Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik
Die aktuelle Krise müssen finanziell vor allem mittelständische Unternehmen ausbaden. Zusätzlich werden Stimmen laut, die den Globalen Handel einschränken wollen – von beidem hängt aber der Wohlstand der Nationen ab. Ein Zwischenruf von Jens Böhlmann.
Bürokratie selbst in Krisenzeiten
Wir tun alles, um den Mittelstand zu erhalten und zu unterstützen, so lautet unisono die Botschaft der Politiker – in nahezu allen Ländern. Den so verbal Unterstützten sollen günstige Kredite angeboten, Steuern und Abgaben gestundet und für sie Hilfsprogramme geschnürt werden. Klingt alles gut und wäre dringend notwendig. Nur leider bleibt im realen Leben davon oft wenig übrig. In Russland, wo man im Vergleich zu anderen Ländern bisher mit staatlicher Unterstützung ohnehin sehr zögerlich ist, sollen in den Genuss vor allem Staatsbetriebe, systemrelevante Firmen und kleine Mittelständler kommen. Wer fürs System relevant ist, legt einigermaßen willkürlich der Staat fest. Die Bürokratie zur Beantragung von Hilfen ist riesig, die Behörden und die Server überlastet. Und das gilt nicht nur für die direkte Unterstützung. Ein deutscher Generaldirektor drückt es so aus: „Durch die Corona-Krise und die entsprechenden Erlasse der Gouverneure ist über Wochen eine große Unsicherheit darüber entstanden, wer überhaupt, wann und wie noch produzieren darf. Die entsprechenden Erlasse und Anordnungen waren lange sehr unklar formuliert.“
Wer ist Mittelstand, wer nicht?
Hinzu kommt die Frage, wer eigentlich zum Mittelstand zählt. Definitorisch sind das in Russland Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern und einem Umsatz bis zu zwei Milliarden Rubel. Dazu würden auch sehr viele Unternehmen mit ausländischen Mutterhäusern zählen. Um es ganz klar zu formulieren, das sind russische juristische Personen, die einhundert Prozent ihrer Steuern und Sozialabgaben in Russland zahlen, Russen beschäftigen und in einigen Fällen keinen einzigen Ausländer mehr. Solche Unternehmen, die in aller Regel auch noch die Know-how-Träger ihrer Branche sind, werden zusätzlich gezwungen, die Jahresabschlüsse der „Mutter“ vorzulegen, um als KMU anerkannt zu werden. Einem dieser Unternehmen wurde geraten, sich doch bitte an die Gebietsadministration zu wenden, dort werde man den Fall schon prüfen. „Im Ergebnis steht unsere Produktionsstätte seit mehr als einem Monat still, die auflaufenden Kosten haben wir weiterhin vollumfänglich selbst zu tragen und können uns nur auf die Hilf-Dir-Selbst-Regel verlassen“, so das Fazit des Generaldirektors.
Mittelständler sind die Verlierer
Eine Regelung zum Kurzarbeitergeld, die es z.B. in Deutschland Unternehmen ermöglicht, die schlimmsten Folgen der Krise abzufedern, gibt es in Russland nicht. Wie die Firmen zusätzlich die staatlich verordnete sechswöchige „Urlaubszeit“ finanzieren sollen, für die bisher keinerlei Ausgleich vorgesehen ist, bleibt das Geheimnis der Verantwortlichen. Mittelständische Unternehmen, „echte“ russische und andere zählen auf jeden Fall zu den Verlierern. Und um auch ganz deutlich zu machen, in welche Richtung sich Russlands Wirtschaft in Zukunft entwickeln soll, hat die Regierung Ende April staatlichen und regionalen Einrichtungen verboten, Waren die nicht aus der EAWU stammen, zu kaufen. Außerdem sollen in 20 Branchen die Importsubstitutionsregeln deutlich ausgeweitet werden. Keine dieser Maßnahmen klingt nach Marktliberalismus, freiem Wettbewerb oder mehr Integration in die Weltwirtschaft. Wie diese Maßnahmen mit den noch einmal gesteigerten Bemühungen um mehr Export korrespondieren sollen, ist schlicht nicht zu verstehen.
Was kommt danach?
Szenenwechsel: Ich bin voller Hoffnung, dass auch die Deutschen sehr bald verstehen, dass ihr Wohlstand und ihre Zukunft stark von ihren unmittelbaren Nachbarn abhängen, zumindest aber von der weiteren Existenz und der Solidarität innerhalb der EU und in Europa. Wenn der deutsche Staat, und damit sind in erster Linie die Steuerzahler gemeint, schon Unsummen zur Rettung ausgibt, dann sollte dabei auch die starke Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Export eine Rolle spielen. Der größte Teil der deutschen Exporte geht in die Länder der Europäischen Union, allein deshalb muss unsere Hilfe auch den am stärksten betroffenen Ländern Italien, Frankreich und Spanien gelten, aber selbstredend auch allen anderen Ländern. Man kann es auch rein materialistisch betrachten: Sei freundlich zu deinen Kunden, damit sie auch morgen wieder bei dir kaufen. Denn eines ist bei der Spendenaktion der EU und anderer Partner zur Suche und der Produktion nach einem Impfstoff ganz deutlich geworden: Auf die USA, China und leider auch Russland wird man sich bei konzertierten Aktionen nicht verlassen können.
Was und wer wird finanziert?
Dabei wäre es genau jetzt notwendig auf allen Ebenen zusammenzuarbeiten. Wer will, dass sich die Menschen ändern, muss für Aufklärung und mehr Wissen, für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Nationale Abschottung wird das Problem in dieser und in der nächsten Krise nur verstärken. Sicher, stärkerer Regulierung wird die Welt auch bedürfen, aber auch weniger realer Wirtschaft? Es ist sicher kein Fehler über den Sinn von Leerverkäufen und Wetten auf kollabierende Staaten nachzudenken, und die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung bei gleichzeitiger Dividenden- und Bonizahlung ist zumindest moralisch inakzeptabel. Die wirtschaftliche Tätigkeit aber insgesamt beschränken zu wollen, ist ein eher phantastisches Vorhaben. Die Zeit des Innehaltens wäre gut genutzt, um sich Gedanken über ein besseres Zusammenspiel aus Ökonomie, Ökologie und internationaler Vernetzung zu machen und Investitionsprogramme auf diese Ansprüche hin auszurichten und abzuklopfen. Die Weichen, wohin sich die Weltwirtschaft und als integraler Bestandteil die deutsche entwickeln, werden jetzt gestellt. Die Rede ist von Summen, die zwölf und mehr Nullen haben. Da darf die Frage erlaubt sein, was und wer wird mit diesem Geld finanziert? Wenn sich der Staat an Unternehmen beteiligt, ist das auch nichts anderes als die Umverteilung von Steuermitteln, die anderswo fehlen werden.
Unternehmen erwirtschaften den Wohlstand der Nationen
Denn eines muss klar sein: Alle Maßnahmen, die die Staaten augenblicklich beschließen, alle Hilfspakete, die national oder international geschnürt wurden, sind ausschließlich aus Steuermitteln finanziert. Selbst die gigantischen Staatsfonds sind nichts anderes als die Erlöse aus wirtschaftlicher Tätigkeit und internationalem Wettbewerb. Die Unternehmen schaffen die Werte in unserem System, die Familien geführten wie die börsennotierten und selbst die, die dem Staat gehören. Und sie allein werden es sein, die jetzt und nach der Krise dafür sorgen können, dass es wirtschaftlich wieder bergauf geht. Wir alle hängen am Tropf dieser Unternehmen: Der Staat, die Gesellschaft, jeder Einzelne. Export und internationale Kooperation werden deshalb eine herausragende Rolle spielen. Diese Tatsache gilt vor, in und nach der Krise. Und das vor allem in Europa.
Kapitalismus in Reinkultur
Das Problem ist, dass das Danach niemand auch nur ansatzweise präzise vorhersagen kann. Wenn es jemand könnte, dann hätte er oder sie sicher auch die Corona-Pandemie geweissagt und wüsste augenblicklich, was wie zu tun ist. Letztlich verhält es sich bei allen Prognosen wie mit einem Haarwuchsmittel. Gäbe es eins das wirkt, bräuchte es die anderen nicht. Vor allem aber verblüfft mich die angebliche Gewissheit, dass Entschleunigung, die Regionalisierung, ja Lokalisierung der Wirtschaft, die Zerschlagung der weit verzweigten Lieferketten und Handelswege eine bessere und gerechtere Welt schaffen sollen. Woher kommt diese Überzeugung? Vor der Corona-Krise kostete eine einfache Atemschutz-Maske in der Anschaffung ca. fünf Cent. In einer Berliner Apotheke heute 1,50 Euro! Das ist das Dreißigfache. Kapitalismus in seiner reinsten Form. Ist das die schöne neue Welt? Was passiert, wenn auch in diesem Jahr die Landwirtschaft von einer Dürre heimgesucht wird? Importieren wir dann kein Getreide und leben vom Eingemachten? Die meisten von uns wüssten nicht einmal wie das geht.
Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.
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