Lesetipp: „Das sowjetische Jahrhundert“ von Karl Schlögel

Lesetipp: „Das sowjetische Jahrhundert“ von Karl Schlögel

Ab sofort stellt Ihnen Ostexperte.de regelmäßig ausgewählte Bücher und andere Produkte zu Russland, China und Eurasien vor. Unser heutiger Lesetipp ist „Das Sowjetische Jahrhundert“ von Karl Schlögel. Exklusiv für Ostexperte.de-Leser veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Buch.

Archäologie einer untergegangenen Welt

Ein Auszug aus dem Klappentext:

Der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel lädt mit seiner Archäologie des Kommunismus zu einer Neuvermessung der sowjetischen Welt ein. Wir wussten immer schon viel darüber, wie “das System” funktioniert, weit weniger über die Routinen des Lebens in außergewöhnlichen Zeiten. Aber jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Duft, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren.

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Karl Schloegel - Das sowjetische Jahrhundert
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So entsteht, hundert Jahre nach der Revolution von 1917 und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion, das Panorama eines einzigartigen Imperiums, ohne das wir “die Zeit danach”, in der wir heute leben, nicht verstehen können. Karl Schlögel ist dabei, wenn die Megabauten des Kommunismus eingeweiht und die Massengräber des Stalin’schen Terrors freigelegt werden. Er interessiert sich für Paraden der Macht ebenso sehr wie für die Rituale des Alltags, er erkundet die Weite des Eisenbahnlandes und die Enge der Gemeinschaftswohnung, in der Generationen von Sowjetmenschen ihr Leben zubrachten. Die Orte des Glücks und der kleinen Freiheit fehlen nicht: der Kulturpark, die Datscha, die Ferien an der Roten Riviera. In allem – ob im Mobiliar, im Duft des Parfums oder der Stimme des Radiosprechers – hat das “Zeitalter der Extreme” seine Spur hinterlassen. Was hier als «Archäologie einer untergegangenen Welt» vorgestellt wird, ist nicht eine neue Geschichte der Sowjetunion, sondern der Versuch, sich die Geschichte dieses Landes neu zu vergegenwärtigen, gewiss auch anders als in vielen der vorliegenden eindrucksvollen Gesamtdarstellungen

Leseprobe: Splitter des Imperiums

Vom Moskauer Stadtzentrum nach Ismailowo sind es nur ein paar Metro- stationen. Man steigt an der Partisanskaja aus und folgt den Wegweisern oder einfach dem Menschenstrom, der dorthin geht, wo alle hinwollen: zum Basar oder zur Baracholka, wie man den Trödelmarkt in Russland schon vor der Revolution nannte und auf dem gebrauchte, heute sagt man second hand, Gegenstände gehandelt werden. Das ganze Land, ja der ganze ehemalige Ostblock war nach dem Ende der sozialistischen Verteilungswirtschaft überzogen von einem Netz Abertausender solcher Basare und Trödelmarkte in Parks, an Endstationen von U-Bahnen mit Hunderttausenden von Besuchern und Kunden – wie etwa der «Siebte Kilometer» bei Odessa oder der Markt, der sich am Stadion in Lushniki in Moskau ausgebreitet hatte. In der Zeit des Zusammenbruchs der Verteilungsökonomie, des Absturzes der Wahrungen und einer zeitweiligen Rückkehr zum Naturaltausch waren diese Märkte zu zentralen Orten der Krisenbewältigung und des Überlebenskampfes geworden, mit Millionen von Menschen, die als Shopping-Touristen und wie «Weberschiffchen» auch über die Grenzen hinweg pendelten.

[…]

Basare, Trödel- und Flohmärkte dieser Art gab und gibt es in allen Städten der ehemaligen Sowjetunion, und was man auf ihnen besichtigen kann, sind die Splitter, die Trümmer, die Fragmente der Objektwelt des untergegangenen Imperiums. Es gibt nichts, was man dort nicht finden könnte. Gegenstande, die der Welt vergangener Generationen angehört hatten, wechseln die Besitzer und werden so zum Eigentum der heute Lebenden: Zirkulation vergegenständlichter Formen, Wiederaneignung durch andere. Das sind gusseiserne Bügeleisen, die mit Holzkohle befeuert wurden und vielleicht aus einem zum Abriss bestimmten Bauernhaus im russischen Norden stammen, vielleicht aber auch ein modernes Bügeleisen, das den Arbeitern einer Fabrik, die schon lange keine Löhne mehr ausbezahlt hatte oder deren Geldlöhne in den 1990er Jahren sinnlos geworden waren, in natura ausgehändigt worden war. Das können einzelne gut erhaltene Exemplare einer einst in Millionenauflage gedruckten Parteizeitung sein, die nun aber – mit einem Porträt des Führers Stalin und einem wichtigen Erlass – zu einem historischen Dokument geworden sind.

[…]

Auch damals gelangte alles auf den Markt, wenn es nur half, um in Hunger und Kälte zu überleben. Zum Verkauf oder zum Verramschen stand der Reichtum der ganzen zum Untergang verurteilten alten Hauptstadt. Die postrevolutionäre Situation war eine der grenzenlosen Verschleuderung von über Generationen angesammelten Reichtümern: 1 Paar Stiefel gegen 10 Kilogramm Bücher oder: 1 Uniform gegen 1 Kerosinkocher. Ein Rubens-Bild, das aus einem Palais verschwunden war, für einen Laib Brot. Der Augenblick der Auflösung konnte für Connaisseurs, die nicht emigriert waren, zur Sternstunde werden: Sankt-Petersburg, Retrograd, war in der Zeit des Bürgerkriegs vermutlich der größte Trödelmarkt europäischer Kunst, auf dem Möbel von Roentgen, Bilder von Poussin, Goldschmiedearbeiten der allerersten Werkstätten zu haben waren – für jeden, der wenigstens einen Sack Mehl anzubieten hatte.8 Das war der Ort für die Ärmsten der Armen. Im Bürgerkrieg gingen alle dort- hin, um Naturaltausch zu treiben. Geld hatte keinen Wert mehr. Dort trafen sich alle Gesellschaftsklassen.


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[accordion open_icon=”book” closed_icon=”book”] [toggle title=”Leseprobe” open=”yes”]Copyright: Karl Schlögel, Das sowjetische Jahrhundert, Verlag C.H. Beck, München (ISBN: 978-3-406-71511-2,  4.Aflg.)[/su_spoiler]