Gemischtes Doppel #41: Schweigen in Mariupol

Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer. Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs Stereoscope von n-ost.

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Gemischtes Doppel #41: Schweigen in Mariupol

Heute ist der 24. Mai 2017, willkommen beim Gemischten Doppel. Diesmal Inga Pylypchuk (UA): Während an der Front weiter geschossen wird, haben die Familien zwischen Mariupol und Donezk drei Jahre nach Beginn des Krieges einen Waffenstillstand beschlossen.

Von Inga Pylypchuk, n-ost


Im Juni 2015 war ich in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol und habe dort über vom Krieg gespaltene Familien recherchiert. Damals, ein Jahr nach dem Ausbruch des Krieges, schienen solche Familien dort die traurige Normalität zu sein.

Der Bruder pro-russisch, die Schwester pro-ukrainisch. Es zerfielen Paare, es gab Scheidungen. Eltern konnten nicht mehr mit ihren Kindern sprechen. Der Bruch ging quer durch die Familien, unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildung.

Nun bin ich zwei Jahre später wieder hier. Wie damals qualmen die Stahlwerke. Das seichte Asowsche Meer riecht nach Fisch und salziger Frische. Sein Wasser ist trüb. Im Sand findet man Muscheln und Glasscherben. In einer der sternklaren Nächte, in denen ich tief schlafe, wird das Dorf Berdjanske beschossen, nur 23 Kilometer von Mariupol entfernt. Es wird schwere Artillerie aufgefahren.

Die ist laut dem Minsker Abkommen eigentlich längst verboten. Aber die Mariupoler sind nicht überrascht von den Kriegsgeräuschen. Die Stadt selbst wird zwar seit dem 13. Juni 2014 von der ukrainischen Armee kontrolliert, aber in den naheliegenden Dörfern an der Front wird immer noch gekämpft. Mal ist es ruhiger, mal eskaliert es wieder. In dieser Nacht werden Häuser in Berdjanske zerstört, zum Glück gibt es keine Toten.

Dima, ein Mittdreißiger, der auf dem linken Ufer des Kalmius-Flusses in Mariupol wohnt, kann die Schüsse an der Front immer noch nachts hören. „Wenn ich auf Dienstreise nach Kiew komme,“ erzählt er, „kann ich nicht einschlafen. Es ist komisch, wenn es leise ist.“ Im Pub mit dem deutschen Namen „Bierkeller“, in dem wir den Freitagabend verbringen, gibt es leckeres Bier und gutes Essen. Es ist gemütlich, alle Tische sind besetzt, die Menschen gut gekleidet. Auch hier hört man den Krieg nicht. Bis man den Menschen zuhört.

Mit uns am Tisch sitzt auch Anja. Sie ist in Donezk aufgewachsen. Anja woht in Kiew und arbeitet für eine internationale Organisation, mit der sie nun Mariupol besucht. Sie erzählt, dass ihre Mutter immer noch in Donezk wohnt. Donezk ist nun die  Hochburg der prorussischen Separatisten, die Hauptstadt der „Donezker Volksrepublik“. Eine andere Welt.

Anja kann ihre Mutter dort nicht mehr besuchen, weil die Separatisten sie wegen ihrer proukrainischen Einstellung auf eine „schwarze Liste“ gesetzt haben. Mit ihrer Mutter trifft sie sich an der Frontlinie, auf einer Datscha, die in einem Dorf steht, das von der Ukraine kontrolliert wird. Über Politik sprechen die beiden nicht.

Auch Dima spricht mit seinen Eltern, die ebenfalls in der „Donezker Volksrepublik“ wohnen und Russland unterstützen, nicht darüber.

Ist das eine ohnmächtige Sprachlosigkeit, oder nutzt man das Schweigen bewusst als Strategie zur Aussöhnung? Eine notwendige vielleicht, denn eins ist klar: Der Krieg geht weiter, aber das Leben auch. Die Emotionen kochen nicht mehr auf der höchsten Stufe.

Es ist, als hätte sich der Krieg im Sand abgesetzt, gemischt mit Muscheln und Glasscherben, und auch in der Luft, wie die Abgase der Stahlwerke, die man nicht mehr merkt beim Atmen, wenn man lange genug in der Stadt ist. Wenn man sich daran gewöhnt hat.

„Wir haben einfach verstanden, dass wir uns nicht mehr bekehren werden. Wir haben uns gegenseitig akzeptiert,“ erzählt Wlad. Er ist 21 und engagiert sich für die Entwicklung Mariupols. Wlad wünscht sich eine neue, moderne Ukraine. Seine Eltern sind „eher pro-russisch“. Auch er hat sich entschieden, den Kontakt deswegen nicht abzubrechen. Noch vor drei Jahren kam es zu hitzigen Debatten zwischen ihnen.

Es mag paradox klingen, scheint aber wahr zu sein: Manchmal macht der Krieg toleranter. Darin liegt meine Hoffnung, auch wenn ich weiß, dass das nur eine Seite der Medaille ist.