Lost Places in Russland: Der Reiz des Verfallenen

Lost Places in Russland: Der Reiz des Verfallenen

Als sich behauptende Weltmacht errichtete die Sowjetunion eine Vielzahl an spektakulären Bauten. Nach ihrem Zerfall blieben viele von ihnen ohne Funktion und sich selbst überlassen. Heute dienen sie als Ausflugsziele für Abenteurer.

Von Lucian Bumeder

Es ist fast noch etwas düster im Wald, als wir uns vorsichtig den Weg entlangarbeiten. Zaghaft dringen die Sonnenstrahlen durch die Äste, fallen vereinzelt auf den schneebedeckten Boden. Überhaupt ist es kälter hier – und auch ruhiger. Beides sind untrügliche Zeichen, dass wir uns nicht in der Stadt befinden, sondern im Moskauer Umland. Diese Stimmung passt, denn was wir hier tun, hat etwas Heimliches und etwas Erforschendes. Kurz blockiert ein alter Zaun unseren Weg vorwärts. Aber ein nennenswertes Hindernis ist der verrostete Maschendraht kaum. Keine hundert Meter in den Wald hinein finden wir eine Lücke.

Absurd und zugleich faszinierend

„Keine Sorge. Hier gehen durchaus häufiger Leute durch“, versichert mein heutiger Führer Pjotr, der nicht möchte, dass ich seinen echten Namen verwende. Tatsächlich, der Trampelpfad durch die Zaunlücke wirkt so ausgetreten, dass es auch irgendwo im städtischen Sokolniki Park sein könnte. In Wirklichkeit befinden wir uns am Rande eines Waldstücks außerhalb der Moskauer Metropole. So etwas wie unser Ziel gibt es eben nicht im Zentrum der Stadt. „Wir sind da“, sagt Pjotr und deutet nach oben über die Baumwipfel, wo zwei große, ehemalige sowjetische Radioteleskope sichtbar werden. Über Jahrzehnte waren sie Teil der sowjetischen Satellitenkommunikation, aber jetzt stehen die stählernen Schüsseln unbenutzt. Wer will, kann sie erkunden und sogar in die Schalen hineinklettern.

Pjotr ist ein sogenannter Stalker. „Stalkeri“ nennen sich in Russland Menschen, die verlassene Einrichtungen jeder Art erkunden. Der Name stammt von dem ukrainischen Computerspiel „Stalker“ aus den 2000ern, das einen Teil seiner Inspiration aus dem gleichnamigen Kultfilm des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij bezieht. In dem Spiel streift ein auf sich allein gestellter Held durch die evakuierte Sperrzone rund um Tschernobyl. Aber auch abseits der berüchtigten ukrainischen Verbotszone gibt es in Russland und seinen Nachbarstaaten eine Vielzahl von indus-
triellen und militärischen Anlagen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgegeben wurden. Heute sind sie weitestgehend sich selbst überlassen. Sie haben keinen aktuellen Nutzen mehr. Daher sind sie kaum gesichert und für Abenteuerlustige wie Pjotr zugänglich.

Die Spuren der Zeit

Offiziell ist der Zutritt zu dem 50 Jahre alten, dreistöckigen Gebäude verboten. Aber nennenswerte Bewachung oder Absperrungen gibt es keine. Als wir ankommen, ist schnell klar, dass wir auch nicht die ersten neugierigen Besucher hier sind: Graffiti ziert die Wände, Fensterscheiben sind zerbrochen und stattdessen mit Sperrholz verbarrikadiert. Auf der Rückseite finden wir ein Fenster, vor dem eine der Barrieren fehlt und der Weg ins Innere des Hauses offen steht.

Innen herrscht gespenstische Stille. Weitestgehend sind die Räume leer geräumt. Nur einige Schreibtische und hohle Computergehäuse sind noch zu sehen. Ein paar Telefone mit Drehscheiben liegen herum, ein kaputter Kopfhörer. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie hier früher Techniker saßen und ihrer Arbeit nachgingen. Der Weg nach oben gestaltet sich schwerer als gedacht. In manchen Stockwerken muss man metergroßen Löchern im Boden ausweichen. In ein Treppenhaus ist Wasser eingedrungen und kommt uns als stetes Rinnsal entgegen.

Auf Umwegen zum Ziel

Über eine Reihe von Treppen geht es auf das Dach. Dann führen drei Eisenleitern hinauf zur Schüssel. Durch ein enges Einstiegsloch im Boden hieven wir uns auf die Sensorflächen. Plötzlich abgeschottet von den Blicken der Außenwelt, dringen wir vorsichtig zum Rand der Schale vor. Der Ausblick aus 40 Metern Höhe ist faszinierend: die gänzlich ungewohnte Perspektive, die einst hochmoderne, aber verfallene Technik, die unaufhaltsame Rückkehr der Natur. Es ist ein absurdes Gefühl, alles wirkt wie die Kulisse eines Films oder die Idee eines Science-Fiction-Autors. Aber alles ist echt hier und darum wirkt es umso intensiver.

Auf dem Weg wurde weitestgehend geschwiegen: schlicht zu viele Eindrücke, um zu reden. Aber jetzt wo wir in der Schüssel sitzen, erzählt Pjotr ein wenig mehr über sich selbst und die Szene der Stalkeri in Russland. Er ist 25, geboren in Moskau. 14 Jahre war er alt, als er seinen ersten verlassenen Ort besuchte, ein Krankenhaus. Am Tag zuvor hatte er ein Mädchen beim Baden getroffen. Als er von ihrem Plan hört, kommt er einfach mit. Das erste Abenteuer geht schlecht aus. Sie werden direkt von der Polizei verjagt. Aber trotzdem habe ihn die Faszination seitdem nicht mehr losgelassen, erinnert sich Pjotr.

Die Szene wächst beständig

Einerseits reizt ihn die außergewöhnliche Stimmung. „Hier herrscht eine besondere Atmosphäre“, schwärmt Pjotr. Er erzählt, wie er im Herbst mit einer Freundin hier war, um Fotos mit einer sowjetischen Zenit-Kamera zu machen. Die farbigen Blätter und das stumpf gewordene Eisen passten perfekt zur alten Aufnahmetechnik der analogen Kamera, erklärt er. Andererseits geht es ihm bei anderen Abenteuern auch um den Kick. „Wir machen schon auch Sachen, nur für das Adrenalin“, gibt er zu. Er zeigt Videos, in denen er mit Freunden auf eine fahrende U-Bahn klettert oder sich zwischen die Gleise legt, sodass die Züge über ihn fahren. Bekannte von ihm waren vor Kurzem auf den Stern an der Spitze der Lomonossow-Universität geklettert, filmten alles mit einer Drohne und GoPro-Kamera. Auch die Selbstdarstellung spielt eine Rolle.

Die Kommunikation innerhalb der Szene erfolgt über das Internet. Wie in vielen Subkulturen üblich, ist sie meistens anonym und gleichzeitig persönlich, findet in Foren oder über Direktnachrichten statt. Trotzdem gibt es einen regen Austausch über neue Ziele und aktuelle Erlebnisse. Über die letzten zehn Jahre hätte sich die russische Community durch die Beliebtheit sozialer Netzwerke stark vergrößert und geöffnet, erklärt Pjotr. Das spiegelt auch meine Erfahrung wider. Als ich nach möglichen Kontakten suchte, hatte fast jeder meiner russischen Freunde im erweiterten Freundeskreis entsprechende Bekannte. Pjotr war einer von ihnen.

Gegen das Wachpersonal

Die zunehmende Größe der Szene birgt auch ihre Probleme. „So viel Graffiti gab es früher nicht“, wendet der erfahrene Stalker ein, „und so viel Müll lag auch nicht rum.“ Aber noch schlimmer sei, dass beliebte Ziele unter immer strengere Bewachung gestellt würden. Auch die gesetzlichen Strafen seien härter geworden. An einigen Orten, an denen er früher besonders gerne war, sind inzwischen Museen entstanden. Eigentlich sei das eine gute Idee. Denn so können mehr Menschen an den Wundern der Vergangenheit teilhaben.

Aber für ihn sei das kein Ersatz. Es gehe ja genau um das Gefühl des Abenteuers, das Gefühl, etwas Vergessenes neu zu entdecken. „Ein Museum kann das einfach nicht“, erläutert er auf dem Weg zurück in die Stadt. Einen Ort ohne Kontrolle zu erkunden, den man nie betreten dürfte, solange er noch in Betrieb ist: Das macht für Pjotr den Reiz aus – und wer es ausprobiert, kann den russischen Abenteurer sehr gut nachvollziehen.

Die Subkultur der Stalker
Es ist nicht zu empfehlen, ohne erfahrene Führung verlassene Objekte zu besuchen. Die Baufälligkeit der Gebäude stellt ein Risiko dar und manche Objekte stehen unter Bewachung. Für Interessierte bieten sich professionelle Touren an, die sich in den letzten Jahren um besonders beliebte Orte etabliert haben. Im früheren “Bunker 703”, des sowjetischen Außenministeriums ist heute ein Museum eingerichtet. Englischsprachige Touren kosten 1300 Rubel. Die Veranstalter von podzemly.ru organisieren für 3000 Rubel Besichtigungen der Kanäle unterhalb von Moskau, die von der städtischen Verwaltung erlaubt sind. Wer einfach einen Einblick in die Subkultur der russischen Stalker will, der findet auf der Webseite urbant3p.ru eine Vielzahl von Bildern und Erfahrungsberichten.
Titelbild
Titelbild: Lucian Bumeder / MDZ
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Dieser Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.