Die russische Mentalität, Teil 2 von 3

Im zweiten Teil unserer dreiteiligen Serie zur russischen Mentalität gehen wir auf den Umgang der Russen mit der in ihrem Land vielerorts herrschenden Unsicherheit und auf ihre notorische Sorglosigkeit im Alltag ein. Außerdem werden ihr traditionell schwieriges Verhältnis zur Staatsmacht und ihr unbeirrbarer Gerechtigkeitssinn vorgestellt. Schließlich greifen wir auch das Stereotyp der vermeintlichen russischen Faulheit auf und zeigen, dass diese für westliche Projektpartner durchaus Vorteile mit sich bringen kann.

„Das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein“

Dieses russische Credo beantwortet die essenzielle Frage, wie man denn in einem Land seine persönliche Zukunft planen soll, in dem das „Morgen“ nicht gesichert zu sein scheint. In der Gesellschaft weit verbreitet ist dabei die Hoffnung, dass „alles schon irgendwie gutgehen“ wird. Daher drückt auch das Sprichwort „Der Bauer braucht erst den Donner, um sich zu bekreuzigen und zu wundern“  die berüchtigte russische Sorglosigkeit aus, die zwar viele betört, die es einer ganzen Reihe von Machthabern aber auch erleichterte, das Land zu beherrschen.

Recht und Gerechtigkeit

Leider stehen diese beiden Begriffe in Russland alles andere als Synonym zueinander. Das russische Volk und die russischen Behörden sind sich beiderseits darin einig, dass man einander grundsätzlich nicht trauen darf. Deshalb hat sich auch die Vorstellung, dass der Staat die Rechte und Freiheiten seiner Bürger mit Füßen tritt, anstatt sie zu schützen, tief ins Unterbewusstsein der Russen eingegraben.

Die Strenge des Gesetzes wird kompensiert durch seine lasche Umsetzung

„Die Strenge des Gesetzes wird kompensiert durch seine lasche Umsetzung“, so scherzt man. Aus leidiger Erfahrung wissen die Russen, dass die Auslegung ihrer Gesetze jederzeit im Interesse der Reichen und Mächtigen manipuliert werden kann. Allerdings kann auch nicht jede Lebenssituation durch ein Gesetz geregelt werden, sodass zwischenmenschliche Beziehungen oftmals eher durch eine moralisch-emotionale Vorstellung von Gerechtigkeit geordnet sind, welche in Russland über allem Gesetz steht.

Falls Sie sich also vom berüchtigten russischen Amtsschimmel  erdrückt fühlen oder durch diverse russische Amtsträger in unangenehme Situationen gebracht werden, so zögern Sie nicht, dies vor Ihren russischen Freunden auch anzusprechen. Ihre Empörung wird dabei mit großer Anteilnahme aufgenommen werden,  denn den Russen ist jede Gelegenheit recht, ihre Beamten, die Polizei und die Regierung zu kritisieren und zu verhöhnen. Vielleicht geben Ihnen Ihre Freunde bei solchen Gelegenheiten ja auch ein paar Expertentipps, wie Sie aus Ihrer misslichen Lage wieder herauskommen.

Revolutionäre oder Konformisten?

Wenn man über die russische Mentalität spricht, dann sollte man unbedingt auch die russische Geduld mit erwähnen. Die Geduld der Russen scheint ebenso endlos zu sein, wie die Weiten des Landes. Dies unterstreicht auch die Fähigkeit des russischen Volkes, allen möglichen Entbehrungen zu trotzen und dabei eine nahezu übermenschliche Erfindungsgabe an den Tag zu legen, um unter scheinbar unmenschlichen Bedingungen zu überleben. Viele Russen ertragen die Härten ihres Alltags mit außergewöhnlicher Fassung und sind manchmal sogar stolz darauf, ihr persönliches „Kreuz“ tragen zu müssen. Nicht zuletzt diese leidvollen spirituellen Erfahrungen sind es, die zur Entstehung unschätzbarer Meisterwerke der russischen Kunst und Literatur beitrugen.

„Ein dünner Kompromiss ist besser als ein fetter Rechtsstreit“

Diese Redewendung illustriert die Unlust der Russen, Konflikte offen auszutragen. Die häufig wiederkehrende Not im Land und die friedfertige Natur des russischen Volkes haben dazu geführt, dass Kompromisse stets erstrebenswerter sind als Konfrontationen. Und obwohl das russische Herz grundsätzlich gegen alle Formen von Ungerechtigkeit rebelliert, können die Russen Druck und belastende Situationen erstaunlich lange ertragen. Bricht ihre angestaute Wut jedoch einmal aus ihnen heraus, so gleicht dies einer Explosion, vor deren Unaufhaltsamkeit und Gewalt man sich definitiv in Acht nehmen sollte.

Faul oder effizient?

Die vermeintliche russische Faulheit ist fast ebenso berüchtigt, wie die großzügige Seele der Russen. So ziemlich jede russische Seele beherbergt dabei einen „Jemelja“, den großen Faulenzer, einen russischen Fabelheld, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als auf seinem geliebten Ofen zu sitzen, der ihm alle Wünsche erfüllt und ihn an alle möglichen Orte verschlägt, ohne dass Jemelja von ihm auch nur herabsteigen müsste.

Die russische Faulheit ist verträumt und nachdenklich

Aus einem philosophischen Blickwinkel heraus betrachtet steht sie im scharfen Gegensatz zur Hast und Eile der modernen Welt und zu deren „Jahrmarkt der Eitelkeiten“. Manchmal können die Russen einfach nicht anders, als sich inmitten konzentrierter Arbeit für eine Weile einfach ihren Tagträumen und ihrer ewigen Grübelei hinzugeben. Von ihnen selbst wird ein solches Verhalten weder begrüßt, noch kritisiert, sondern schlichtweg als Naturphänomen betrachtet, welches ihnen oft zu originellen Ideen und neuen Sichtweisen verhilft. Allerdings werden die meisten der während ihrer kreativen Faulheit entwickelten Ideen von den Russen eben aufgrund dieser Faulheit niemals in die Realität umgesetzt, denn in der Regel überdenken sie jedes Vorhaben zehn Mal, bevor sie auch nur einen Finger rühren, um es zu realisieren.

Wenn Sie also in Russland arbeiten, sollten sie immer im Hinterkopf behalten, dass die Russen viel Zeit brauchen, um sich „am Riemen zu reißen“, d.h. um sich mit ganzer Seele auf ein ganz konkretes Ziel zu fokussieren. Sobald sie dies aber geschafft haben und am Erreichen ihres Ziels sowohl persönlich interessiert sind als auch emotional daran hängen, demonstrieren sie geradezu rekordverdächtige Werte an Leistungsfähigkeit und persönlichem Engagement. Sie nehmen Herausforderungen dann mit Freude an und Überstunden gerne in Kauf, obwohl letzteres von ihnen manchmal auch als Ausgleich für ihr häufiges morgendliches Zuspätkommen gewertet wird.

Gehen Sie auf diese Besonderheiten der russischen Arbeitsmentalität mit einem gewissen Grad an Sensibilität ein, so können Sie diese durchaus gewinnbringend in Ihr Unterfangen in Russland einfließen lassen.