Präsident Putin: Hauptziel sind höhere Realeinkommen
Die russische Zentralbank bleibt bei ihrer Einschätzung, dass Russlands Wirtschaft 2021 um 3 bis 4 Prozent wächst. Im Verlauf des zweiten Halbjahres werde die gesamtwirtschaftliche Produktion ihren Rückgang im Jahr 2020 um 3 Prozent aufholen, meinte Präsidentin Nabiullina nach der Leitzinsentscheidung am Freitag. Angesichts der raschen Erholung der Konjunktur sieht die Zentralbank aber auch deutlich erhöhte Inflationsgefahren. Sie hob den Leitzins von 4,5 auf 5 Prozent an.
Präsident Putin vermied bei seiner „Rede zur Lage der Nation“ am Mittwoch quantifizierte Wachstumsprognosen. Er hob als wichtigstes Ziel der Regierung hervor, die Armut zu bekämpfen und für steigende Realeinkommen zu sorgen. Putin kündigte dafür insbesondere zusätzliche Sozialleistungen für Familien an.
Nach der Rede Putins wurde in der russischen Presse zwar detailliert über Entwürfe des Wirtschaftsministeriums für neue Konjunkturprognosen berichtet. Derzeit sei im Basisszenario vorgesehen, die Wachstumsprognose für 2021 von 3,3 Prozent auf 2,9 Prozent zu senken.
Die Veröffentlichung der endgültigen Fassung der Prognosen für die Haushaltsberatungen ist aber erst für August geplant. Minister Reschetnikow teilte mit, die Vorschläge Putins für neue staatliche Leistungen würden jetzt in die Prognose eingearbeitet, insbesondere im Hinblick auf die voraussichtliche Entwicklung der Realeinkommen und der Investitionen. Auch die von Präsident Putin zur Bekämpfung der Pandemie angeordnete Verlängerung der arbeitsfreien Zeit vom 01. bis zum 10. Mai müsse berücksichtigt werden.
Die Zentralbank hebt den Leitzins um 0,5 Prozentpunkte auf 5 Prozent an
Um gleich 0,5 Prozentpunkte hat die Zentralbank ihren Leitzins zuletzt 2014 erhöht. Zentralbankpräsidentin Nabiullina verwies in ihrer Begründung der kräftigen Anhebung auf die anhaltende konjunkturelle Erholung. Die Zentralbank gehe davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in der zweiten Jahreshälfte das Vorkrisenniveau wieder erreichen werde. Die Mehrheit der Industriebranchen habe sich bereits vollständig erholt. Der Anstieg der Produktion in allen anderen Wirtschaftsbereichen werde nur durch die verbliebenen Beschränkungen wegen der Pandemie verhindert.
Von der schnellen Erholung der Nachfrage gehe ein stetiger inflationärer Druck aus, argumentierte die Zentralbankpräsidentin. Die Inflationserwartungen von Privathaushalten und Unternehmen seien seit mehr als sechs Monaten merklich gestiegen. Das treibe schon jetzt zunehmend die Preise. Die Zentralbank müsse deswegen schneller als bisher angenommen von einer „akkommodativen“ („lockeren“) Geldpolitik zu einer „neutralen“ Geldpolitik zurückkehren. Das Wirtschaftswachstum werde dabei anhalten.
Die CBR erwartet 2021 deutlich schneller steigende Preise als bisher
In ihrer anlässlich der Leitzinsentscheidung aktualisierten mittelfristigen Konjunkturprognose hob die Zentralbank ihre Prognose für den Anstieg der Verbraucherpreise deutlich um einen ganzen Prozentpunkt an:
- Im Dezember 2021 rechnet sie jetzt mit einer Inflationsrate von 4,7 bis 5,2 Prozent (bisher 3,7 bis 4,2 Prozent).
- Im Jahresdurchschnitt 2021 erwartet sie jetzt einen Verbraucherpreisanstieg von 5,4 bis 5,8 Prozent (bisher: 4,4 bis 4,8 Prozent).
Mittelfristige Prognosen der Zentralbank zu Inflation und Wachstum (Basisszenario; Auszug)
Weniger Wachstum wegen höherer Zinsen erwartet die Zentralbank nicht
Ihre Erwartung für das diesjährige Wachstum des Bruttoinlandsprodukts beließ die Zentralbank hingegen bei 3,0 bis 4,0 Prozent
Sie geht davon aus, dass der private Verbrauch um 9,2 bis 10,2 Prozent steigt und damit den tiefen Einbruch im letzten Jahr (- 8,6 Prozent) in jedem Fall mehr als ausgleicht.
Die Anlageinvestitionen, die 2020 um 4,3 Prozent sanken, dürften nach Einschätzung der Zentralbank bei einem Anstieg um 2,0 bis 4,0 aber noch merklich unter dem Niveau des Jahres 2019 bleiben.
Das BIP erreichte im März die „Wachstumszone“
Im März 2021 war das Bruttoinlandsprodukt nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums bereits 0,5 höher als vor einem Jahr (siehe blaue Linie in der folgenden Abbildung). Dazu trug bei, dass es in diesem Jahr im März mehr Arbeitstage gab, weil im letzten Jahr der 30. und 31. März wegen der Pandemie in Teilen der Wirtschaft arbeitsfrei waren.
Im gesamten ersten Quartal 2021 unterschritt die gesamtwirtschaftliche Produktion ihr Vorjahresniveau aber noch um 1,3 Prozent. Im vierten Quartal 2020 war sie nach Rosstat-Angaben im Vorjahresvergleich um 1,8 Prozent niedriger gewesen (drittes Quartal 2020: – 3,5 Prozent; zweites Quartal: – 7,8 Prozent).
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
Monatliche und vierteljährliche Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Erholung der Produktion auf breiter Front
Getragen wurde das BIP-Wachstum im März von weiten Bereichen der Wirtschaft. Besonders stark stieg die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (+ 4,2 Prozent). Auch insgesamt verzeichnete die Industrie im März einen Produktionsanstieg (+ 1,1 Prozent), obwohl die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ erneut sank (- 5,6 Prozent).
Erstmals war auch der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich höher als im Vorjahr (+ 1,4 Prozent). Der reale Einzelhandelsumsatz fiel hingegen im März im Vorjahresvergleich deutlich zurück (- 3,4 Prozent). Damals hatte es – vor dem Lockdown –eine deutlich verstärkte Nachfrage im Einzelhandel gegeben.
Im gesamten ersten Vierteljahr war die Industrieproduktion aber noch niedriger als vor einem Jahr (- 1,3 Prozent). Viel Aufholbedarf hatte im ersten Quartal insbesondere noch der Dienstleistungsbereich (- 4,3 Prozent).
Auch die Entwicklung von Löhnen und Beschäftigung zeigt die Erholung der Wirtschaft. Die Arbeitslosenquote ist seit August 2020 von 6,4 Prozent auf 5,4 Prozent gesunken. Der Anstieg der Reallöhne beschleunigte sich im Februar trotz der anziehenden Inflation auf 2,0 Prozent.
Realeinkommen seit 2013 um knapp 11 Prozent gesunken
Viel aussagefähiger als die Entwicklung der Reallöhne ist für die soziale Lage der privaten Haushalte aber die Entwicklung der gesamten real verfügbaren Einkommen. Daten für ihre Entwicklung im ersten Quartal 2021 wird Rosstat Ende April veröffentlichen. 2020 sanken sie gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent. Sie waren damit 10,6 Prozent niedriger als 2013.
Das Gaidar-Institut veröffentlichte dazu in seinem jetzt erschienen Jahrbuch „Russian Economy in 2020“ (712 Seiten) folgende Abbildung. Die linken Säulen zeigen die prozentuale Veränderung der real verfügbaren Einkommen gegenüber dem Vorjahr. Die mittleren Säulen zeigen die Entwicklung der Reallöhne, die rechten Säulen die Entwicklung der realen Renten.
Reale Entwicklung von
verfügbaren Einkommen, Löhnen und Renten
2014–2020
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent
„Armutsquote“ seit 2013 um 1,3 Prozentpunkte gestiegen
Der von Rosstat berechnete Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unter dem „Subsistenzminimum“, die sogenannte „Armutsquote“, ist zwar von 2013 bis 2015 deutlich von 10,8 Prozent auf 13,4 Prozent gestiegen. Bis zum Jahr 2020 sank die Armutsquote aber kontinuierlich auf 12,1 Prozent, wie RBK.ru Mitte April mit einer Abbildung berichtete. Die Armutsquote war damit im letzten Jahr 1,3 Prozentpunkte höher als 2013. Sie ist seit 2015 aber um 1,3 Prozentpunkte gesunken.
Im vierten Quartal 2020 betrug die Armutsquote, die vierteljährlich stark schwankt, 9,2 Prozent. Sie konnte damit trotz der Pandemie auf dem Niveau des vierten Quartals 2019 gehalten werden. Das Gaidar-Institut meint zur Entwicklung der Armutsquote im letzten Jahr, die 2020 geleisteten zusätzlichen staatlichen Hilfsmaßnahmen hätten bei der Bewältigung der Armutsrisiken eine wichtige Rolle gespielt.
Putin: „Wichtigstes Ziel sind jetzt steigende Realeinkommen“
Ein Schwerpunkt in Präsident Putins „Rede zur Lage der Nation“ waren die vorgesehenen weiteren staatlichen Hilfen zur Bewältigung der sozialen Folgen der Pandemie. Die AHK Russland berichtete darüber in den AHK News ausführlich.
Putin stellte in seiner Rede die Sicherung des Wachstums der Realeinkommen als derzeit wichtigstes Ziel heraus:
„Surely, the main goal right now is to ensure that people’s real incomes grow – that is, to restore them and secure their further growth. As I said, we need tangible changes in our fight against poverty.“
ING-Analyst Dolgin erwartet wenig von Putins Vorschlägen
Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der ING Bank, meint allerdings in seinem Kommentar der Rede, die von Putin angekündigten Maßnahmen hätten ein zu geringes Volumen, um das Wachstum der Wirtschaft zu beleben. Der Finanzminister habe mitgeteilt, dass die Maßnahmen in den beiden Jahren 2021 und 2022 insgesamt nur zu zusätzlichen Ausgaben von rund 400 Milliarden Rubel führen werden.
Dolgin schätzt, dass der wichtigste Teil der geplanten Maßnahmen, eine für August 2021 vorgesehene Pauschalzahlung von 10.000 Rubeln je Schulkind (rund 130 Dollar), Ausgaben von insgesamt rund 200 Milliarden Rubel erfordern wird. Dieser Betrag werde aber nur 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen.
Für eine positive Initiative hält Dolgin immerhin, dass der Präsident die Regierung aufforderte, neue Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen zu entwickeln, einschließlich steuerlicher Verbesserungen und einer Erleichterung des Zugangs zu staatlichen Aufträgen.
Investitionsfreudige Unternehmen sollen steuerlich belohnt werden
Putin regte in seiner Rede auch an, dass Unternehmen, die ihre Gewinne für Investitionen verwenden, gegenüber Unternehmen, die ihre Gewinne ausschütten, steuerlich bevorzugt werden könnten. Darauf macht Ben Aris in seiner Analyse der Putin-Rede aufmerksam. Putin sagte dazu in seiner Rede:
„The corporate sector is expected to make a record profit this year, despite all the problems that we are dealing with. …We will take note of how this profit will be used and, based on the annual results, we may decide to calibrate the tax legislation. I want to see specific proposals from the Government. Off the record, I should note: some withdraw dividends while others invest in the development of their companies and entire industries. We will be encouraging those who invest.“
Forderungen nach umfassenden Reformen werden erneut laut
Viele Beobachter vermissten in der Rede Putins Vorschläge für Wirtschaftsreformen. Im Finanzportal finam.ru berichtet Alexander Bratersky über einen offenen Brief bekannter russischer Ökonomen mit Forderungen nach umfassenden politischen und wirtschaftlichen Reformen. Auch die Freilassung des Oppositionspolitikers Nawalny wird von den Unterzeichnenden verlangt.
Bemerkenswert kritisch äußerte sich in einem Interview auch der Forschungsleiter der Abteilung „Financial Studies“ des Gaidar-Instituts, Alexey Vedev, zur Wirtschaftspolitik der Regierung und zur Geldpolitik der Zentralbank.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Konjunkturforscher heben Wachstumsprognosen für Russland an; 19.04.2021
- Optimistische IWF-Prognosen für Russlands Konjunktur; 12.04.2021
- Russische Wirtschaft: Regierung will Wachstumsprognose für 2021 senken; 06.04.2021
- Rasche Erholung: Arbeitslosenquote sinkt, Einkommen lösen sich aus dem Tief; 29.03.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Putin-Rede zur Lage der Nation und Reformforderungen von Ökonomen
- Zentralbank erhöht Leitzins von 4,5 auf 5,0 Prozent
- Neue Konjunkturprognosen des russischen Wirtschaftsministeriums