübersetzbaren Begriff „Weltschmerz“ – tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt – geprägt. Aber mein Gott, das war im 19. Jahrhundert, und es war die Zeit der Romantik.

Willkommen im „Schlechte-Laune-Land“

Es gibt in Berlin einen Bus von zweifelhafter Berühmtheit: Die Linie 147. Egal, wen man fragt, ob Berliner, Zugereiste oder Ausländer: jeder weiß, dass der Fahrplan eher eine Orientierungshilfe ist. Als ich den Fahrer an der ersten Station frage, wieso der Bus schon hier fünf Minuten Verspätung hat, mustert er mich mit vernichtendem Blick und berlinert: „Det weeß ick doch nich.“ Ich traue mich nicht zu fragen, wer es wohl sonst wissen könnte. In München steige ich in ein Taxi. Nicht weil ich mir zu schade für eine Fahrt mit dem öffentlichen Personennahverkehr bin, nein, der Sprinter der Deutschen Bahn war zu langsam, und ich habe es schlicht eilig. Im Taxi will ich mit der Karte bezahlen. Die Antwort des Fahrers: „Das hätten Sie mir vorher sagen müssen, dann hätte ich Sie nicht gefahren.“ Ich zahle bar. Auf eine Erklärung oder Entschuldigung warte ich vergeblich. In Hannover bestelle ich zu einem Mondpreis eine Currywurst. Der Verkäufer auf meine Frage, warum sie nicht heiß ist: „Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja woanders essen.“ Würde ich gern, aber er hat hier das Monopol und hinterlässt mich fassungslos. Alle diese Beispiele machen eines deutlich: Aus welchen Gründen auch immer, fast überall in Deutschland herrscht schlechte Laune. Ich weiß wirklich nicht warum.

Die Unlust an der Dienstleistung

Diese Beispiele, es gäbe deren unendlich viele, dienen nur als Projektionsfläche, weil sie eine allgemeine Entwicklung aufzeigen: die deutsche Unlust an der Dienstleistung. In Moskau kann ich in jedem Restaurant mit dem Handy bezahlen, und nebenbei ist auch die Bedienung fast überall ausnehmend freundlich. In Riga ist es absolut kein Problem, sich in jeder Ecke der Stadt kostenlos ins WLAN einzuwählen, die Kosten für Mobilfunk sind um ein Vielfaches niedriger als in Deutschland. In Aserbaidschan ist E-Government seit Jahren gelebte Praxis. Man muss kein Ökonom oder Zukunftsforscher sein, um zu wissen: Das größte Wachstumspotential besteht im Dienstleistungssektor. Das verarbeitende Gewerbe wird zunehmend an Bedeutung verlieren. Wachstum wird schon heute überwiegend mit Software und Datenmanagement, kaum noch mit Hardware generiert. HP, Nokia, Motorola, AOL, oder in Deutschland AEG, Krupp, Telefunken sind nur einige Beispiele dafür, wie flüchtig Erfolg sein kann. Dort, wo in der Industrie Hardware zum Einsatz kommt, wird der Wettbewerb um den Kunden immer öfter über Service, Zuverlässigkeit, Nachhaltigkeit, permanente Erreichbarkeit und innovative, meist digitale Lösungsansätze – über Dienstleistungen – gewonnen.

Chinesen lernen schnell

Deutsche Anbieter sind weltweit nur in Ausnahmefällen über den Preis konkurrenzfähig. Es ist in aller Regel das Gesamtpaket aus Technologie, Service, Standfestigkeit, Nachhaltigkeit, Maintenance und Flexibilität. Noch eher selten spielen die Lebenszykluskosten bei der Kaufentscheidung die ausschlaggebende Rolle. Full-Service-Angebote haben sehr oft den Ausschlag gegenüber anderen Anbietern, zum Beispiel aus China, gegeben. Redet man jedoch heute z.B. mit russischen Kunden, die sich fast immer für „Made in Germany“ entschieden haben, hört man zunehmend öfter: Die Chinesen haben schnell gelernt. Sie verkaufen nicht mehr nur eine Maschine und dann bricht der Geschäftskontakt ab. Der Service ist dem deutschen Unternehmen nahezu ebenbürtig. Ersatzteile werden innerhalb kürzester Zeit geliefert und billiger sind sie auch. Es braucht also einen neuen Ansatz, um weiter im Markt erfolgreich zu sein. Denn der Abstand zu anderen Nationen und Produzenten ist deutlich kleiner geworden.

Die Sachsen schaffen es aus eigener Kraft

In den neuen Bundesländern gibt es mit ganz wenigen Ausnahmen keine großen Industriekonzerne oder deren Zentralen. Die Treuhand hat hier ganze Arbeit geleistet. Man kann diesen Zustand beklagen, oder sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Sachsen ist dafür ein gutes Beispiel. Mittelstand prägt die Landschaft, und eine Einstellung, die die Sachsen selbst mit „dor Saggse is fischilant“, was so viel wie klug oder wachsam bedeutet, umschreiben. Dahinter verbirgt sich eine Mischung aus Zähigkeit, unkonventionellen Lösungen, Unangepasstheit, Erfindergeist und einer Brise Widerspenstigkeit. Mancher Nichtsachse vermutet dahinter Bräsigkeit, in Wirklichkeit ist es Unternehmergeist par excellence. Auf dem Russlandtag in Chemnitz wird deutlich, warum diese Mischung so erfolgreich ist. „Mikromat kennt in Russland als Maschinenbauer jeder. Wir haben den Kontakt zu unseren russischen Partnern nie abreißen lassen und sind wieder erfolgreich“, erklärt Dr. Piekert von der MIKROMAT GmbH die Strategie des Unternehmens. Ein anderes Beispiel ist die DGT Deutsche Getreidetechnologie GmbH, die als relativer Neuling im russischen Markt erfolgreich und entsprechend selbstbewusst auftritt: „Wir sind die Besten im Markt. Ich habe alle beantragten Maschinen genehmigt bekommen“, resümiert Reimund Büschel der Geschäftsführer von DGT. Und abschließend sei ein weiterer Mittelständler zitiert, die IDT Industrie- und Dichtungstechnik Werk Kupferring GmbH aus Annaberg, deren Prokurist Gerald Richter sagt: „Im Großen und Ganzen haben wir in Russland alles richtig gemacht.“

Von Weltmarktführern und Milchkannen

Diese wunderbare Einstellung versöhnt mich wieder mit meinem Land. Man findet sie natürlich nicht nur in Sachsen. Sie ist auch in Reutlingen, Zwiesel, Schwanau, Iphofen, Löningen, Dreieich, Roth, Dettingen, Allendorf und andernorts zu spüren. Wenn Sie mögen, können Sie googeln, welche deutschen mittelständischen Unternehmen und Hidden Champions wo produzieren. Sie werden eine höchst interessante Landkarte entdecken. Dort, wo die deutschen Weltmarktführer ihre Heimat haben, hält die Bahn eher nicht und die Autobahn ist im Zweifel auch ein paar Kilometer weit entfernt. Aber sie sind deshalb so erfolgreich, weil sie organisch gewachsen sind, das Potential der Region genutzt haben und immer schon innovativ und kreativ sein mussten, um Erfolg zu haben. Und glauben Sie mir, Sie würden sich wundern, wie oft sich in direkter Nachbarschaft zu den Hidden Champions eine „Milchkanne“ befindet, die genauso dringend schnelles Internet braucht wie die Stützen unserer Volkswirtschaft.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Halfpoint / Shutterstock.com
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