„Digitalisierung killt keine Jobs!“

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Digitalisierung als Schlagwort ist in aller Munde, inzwischen aber auch schon großflächig im Einsatz. Der Blick in Unternehmen zeigt, dass nationale Alleingänge bei der Entwicklung von Programmen, Anwendungen, Sprachen und Lösungen eher nicht zum Ziel führen. Dabei wird deutlich: auch ohne große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit existieren bereits zahlreiche deutsch-russische Kooperationen.

Deutschland sitzt zu Hause

Deutschland sitzt zu Hause und arbeitet aus dem Wohn-, Schlaf- oder Arbeitszimmer. Manchmal muss auch das Kinderzimmer herhalten. Das funktioniert so halbwegs, es sei denn man hat neben Ehe- oder Lebenspartner auch noch schulpflichtige oder studierende Kinder zu Hause. Dann können die verfügbare Internetbandbreite, die Übertragungsgeschwindigkeit und die Geduld recht schnell knapp und das Internet zu einem Geduldsspiel werden. Legendär ist mittlerweile der verzweifelte Ruf eines Sohnes: „Papa geh endlich aus dem Netz, ich will mich bei einer Uni bewerben!“ Dann muss man sich entscheiden, ob man die Karriere des Sohnes fördern oder den eigenen Job riskieren will. Deutschland ist noch eher mäßig auf das digitale Zeitalter vorbereitet. Was im privaten Umfeld vielleicht noch zu managen ist, wächst sich für die Industrie zu einem handfesten Problem aus.

Noch nicht 4.0, aber schon 3.5

Denn wir sind schon mittendrin im digitalen Zeitalter. Maschinen und Anlagen werden heute schon ferngewartet, Produkte per Internet konfiguriert und bestellt und Produktionsprozesse mittels KI kontrolliert, angepasst und optimiert. Das alles funktioniert allerdings nur mit einem stabilen und schnellen Internet und dem Standard 5G. Für dieses Thema ist wesentlich der Staat verantwortlich, und der zeigt sich –  leider nicht nur bei diesem Problem –  gerade von seiner behäbigen Seite. Gott sei Dank hat Deutschland in der Welt bei den industriellen Anwendungen nach wie vor eine Schlüsselposition inne. Nicht ohne Grund wurde für die nächste industrielle Evolutionsstufe der Name Industrie 4.0 gewählt, dessen Ursprung in Deutschland liegt. „Wir sind zwar noch nicht wirklich bei Industrie 4.0 angelangt, vielleicht bei 3.5, aber die Entwicklung ist rasant“, zeigte sich der Direktor für Standardisierung und Normung bei Siemens Markus Reigl auf der deutsch-russischen Konferenz „Industrie 4.0 – Aktuelle Trends bei der Digitalisierung der Industrie“ zuversichtlich. Wesentliche Standards für die Digitalisierung werden in Deutschland entwickelt und in die Produktion überführt. Eine Produktion, die aufgrund der weltweiten Vernetzung kaum noch nationale Grenzen kennt.

Markus Reigl, Siemens – Deutsch-russische Konferenz „Industrie 4.0 – Aktuelle Trends bei der Digitalisierung der Industrie“

Internationale Standards, neue Sprache

„Wir müssen die technischen Reglements anpassen und internationale Standards schaffen, wir brauchen eine komplette Modifizierung der Sprache für Maschinen“, bestätigt auch der Abteilungsleiter für digitale Technologien im Ministerium für Industrie und Handel der Russischen Föderation Wladimir Doschdjow und zeigt sich erstaunlich offen für internationale Kooperationen. Mehr noch, er ist der Überzeugung, dass „von herausragender, ja entscheidender Bedeutung die Zusammenarbeit mit Deutschland ist.“ Im wirklichen Leben verwenden die russischen international operierenden Firmen schon lange SAP-Systeme, Cloud-Computing von Salesforce und den Support von Zendesk, aber auch Lösungen der BFG Group, einem noch jungen russischen Unternehmen aus dem Bereich der Software-Entwicklung und der Produktionsoptimierung. In diesem Beispiel stammen die Systeme aus dem Portfolio des Petersburger Konzerns Kirowskij Zavod, einem auch in Deutschland sehr aktiven Global Player. Aber auch für den LKW-Hersteller KAMAZ sind Augmented Reality, autonome Systeme und Ferndiagnosen mittels KI keine Fremdworte sondern Arbeitsalltag.

Intelligente Helfer machen das Leben leichter

Wer immer noch national denkt, bekommt in allernächster Zukunft ein Problem, wenn er es nicht schon hat. Bestell-, Service-, Wartungs- und Optimierungsprozesse werden künftig nicht nur online sondern auch in einer extra für diesen Einsatz programmierten Sprache von überall auf der Welt abgewickelt; Ontologie, Semantik und Interoperabilität sind die Schlüsselworte. Das beinhaltet die komplette Modifizierung gängiger Business-Prozesse. Nichts anderes ist mit Industrie 4.0 gemeint. Die eigentliche Revolution ist nicht der Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter. Es ist das Sammeln, Auswerten und die Nutzung von Daten, um daraus die richtigen Entscheidungen für den Produktionsprozess abzuleiten, ergänzt durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Kein Mensch kann sich tausende mögliche Modifikationen eines Produktes merken – eine KI schon. Diese Instrumente erleichtern den Menschen die Entscheidungen und steigern die produktive Intelligenz und die gesamten betrieblichen Abläufe. Der Mensch wird nicht überflüssig. „Die Digitalisierung killt keine Jobs, sie schafft höherwertige Arbeitsplätze“, ist sich der Geschäftsführer von itWatch Ramon Mörl sicher. Auch er sieht in der internationalen Kooperation den Schlüssel zum Erfolg, gerade auch weil sich das Unternehmen mit dem Schutz kritischer Infrastrukturen beschäftigt. 

Bräsig, medioker, ohne Sachverstand

Ohnehin sorgt ein Blick in die Unternehmen für deutlich bessere Laune als die Beobachtung einer bräsigen, mediokren und mit mäßigem technischen Sachverstand ausgestatteten Verwaltung. Es sei noch einmal an den sensationell geistreichen Spruch erinnert, dass man 5G nicht an jeder Milchkanne braucht. Gerade in einem der wichtigsten Industriebereiche der Zukunft, der Agrarwirtschaft, ist Digitalisierung die einzige Chance, um den wachsenden Hunger der Welt zu stillen. Das könnte man wissen, wenn man sich von Zeit zu Zeit mit Unternehmen dieser und anderer Branchen unterhalten würde. Fünf Milliarden Euro sollen hierzulande bis 2025 in die Entwicklung von KI investiert werden, um Deutschland zum Weltmarktführer und Europa konkurrenzfähig zu machen. Das ist eine Milliarde Euro pro Jahr. Klingt viel, ist aber nur die Hälfte dessen, was die USA in diesem Bereich investieren. Auch beim Thema Cloudcomputing, der Wachstumstechnologie im Digitalbereich, gibt Deutschland ein trauriges Bild ab. Die Weltmarktführer kommen aus dem Silicon Valley und aus China.

Dr. Philipp Jussen, Schaeffler – Deutsch-russische Konferenz „Industrie 4.0 – Aktuelle Trends bei der Digitalisierung der Industrie“

Bei industriellen Anwendungen Spitze

Bleibt die Transformation der klassischen Industrien ins digitale Zeitalter. Noch „wissen“ die meisten Maschinen nicht, dass sie in Zukunft mit ihresgleichen kommunizieren, interagieren und den Menschen großflächig ersetzen sollen. Die Digital-Technologien für diese Art der Datenübertragung existieren schon heute, aber sie sind noch nicht weit genug verbreitet und bis dato noch zu teuer. Der Chef des Product Lifecycle Management Industrie 4.0 bei Schaeffler, Philipp Jussen, drückt es so aus: „Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir 100 Jahre altes Wissen mit den neuen Technologien verknüpfen müssen.“ Dass die Unternehmen die Herausforderung dieser Transformation möglichst schnell und reibungsarm meistern sollten, macht ein Blick auf den Weltmarkt deutlich. Bis 2025, also in weniger als fünf Jahren, wird der Markt des Internet der Dinge etwa 800 Milliarden Euro betragen. Wer dann keinen Zugang zu digitalen Technologien hat, der wird vermutlich sehr viel freie Zeit haben. Sehr positiv ist, dass sich, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, zwischen deutschen und russischen Partnern im Bereich der Digitalisierung sehr fruchtbare Partnerschaften entwickelt haben und weiterentwickeln. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu diesem Austausch leistet auch die Deutsch-Russische Initiative zur Digitalisierung (GRID), die getragen von den Verbänden RSPP (Verband der russischen Industriellen und Unternehmer), Ost-Ausschuss und der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer Unternehmen in Kontakt bringt.

Der „Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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