Deutsche Institute senken Rezessionsprognose für Russland drastisch

Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow kann sich gratulieren lassen. Im September veröffentlichte sein Ministerium die Prognose, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr trotz westlicher Sanktionen nur um 2,9 Prozent sinken wird. Sie scheint sich jetzt ziemlich genau zu bestätigen.

Bei einer Anfang Dezember von der Zentralbank durchgeführten Umfrage rechneten die Analysten für 2022 im Mittelwert jedenfalls auch mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 2,9 Prozent. Stören dürfte den Minister allerdings, wie ungünstig die Analysten die weiteren Konjunkturaussichten einschätzen. Während die Regierung annimmt, dass sich die Rezession im nächsten Jahr auf nur noch 0,8 Prozent abschwächen wird, erwarten die von der Zentralbank befragten Analysten im Mittelwert ihrer Prognosen, dass Russlands BIP 2023 rund drei Mal so stark um weitere 2,4 Prozent sinkt.

Auch führende deutsche Konjunkturforschungsinstitute erwarten, dass sich Russlands Rezession im nächsten Jahr mit deutlich höherem Tempo fortsetzt als die Regierung annimmt. Ihre Rezessionsprognosen für das ablaufende Jahr 2022 haben das Kieler Institut für Weltwirtschaft und das Münchner ifo Institut in der letzten Woche jedoch überraschend deutlich abgeschwächt.

Deutsche Institute halbieren ihre Rezessionsprognose für 2022

Das IfW Kiel erwartet für 2022 in Russland jetzt nur noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 2,3 Prozent. Vor nur drei Monaten hatte es noch mit einem doppelt so starken Rückgang um 4,7 Prozent gerechnet.

Das ifo Institut schätzte die diesjährige Rezession im September sogar noch auf 5,8 Prozent. Die neue ifo-Rezessionsprognose von 3,1 Prozent übertrifft den von der russischen Regierung im Haushaltsgesetz eingeplanten Rückgang um 2,9 Prozent hingegen kaum noch.

Die Senkung der Rezessionsprognosen für 2022 wird durch am 14. Dezember veröffentlichte neue Daten des russischen Statistikamtes gestützt. In den ersten neun Monaten des Jahres 2022 war das russische Bruttoinlandsprodukt laut Rosstat nur 1,6 Prozent niedriger als im Vorjahreszeitraum (Finmarket.ru-Bericht).

Auf der Basis der Rosstat-Daten aktualisierte auch das Forschungsinstitut der Wneschekonombank in seinem Wochenbericht seine Prognose. Das VEB-Institut erwartet jetzt, dass Russlands BIP im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 um 2,5 Prozent sinkt. Auch Präsident Putin veranschlagte den diesjährigen Rückgang des BIP bei einem Treffen des „Rates für Strategische Entwicklung und Nationale Projekte“ jetzt nur noch 2,5 Prozent. In seiner Prognose vom 23.November hatte das VEB-Institut noch mit einem Rückgang um 3,1 Prozent gerechnet. Seine Prognose für 2023 (- 1,0 Prozent) hat das Institut noch nicht revidiert.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Abbildungen zu den Prognosen von IWF, Weltbank und OECD zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, der Verbraucherpreise und des Außenhandels in Russland bietet eine Veröffentlichung des Rates der Europäischen Union: Infografik – Impact of sanctions on the Russian economy“.

Risikofaktor Emigration: Alfa-Bank erwartet 2023 stark beschleunigte Rezession

Zur skeptischen Einschätzung der Chancen auf ein baldiges Ende der Rezession der russischen Wirtschaft tragen die gestiegenen Auswanderungszahlen bei. Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges und vor allem anlässlich der Teilmobilmachung Ende September wurde oft über „Auswanderungswellen“ von „Hunderttausenden“ aus Russland berichtet. Wie viele Arbeitskräfte das Land tatsächlich verlassen haben, ist aber sehr umstritten. Schätzungen, wie stark die Emigration den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion verschärft, sind umso unsicherer.

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, der größten russischen Privatbank, hat mit ihrer jüngsten Rezessionsprognose deswegen für Schlagzeilen gesorgt (Forbes.ru). Bereits Mitte September hatte sie die Prognose abgegeben, dass sich Russlands Rezession 2023 auf rund 5 Prozent beschleunigen dürfte. Jetzt erwartet sie, dass sich Russlands Rezession wegen der Emigration und sinkender Investitionen im nächsten Jahr noch mehr verschärft. In ihrem Konjunkturausblick 2023 rechnet sie mit einer Beschleunigung der Rezession von 3,0 Prozent im Jahr 2022 auf 6,5 Prozent im Jahr 2023.

Mit dieser Prognose nahm die Alfa-Bank auch an der Analysten-Umfrage der Zentralbank teil (insgesamt 27 Teilnehmer, darunter 5 ausländische).

Zentralbank-Umfrage: Die Rezession schwächt sich 2023 auf 2,4 Prozent ab

Im Gegensatz zur Einschätzung der Alfa-Bank erwarten die Teilnehmer an der Umfrage der Zentralbank im Mittelwert (Median), dass sich Russlands Rezession nicht beschleunigt. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts soll ihren Erwartungen zufolge von 2,9 Prozent im Jahr 2022 auf 2,4 Prozent im Jahr 2023 sinken.

Die folgende Abbildung der Zentralbank zeigt, dass die Rezessionsprognose der Alfa-Bank für 2023 (- 6,5 Prozent) auf dem unteren Rand der grau markierten Spanne der Prognosen liegt. Die Spanne der Prognosen für das Jahr 2023 reicht von 0 Prozent über den Mittelwert (- 2,4 Prozent) bis zur Prognose der Alfa Bank (- 6,5 Prozent).

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent;
ab 2022 Prognosen der Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the Bank of Russia, 08.12.2022

Im Oktober hatten die Teilnehmer der Zentralbank-Umfrage im Mittelwert für 2022 noch mit einem stärkeren Rückgang des BIP um 3,5 gerechnet. Gleichzeitig erwarteten sie für das nächste Jahr einen schwächeren Rückgang der Produktion (- 2,1 Prozent) als in der neuen Umfrage (- 2,4 Prozent). Ein Teil der bisher für 2022 erwarteten Rezession wird sich also nach ihrer Einschätzung in das Jahr 2023 „verschieben“.

Erst 2024 wird von den Befragten der Beginn der Erholung der russischen Wirtschaft mit einem schwachen Wachstum von +1,5 Prozent erwartet. Das Wachstum wird nach ihrer Einschätzung auch 2025 so schwach bleiben.

Auch in den Umfragen von Reuters, Izvestia und FocusEconomics wird 2023 eine Abschwächung der Rezession in Russland erwartet.

Sehr unterschiedliche Schätzungen zur Emigration aus Russland

Natalia Orlova nennt als Ursachen für die von ihr im nächsten Jahr erwartete Beschleunigung der Rezession die Emigration von Beschäftigten und sinkende Investitionen. Sie geht davon aus, dass 2022 rund 1,5 Prozent aller Beschäftigten auswandern. Eine absolute Zahl nennt sie nicht. Bei einer Beschäftigtenzahl von insgesamt rund 72 Millionen würden damit rund 1,1 Millionen auswandern.

In einem ntv-Podcast „Wieder was gelernt“ schätzte Mitte Oktober auch Professor Alexander Libman vom Osteuropa-Institut der FU Berlin, dass 2022 rund eine Million Menschen Russland verlassen haben. Die Deutsche Welle berichtet „mehr als eine Million“ seien 2022 aus Russland ausgewandert. Gleichzeitig hätten nach russischen Angaben aber 2,8 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Russland umgesiedelt (Video).

Andere Schätzungen zur Zahl der Emigrierten aus Russland sind weit niedriger. So veranschlagt Professor Andrei Korobkov, Middle Tennessee State University, die Zahl der im Jahr 2022 bisher Emigrierten nur auf rund 500.000 (“The Migration Dimension of the War in Ukraine“, in: Russian Analytical Digest, 21.11.2022).

Professor Andrei Yakovlev (Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Universität Harvard, Cambridge, MA) schätzt die Verringerung der Zahl der Arbeitskräfte durch die Mobilmachung auf „kaum weniger als eine halbe Million“. Er vermutet, diese Verringerung werde sich angesichts der Gesamtzahl der Beschäftigten von rund 72 Millionen aber „wohl kaum in erheblichem Maße“ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken („Rückkehr zu Realität“, in: Russland-Analysen, 05.12.2022).

Alfa-Bank: Die Emigration verschärft die Rezession

Natalia Orlova betont hingegen, die konjunkturellen Folgen der Emigration sollten nicht unterschätzt werden. Mit der Emigration von Arbeitskräften sei auch privates Kapital ins Ausland abgeflossen. So seien die Einlagen russischer Bürger auf Bankkonten außerhalb Russlands vom Februar bis zum September 2022 von 30 Milliarden US-Dollar auf 66 Milliarden US Dollar gestiegen. Das deute auf eine Schwächung der privaten Konsumnachfrage in Russland hin. Zudem hätten offenbar vor allem Arbeitskräfte aus der „Mittelschicht“ Russland verlassen. Das wirke sich besonders negativ auf den Verbrauch von „Premiumgütern“ aus. Orlova erwartet für 2023 eine Abnahme des privaten Verbrauchs um rund 2 Prozent.

Die Anlageinvestitionen dürften laut Orlova 2023 im Vergleich zu 2022 um rund 10 Prozent sinken. Dazu weist Orlova darauf hin, dass die Anlageinvestitionen im ersten Halbjahr 2022 um 7 Prozent gestiegen seien, weil sich die Unternehmen Technologien und Ausrüstungen beschafft hätten, die für sie künftig wahrscheinlich nicht mehr erhältlich sind.

Den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 prognostiziert Orlova bei dieser Entwicklung von Verbrauch und Investitionen auf 6,5 Prozent

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird, so Orlova, zwar bis zum April 2023 voraussichtlich stark zurückgehen. Bis Ende 2023 dürfte er sich aber wieder auf rund 6 Prozent beschleunigen.

Bei dieser Produktions- und Inflationsentwicklung dürfte die Zentralbank den Leitzins von derzeit 7,5 Prozent bis Mitte 2023 auf 6 Prozent senken.

„Bisher besser als erwartet, doch trübe Aussichten“

Ihre Prognose für den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 hat auch die Frankfurter DekaBank abgeschwächt. Vor einem Monat rechnete sie in der November-Ausgabe ihrer „Emerging Markets Trends“ noch damit, dass die Rezession 2022 3,5 Prozent erreicht. Jetzt erwartet sie im laufenden Jahr nur noch einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,0 Prozent. Die DekaBank bleibt aber dabei, dass sich die Rezession im nächsten Jahr etwas beschleunigen wird. Sie rechnet jetzt für 2023 mit einem BIP-Rückgang um 3,5 Prozent.

DekaBank: Emerging Markets Trends, 09.12.2022

DekaBank: „Massive Auswanderungswelle“ verstärkt demografische Probleme

Als Ursachen für die erwartete leichte Beschleunigung der Rezession verweist die DekaBank unter anderem auf die Folgen der Sanktionen und der „massiven Auswanderungswelle“. Die Belastungen Russlands durch die bereits beschlossenen Sanktionen würden im Zeitablauf steigen:

„So werden die Effekte des Rohöl- und Ölproduktembargos der EU (ab Dezember bzw. Februar 2023 gültig) erst im kommenden Jahr zu spüren sein. …

Das Technologieembargo wird sich in vielen Wirtschaftsbereichen mittelfristig deutlich bemerkbar machen.

Die Mobilmachung reduziert die Höhe der Erwerbsbevölkerung direkt und über die massive Auswanderungswelle und wird so die demografischen Probleme Russlands verstärken.“

Neue Sanktionen im Energiebereich werden wirksam

Zur Wirksamkeit der von der EU beschlossenen Sanktionen im Energiebereich meint die DekaBank:

„In Verbindung mit dem Ölembargo haben sich die EU und die G7-Staaten auf eine Preisobergrenze für das Rohöl aus Russland geeinigt, die an die Transport- und Versicherungsleistungen gekoppelt ist. Die Obergrenze wurde bei 60 USD/Barrel und somit sehr nahe an dem tatsächlichen Preis für das russische Rohöl gezogen, soll allerdings regelmäßig überprüft werden.

Es zeichnet sich derzeit nicht ab, dass Russland als Antwort auf die Obergrenze plant, die Öllieferungen vollständig einzustellen. Öllieferungen Richtung Asien scheinen Priorität zu haben, doch es muss sich noch zeigen, wie viele davon unter den neuen Versicherungs- und Transportmodalitäten ohne die Beteiligung der europäischen Dienstleister aufrechterhalten werden können.

Die Abkopplung der EU von den russischen Erdgaslieferungen geht deutlich schneller voran als die Erweiterung der entsprechenden Exportinfrastruktur Richtung Asien seitens Russland.“

UniCredit-Prognose: Russlands Rezession beschleunigt sich 2023 auf 5 Prozent

Eine etwas stärkere Rezession der russischen Wirtschaft als die DekaBank erwartet die Mailänder Großbank UniCredit in ihrem „Macro & Markets 2023-2024 Outlook“ vom 17. November, der jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist (90 Seiten). UniCredit nimmt ähnlich wie die OECD an, dass sich der Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts von rund 4 Prozent im Jahr 2022 auf rund 5 Prozent im Jahr 2023 beschleunigt. Die Rezessionsprognose der Alfa-Bank für 2023 ist aber noch merklich höher (- 6,5 Prozent).

UniCredit vergleicht in der folgenden Abbildung die BIP-Entwicklung in Russland mit der Entwicklung in anderen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Mit Ausnahme von Ungarn und der Tschechischen Republik, wo UniCredit 2023 eine schwach sinkende gesamtwirtschaftliche Produktion erwartet, rechnet UniCredit in den anderen erfassten Staaten 2023 mit einem langsamen Wachstum der Wirtschaft.

UniCredit: Research: Macro & Markets 2023-24 Outlook, 17.11.22; deutsche Übersetzung , 07.12.22

Wichtigste Ursache für den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 5 Prozent im nächsten Jahr wird laut der obigen UniCredit-Abbildung die negative Entwicklung der Netto-Exporte sein. Auch die Anlageinvestitionen und der Private Verbrauch werden in Russland sinken.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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