Gemischtes Doppel #35: „Freude und Trauer umarmen sich“

Gemischtes Doppel #35: „Freude und Trauer umarmen sich“


Haben Sie schon mal ukrainische Nationalisten und ukrainische Schwule zusammen protestieren gesehen? Wenn nicht, schauen Sie sich die Bilder von der gestrigen Demo gegen das neue Arbeitsrecht in Kiew an. Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Eine Regenbogenfahne und gleich daneben dutzende Fahnen der nationalistischen Swoboda-Partei (das ist die blaue Flagge mit den drei gelben Fingern). Wie kann das denn bitte sein?

Die Erklärung für das skurrile Bild: Die Nationalisten demonstrierten gegen die Änderungen im neuen Arbeitsgesetzbuch, die die Rechte von Arbeitnehmern einschränken und es Arbeitgebern ermöglichen würden, Mitarbeiter mit Hilfe von Videokameras auszuspionieren.

Protest der LGBTI-Community

Die Vertreter der LGBTI-Community protestierten  gegen das Vorhaben, die hart erkämpfte Antidiskriminierungsnovelle von 2015 wieder zurückzunehmen. Im aktuellen Entwurf des Arbeitsgesetzbuches ist festgelegt, dass Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von Merkmalen wie Alter, Nationalität, Rasse, Behinderung, HIV-Status sowie aufgrund sexueller Orientierung und Gender-Identität verboten ist.

Nun will der Abgeordnete Pawlo Ungurjan das ändern und hat offiziell einen Vorschlag eingereicht, in dem das Wort Diskriminierung zwar vorkommt, aber die Risikofaktoren nicht beim Namen genannt werden. Sie sind dort einfach gestrichen. Darauf bekam die stellvertretende Parlamentsvorsitzende Iryna Geraschtschenko einen regelrechten Wutanfall und bezeichnete Ungurjan und seine reaktionären Verbündeten als „Parlamentstaliban“. Interessanterweise gehören Ungurjan wie Geraschtschenko beide zu den Parteien der Regierungskoalition.

Abschaffung der EU-Visapflicht

Schließlich reichte Geraschtschenko selbst beim zuständigen Komitee einen Vorschlag ein. Dort sind die bereits erwähnten Punkte wie „sexuelle Orientierung“ und „Gender-Identität“ wieder Schwarz auf Weiß aufgeführt. Das bedeutet, erklärt mir am Telefon der LGBTI-Aktivist Zoryan Kis, der mutige Mann mit der Regenbogenfahne bei der Demo, dass das Parlament nun wieder über die Antidiskriminierungsnovelle abstimmen wird. Und ganz bestimmt wird es wieder ein großes Theater geben.

Bei der letzten Abstimmung im November 2015 hatten die Abgeordneten mehrere Tage gebraucht, um die notwendige Stimmenanzahl zu erreichen. Warum eine „notwendige“? Antidiskriminierungsgesetze waren eine wichtige Bedingung der EU für die Abschaffung der Visapflicht für die Ukraine. Schließlich hatten 234 Abgeordnete unter massivem politischem Druck für die Novelle gestimmt.

Schon damals warnten Skeptiker, die ukrainischen Politiker würden die EU nur „an der Nase herumführen“. Wartet mal ab, sie werden die Gleichstellung wieder abschaffen, hieß es. Heute bin ich optimistisch, dass es soweit nicht kommt. Trotz der Bemühungen einiger Politiker wie Ungurjan gibt es inzwischen viele entschiedene Gegner dieses Rückschritts, darunter auch Präsident Petro Poroschenko.

Gleichstellung am Arbeitsplatz

Schnell ließ er seinen Sprecher mitteilen, dass er dieses Gesetz ohne die entsprechenden Normen nicht unterzeichnen werde. Die Abschaffung der Visa-Pflicht, die bereits im Sommer in Kraft treten soll, ist eines seiner wichtigsten politischen Ziele. Und die EU macht klar, dass die Visa-Pflicht im Falle eines „Zurückruderns“ bei den Reformen wieder eingeführt werden kann.

„Freude und Trauer umarmen sich“ zitieren Ukrainer in solchen Situationen aus einem Gedicht von Oles Gontschar. Heißt in diesem Fall: Ich freue mich über die baldige Abschaffung der Visa-Pflicht für die Ukrainer, und mindestens ebenso sehr darüber, dass die Gleichstellung am Arbeitsplatz im Gesetz verankert worden ist und dass diese Position verteidigt wird. Und gleichzeitig bin ich traurig, weil ich mich auch frage, warum es so viel Kampf, so viel Zeit, so viel Geduld und so viel Druck von Außen braucht, um so einfache Dinge durchzusetzen?


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer. 

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