„Doppel-Schock“ für Russlands Wirtschaft im zweiten Quartal

Bruttoinlandsprodukt um ein Zehntel gesunken, Ausfuhrerlöse um ein Drittel

Russlands Konjunktur wurde im zweiten Quartal nicht nur durch die im Verlauf der Corona-Pandemie von der Regierung angeordneten Einschränkungen der Produktion belastet. Auch der für die russische Wirtschaft besonders wichtige Ölpreis brach tief ein.

Dieser „Doppel-Schock“ wird in der Entwicklung der Handels- und Leistungsbilanz besonders deutlich. Die russische Zentralbank veröffentlichte am 10. Juli eine erste Schätzung der Entwicklung der Zahlungsbilanz im zweiten Quartal. Am Anfang des zweiten Quartals, im April, wurden zahlreiche Betriebe wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Damals fiel auch der Urals-Ölpreis auf ein langjähriges Tief.

Ölpreiseinbruch um 55 Prozent gegenüber dem Vorjahr

Der Rückgang des Urals-Ölpreises hatte bereits im Januar begonnen. Von rund 65 Dollar/Barrel am Jahreswechsel sank er im April im Monatsdurchschnitt auf nur noch 18,2 Dollar.

Economic Expert Group: Economic Review – May 2020; Page 44, 24.06.2020

Im Mai erholte sich der Ölpreis auf 31 Dollar und stieg im Juni weiter auf 41,9 Dollar (siehe Nefte-Chart). Im gesamten zweiten Quartal war er mit rund 30 Dollar aber dennoch rund 55 Prozent niedriger als im zweiten Quartal 2019 (rund 68 Dollar).

Die Halbierung des Ölpreises schlug in der Handelsbilanz im zweiten Quartal voll durch. Der Wert der Rohölexporte sank im Vergleich zum Vorjahresquartal um 57 Prozent. Auch die Erdgas-Exportpreise waren im zweiten Quartal deutlich niedriger als vor einem Jahr.

Energieexporterlöse um gut die Hälfte niedriger

Russlands Erlöse aus der Ausfuhr von Erdöl, Mineralölprodukten und Erdgas erreichten im zweiten Quartal 2020 insgesamt nur noch 28 Milliarden Dollar. Das waren rund 52 Prozent weniger als vor einem Jahr.

Die folgende Abbildung der ING-Bank zeigt den Einbruch des Urals-Ölpreises (rote Linie/rote Punkte) und den daraus folgenden Rückgang der Erlöse aus dem Energieexport auf 28 Milliarden Dollar im zweiten Quartal 2020 (graue Säule). Die violette Linie signalisiert, dass bei einem Anstieg des Ölpreises um einen Dollar die gesamten Energieexporterlöse um knapp eine Milliarde Dollar steigen dürften.

Fuel exports dropped in 2Q20 in line with oil price,
Russia has yet to see the effect of output contraction

Energielastigkeit der Ausfuhr stark gesunken

Der Anteil der Ausfuhr von Öl und Gas an den gesamten Warenexporten verringerte sich auf rund 41 Prozent. So niedrig war er laut einer Analyse der Alfa Bank in den letzten 15 Jahren noch nie. Vor einem Jahr betrug der „Energie-Anteil“ noch rund 57 Prozent – wie auch im Durchschnitt der letzten 5 Jahre. Die sonstigen Warenexporte Russlands nahmen im zweiten Quartal hingegen nur um rund 8 Prozent ab.

Immerhin ist Russlands Wirtschaft so weniger energielastig geworden. Dabei nahmen laut einer Analyse des Gaidar Instituts die Rohölausfuhr und die Ausfuhr von Mineralölprodukten mengenmäßig noch schwach zu (jeweils + 2,7 Prozent). Deutlich gesunken sind der Menge nach hingegen die Erdgaslieferungen per Pipeline (- 17,2 Prozent) und als verflüssigtes Erdgas (- 19,9 Prozent).

Handelsbilanzüberschuss um fast zwei Drittel niedriger

Insgesamt waren die Ausfuhrerlöse Russlands im Warenhandel im zweiten Quartal rund 33 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Die Einfuhren von Waren nach Russland sanken gleichzeitig im zweiten Quartal nur um rund 14 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal.

Der Ausfuhrüberschuss Russlands im Warenhandel verringerte sich von rund 39 Milliarden Dollar um fast zwei Drittel auf nur noch rund 14 Milliarden Dollar.

Rückgang von Auslandsreisen senkt Dienstleistungseinfuhren

Anders als im Warenhandel verzeichnet Russland im Dienstleistungshandel ein Defizit. Es hat sich im zweiten Quartal 2020 sehr stark auf rund 2 Milliarden Dollar verringert. Im zweiten Quartal 2019 hatte es noch 9 Milliarden Dollar betragen.

Zu der Abnahme des Defizits trug bei, dass russische Bürger weniger ins Ausland reisten, also weniger Dienstleistungen aus dem Ausland importiert wurden. Insgesamt sanken die Einfuhren von Dienstleistungen um rund 60 Prozent.

Die folgende Abbildung der ING-Bank zeigt diesen Rückgang der Importe von Dienstleistungen (violette Linie) und den Rückgang der Warenimporte um rund 14 Prozent (graue Linie).

Imports of services dropped by only 60% YoY in 2Q20 despite travel ban, imports of goods dropped modestly

Überschuss in der Leistungsbilanz ist verschwunden

Für die Leistungsbilanz bedeutete die Entwicklung des Warenhandels und des Dienstleistungshandels, dass der Überschuss in der Leistungsbilanz fast völlig aufgezehrt wurde (rote Säule). Er verringerte sich von 9,9 Milliarden Dollar im zweiten Quartal 2019 auf nur noch 0,6 Milliarden Dollar im zweiten Quartal 2020.

Bruttoinlandsprodukt sank im zweiten Quartal um fast ein Zehntel

Erste Berechnungen, wie weit die gesamtwirtschaftliche Produktion im zweiten Quartal durch den „Doppel-Schock“ zurückgefallen ist, veröffentlichte das russische Wirtschaftsministerium am Freitag (Bericht „Bild der Wirtschaftsaktivität“). Danach ist das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich mit dem zweiten Quartal 2019 um 9,6 Prozent gesunken.

Im Verlauf des zweiten Quartals verringerte sich der Rückgang des BIP gegenüber dem Vorjahresmonat stetig. Im April, dem ersten „Lockdown-Monat“, brach die gesamtwirtschaftsliche Produktion im Vergleich zum April 2019 um 12,0 Prozent ein (siehe folgende Abbildung, blaue Linie). Im Mai sank der Rückgang auf 10,7 Prozent. Im Juni war das BIP „nur“ noch 6,4 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Veränderungen des realen Bruttoinlandsprodukts
gegenüber dem Vorjahresmonat (blaue Linie) und
gegenüber dem Vorjahresquartal (blaue Punkte) in Prozent

Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität Juni 2020; 17.07.2020

Dienstleistungen und Einzelhandel am meisten betroffen

Besonders starke Einbußen gab es im zweiten Quartal im Bereich der privaten Dienstleistungen. Hier sank der reale Umsatz gegenüber dem Vorjahr im Zweiten Quartal um gut ein Drittel (April: – 37,9 Prozent; Mai: – 39,5 Prozent; Juni: – 34,5 Prozent).

Im Einzelhandel war der reale Umsatz im zweiten Quartal 16,6 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal.

Industrieproduktion nahm etwas weniger ab als das BIP

Der Rückgang der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahr war im zweiten Quartal mit 8,5 Prozent etwas schwächer als der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion (- 9,6 Prozent). Dabei sank die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ unterdurchschnittlich um 7,9 Prozent. Die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ nahm mit 10,3 Prozent hingegen noch etwas stärker ab als die gesamtwirtschaftliche Produktion.

Die Einkommen sinken, die Arbeitslosigkeit steigt

Die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung unterschritten im zweiten Quartal ihr Vorjahresniveau um 8,0 Prozent. Im ersten Halbjahr 2020 waren sie 3,7 Prozent  niedriger als vor einem Jahr.

Die Arbeitslosenquote erhöhte sich im Verlauf des zweiten Quartals von 5,8 Prozent im April über 6,1 Prozent im Mai auf 6,2 Prozent im Juni.

Wann wird der Rückschlag des Jahres 2020 aufgeholt sein?

Wie rasch sich die russische Wirtschaft von dem Produktionseinbruch des Jahres 2020 erholen wird, bleibt umstritten.

So prognostizierte „Economist Intelligence Unit“ in der letzten Woche, die russische Wirtschaft werde erst nach fünf Jahren im Jahr 2024 wieder den Produktionsstand des Jahres 2019 erreichen. Nach einem Rückgang des BIP um 6,1 Prozent im Jahr 2020 werde sie 2021 nur um 1,6 Prozent und 2022 nur um 1,8 Prozent wachsen.

Die Rating Agentur Standard & Poor’s rechnet in einer neuen Prognose hingegen damit, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2020 um 4,8 Prozent sinken wird. Schon 2021 werde Russland diesen Rückschlag mit einem Wachstum um 4,5 Prozent weitgehend aufholen (2022: + 3,3 Prozent). Diese Einschätzung entspricht weitgehend der Juni-Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics bei Analysten (2020: – 4,9 Prozent; 2021: + 3,2 Prozent).

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Titelbild: Artem Beliaikin / Unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Zahlungsbilanz Russlands im ersten Halbjahr 2020

Konjunkturberichte von Wirtschaftsministerium, Rosstat, Zentralbank

Russlands Industrieproduktion im Juni 2020

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (monatlich, vierteljährlich, halbjährlich)

Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland