Deutsche Forschungsinstitute sehen Russlands Konjunktur sehr kontrovers

Am 27. März werden die fünf führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute ihre „Gemeinschaftsdiagnose“ veröffentlichen. Im Kapitel zur Entwicklung der Weltwirtschaft werden sie voraussichtlich auch Prognosen zur Konjunktur in Russland vorlegen.

In ihren in der letzten Woche veröffentlichten individuellen „Frühjahrsprognosen“ schätzen die Institute das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland allerdings noch sehr unterschiedlich ein. Während das Berliner DIW seine Prognose für Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 auf 3,4 Prozent verdreifacht hat, erwartet das Essener RWI in diesem Jahr in Russland nur ein halb so starkes Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent.

Auch die Prognosen der Institute zum diesjährigen Anstieg der russischen Verbraucherpreise unterscheiden sich beträchtlich. Nachdem die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt 2023 auf 5,9 Prozent sank, reichen die Prognosen der Institute für 2024 von 6,0 Prozent (IWH Halle) bis 7,2 Prozent (IfW Kiel).

Dr. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Hamburger Berenberg-Bank, stellt in seinem Podcast „Schmiedings Blick“ zum Jahrestag des Beginns des Ukraine-Krieges heraus, dass die Umstellung der russischen Wirtschaft auf eine „Kriegswirtschaft“ inflationstreibend wirkt. Die Berenberg-Bank erwartet in ihrem „Makroausblick 2024“, dass sich Russlands Wachstum 2024 auf 1,5 Prozent halbiert. Der Preisanstieg werde sich aber gleichzeitig auf 7,0 Prozent beschleunigen.

Nur drei der fünf Institute akzeptieren Rosstats BIP-Schätzung für 2023

Auch über das im letzten Jahr erreichte Wachstum der russischen Wirtschaft sind sich die Institute keineswegs einig. Am 07. Februar hatte das russische Statistikamt Rosstat Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 in einer ersten Schätzung auf 3,6 Prozent veranschlagt. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das Münchner ifo Institut und das Essener RWI – Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung übernehmen diese Schätzung in ihre „Frühjahrsprognosen“.

Das Berliner Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung“ geht hingegen davon aus, dass die russische Wirtschaft im letzten Jahr nur um 3,0 Prozent wuchs. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle schätzt das Wachstum sogar nur auf 2,7 Prozent.

Das DIW verdreifacht seine Wachstumsprognose 2024 von + 1,0 auf + 3,4 Prozent

Das Berliner DIW setzt sich von den übrigen Prognosen vor allem durch seine Annahme ab, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 weiter beschleunigen wird. Das überrascht besonders, weil das DIW vor nur drei Monaten in seiner Mitte Dezember veröffentlichten „Winterprognose“ noch erwartet hatte, das Wachstum der russischen Wirtschaft werde sich 2024 auf nur noch 1,0 Prozent verlangsamen (DIW-Wochenbericht 50/2023, S. 706). In seiner „Frühjahrsprognose“ rechnet das Institut jetzt jedoch damit, dass der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 3,0 Prozent im Jahr 2023 auf 3,4 Prozent im Jahr 2024 anzieht (DIW-Wochenbericht 10/2024, S. 148).

„Frühjahrsprognosen“ der deutschen Institute vom 06. und 07.03.24 für Russlands Wirtschaftswachstum in den Jahren 2023, 2024 und 2025,

Reales Bruttoinlandsprodukt, Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent, (in Klammern „Winterprognosen“ der Institute vom 14.12.23)

Das DIW erläutert diese drastische Aufwärtsrevision seiner Wachstumsprognose für 2024 um 2,4 Prozentpunkte nicht näher. Im DIW-Wochenbericht heißt es lediglich:

„Russland stellt seine Wirtschaft weiter auf Kriegswirtschaft um, rüstungsnahe Wirtschaftszweige expandieren stark – insgesamt dürfte die russische Wirtschaftsleistung dadurch zunehmen.“

Das DIW merkt gleichzeitig an, die für Russland prognostizierten Daten seien „mit großen Unsicherheiten behaftet“. Der „russische Angriffskrieg gegen die Ukraine“ berge weiterhin erhöhte politische und wirtschaftliche Risiken. Der Prognose des DIW liege die Annahme zugrunde, dass der Krieg im Prognosezeitraum andauern werde und die westlichen Sanktionen gegen Russland bestehen blieben.

Das RWI erwartet eine Halbierung des Wachstums auf 1,7 Prozent

Während das DIW für 2024 eine Beschleunigung des Wachstums der russischen Wirtschaft auf 3,4 Prozent prognostiziert, erwartet das Essener RWI, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent im Jahr 2023 auf 1,7 Prozent im Jahr 2024 halbieren wird.

Damit folgt das RWI der Einschätzung der großen Mehrheit der internationalen Beobachter und auch der russischen Analysten. So erwarteten von Reuters befragte Analysten in einer Anfang März veröffentlichten Umfrage für 2024 einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate auf 1,6 Prozent. Auch in einer Umfrage der Konjunkturforschungsabteilung der Moskauer „Higher School of Economics“ wurde Mitte Februar für 2024 nur noch ein Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von 1,5 Prozent erwartet.

Deutsche Institute erwarten in Russland 2024 mehr Wachstum als die Zentralbank

Die fünf deutschen Institute erwarten mit einer Wachstumsrate von durchschnittlich 2,5 Prozent im Jahr 2024 ein deutlich stärkeres Wachstum der russischen Wirtschaft als viele andere internationale Beobachter. Sogar die Wachstumsprognose des Internationalen Währungsfonds (+ 2,6 Prozent) wird von den neuen Prognosen des Münchner ifo Instituts (+ 2,8 Prozent) und vor allem des Berliner DIW (+ 3,4 Prozent) übertroffen. Demgegenüber geht die russische Zentralbank davon aus, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum 2024 von 3,6 Prozent auf 1,0 bis 2,0 Prozent abschwächt.

BIP-Prognosen 2023 bis 2025

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

„Der kräftige Produktionsanstieg ist Ausdruck der Kriegswirtschaft und nicht nachhaltig“

Nähere Erläuterungen zum Wachstum der russischen Wirtschaft im letzten Jahr bietet das IfW Kiel in seinem Konjunkturbericht „Weltwirtschaft im Frühjahr 2024“:

„Im Jahr 2023 legte die gesamtwirtschaftliche Produktion nach amtlichen Schätzungen um 3,6 Prozent zu und damit deutlich stärker als bisher angenommen. Die Zuwächse sind vor allem auf Staatsaufträge, nicht zuletzt zur Aufrüstung, und auf höhere Transferzahlungen zurückzuführen, während die Exporte volumenmäßig stark zurückgegangen sind.

Von der höheren kriegsbedingten Nachfrage nach dem Überfall auf die Ukraine profitierten insbesondere die Bauwirtschaft und Zweige des Verarbeitenden Gewerbes, die militärische Güter produzieren. Hier stieg die Produktion deutlich über das Niveau von 2021, während andere Branchen, etwa die Autoproduktion, deutlich unter dem Vorkriegsstand liegen… .

Die wirtschaftlichen Kapazitäten sind zunehmend ausgelastet, und die Arbeitslosigkeit ist auf den niedrigsten Stand seit Ende der Sowjetära zurückgegangen, so dass höhere Nachfrage rasch zu Inflationsdruck führt.“

Das IfW Kiel betont, der kräftige Produktionsanstieg in Russland sei „Ausdruck der Kriegswirtschaft und nicht nachhaltig“. Nach recht kräftigen Zuwächsen der gesamtwirtschaftlichen Produktion bis zum Herbst, deuteten die Indikatoren auf eine Verlangsamung des Produktionsanstiegs zum Jahresende 2023 hin. Angesichts voll ausgelasteter Produktionskapazitäten sei mit einer Abschwächung der Zuwachsraten zu rechnen.

Nach Einschätzung des Kieler Instituts wird die Erhöhung des Leitzinses der russischen Zentralbank Russlands Wirtschaftswachstum bremsen:

„Der Anstieg der Verbraucherpreise hat sich im Verlauf des vergangenen Jahres – auch infolge einer erheblichen Abwertung des Rubels – deutlich verstärkt; in den vergangenen drei Monaten lag die Inflationsrate bei 7,4 Prozent.

Die Notenbank hat ihre Zinsen seit dem Sommer kräftig – von 8,5 auf 16 Prozent – angehoben, was Konsum und Investitionen im privaten Sektor im Prognosezeitraum bremsen dürfte. Alles in allem erwarten wir für dieses und das nächste Jahr deutlich geringere Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts von 2,2 bzw. 0,8 Prozent.“

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle rechnet in Russland mit einem noch schärferen Wachstumseinbruch. 2024 werde sich das Wachstum zwar bei 2,6 Prozent halten, 2025 aber auf nur noch + 0,6 Prozent sinken.

Das Essener RWI erwartet hingegen 2025 in Russland noch ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent, ähnlich wie das DIW (+ 1,4 Prozent) und das ifo Institut (+ 1,4 Prozent). Auch bei der Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“ wurde Mitte Februar von den Analysten für 2025 ein weiteres Wachstum von 1,5 Prozent erwartet.

Deutsche Institute erwarten mehr Inflation in Russland als die Zentralbank

Die deutschen Institute veröffentlichten in ihren „Frühjahrsprognosen“ auch Einschätzungen, wie sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise in Russland im Jahresdurchschnitt entwickeln wird. Nachstehend ein Vergleich ihrer Inflationsprognosen mit den Prognosen der russischen Zentralbank vom 16. Februar.

Laut den ersten Berechnungen des Statistikamtes Rosstat ist der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise in Russland von 13,8 Prozent im Jahr 2022 auf 5,9 Prozent im Jahr 2023 gesunken.

Im Jahresdurchschnitt 2024 erwartet die russische Zentralbank eine leichte Beschleunigung der Inflationsrate auf 6,0 bis 6,5 Prozent.

In dieser Spanne liegen auch die Inflationsprognosen von drei der fünf deutschen Institute für 2024 (IWH: + 6,0 %; ifo: + 6,3%, DIW: + 6,5%). Einen stärkeren Anstieg der Verbraucherpreise als die Zentralbank erwarten 2024 das RWI Essen (+ 6,8%) und vor allem das Kieler Institut für Weltwirtschaft (+ 7,2 %).

„Frühjahrsprognosen“ der deutschen Institute vom 06. und 07.03.24:
Anstieg der russischen Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent

2025 wird die jährliche Inflationsrate laut der Prognose der russischen Zentralbank auf die von ihr angestrebte Marke von 4,0 Prozent sinken. Mit Ausnahme des RWI Essen, das im nächsten Jahr einen Preisanstieg von 4,3 Prozent erwartet, rechnen alle deutschen Institute mit einem deutlich schwächeren Rückgang der Inflationsrate. Sie erwarten für 2025 noch einen Anstieg der Verbraucherpreise zwischen 5,0 Prozent und 6,0 Prozent.

In Russlands „Kriegswirtschaft“ staut sich Inflationsdruck auf

Auch die Hamburger Berenberg-Bank rechnet damit, dass der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland anhaltend hoch bleibt. Sie prognostiziert in ihrem „Makroausblick 2024“, dass sich die Inflationsrate im Jahresvergleich 2024/2023 auf 7,0 beschleunigen wird. Gleichzeitig geht die Bank davon aus, dass sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum in Russland in diesem Jahr auf 1,5 Prozent halbiert.

Chefvolkswirt Dr. Holger Schmieding stellt in einem Podcast zum Jahrestag des Beginns des Ukraine-Krieges heraus, dass die russische Wirtschaft zwar relativ schnell und bisher auch erfolgreich auf eine „Kriegswirtschaft“ umgeschaltet worden sei. Allerdings resultiere das erreichte Wachstum „praktisch ausschließlich“ aus der Kriegswirtschaft. Die Rüstungsproduktion verschaffe der russischen Bevölkerung zwar Arbeit aber keinen besseren Lebensstandard. Auf die Dauer staue sich „Inflationsdruck“ auf – wie beispielsweise auch in Deutschland in den beiden Weltkriegen.

Schmieding argumentiert so:

„Die russische Wirtschaftsleistung ist nach einem leichten Rückgang 2022 um 1,2 Prozent laut offizieller Statistik im vergangenen Jahr wahrscheinlich sogar um etwa 3,5 Prozent gewachsen.

Allerdings ist das ein Wachstum, das praktisch ausschließlich aus der Kriegswirtschaft kommt. Es werden dort Waffen produziert, Munition produziert, die keinerlei Nutzen stiften für die Bevölkerung, sondern letztlich nur Zerstörung bringen für die Ukraine und teilweise auch für Russland selbst. Das heißt, es gibt für die russische Bevölkerung zwar Arbeit, aber keinen besseren Lebensstandard bei diesem leichten Zuwachs der gemessenen Wirtschaftsleistung.

Und es sind ja unproduktive Ausgaben. Das heißt, die Menschen werden bezahlt für … etwas, das sich für ihren Lebensstandard nicht verwenden lässt. Und damit staut sich auf Dauer Inflationsdruck auf. So wie sich ja beispielsweise in Deutschland in den beiden Weltkriegen massiver Inflationsdruck aufgestaut hatte, der sich später dann in einer hohen Inflation, beziehungsweise nach dem zweiten Weltkrieg in einer Währungsreform entlud.“

Sanktionen „ein schleichendes Gift“

Den Behauptungen, die westlichen Sanktionen hätten ihre Wirkung verfehlt, stimmt Schmieding „überhaupt nicht“ zu. Er meint, die westlichen Sanktionen seien „nicht nur ein Signal“. Sie hätten wirtschaftliche Folgen. Sie seien „ein schleichendes Gift“.

Die Sanktionen zwängen Russland zwar nicht unmittelbar in die Knie. Durch die Sanktionen würde für Russlands aber zum Beispiel die Beschaffung von Bauteilen für Waffen verteuert. Russlands Möglichkeiten, den Krieg immer länger durchzuhalten, würden mit den Sanktionen entsprechend geschwächt.

Der Chefvolkswirt der Berenberg-Bank weist darauf hin, Russland habe im ersten Kriegsjahr 2022 den großen Vorteil gehabt, dass seine Exporterlöse sogar gestiegen seien. Trotz vieler Sanktionen seien die Preise für seine Energieexporte „durch die Decke gegangen“. Die Exporterlöse Russlands seien von rund 550 Mrd. US-Dollar im Vorkriegsjahr 2021 auf 640 Mrd. US-Dollar im ersten Kriegsjahr 2022 gestiegen. Das habe der russischen Wirtschaft erheblich geholfen. Allerdings seien die Exporterlöse im zweiten Kriegsjahr 2023 vermutlich auf nur noch gut 460 Mrd. US-Dollar gesunken.

Berenberg-Prognose für 2026: Stagnation der Produktion bei 6 Prozent Inflation

In ihrem „Makroausblick 2024“ geht die Berenberg-Bank davon aus, dass sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum in Russland im Jahr 2025 weiter abschwächt und nur  noch 1,0 Prozent erreicht. 2026 erwartet die Bank sogar eine Stagnation des realen Bruttoinlandsprodukts.

Gleichzeitig werde der Anstieg der Verbraucherpreise aber kaum sinken. Die Inflationsrate werde nach ihrem Anstieg im Jahr 2024 auf 7,0 Prozent in den beiden folgenden Jahren 2025 und 2026 mit 6,0 Prozent kaum niedriger sein wird.

Schmieding zeichnet folgende Perspektiven:

„Russland steuert auf erhebliche langfristige Probleme zu. Ob allerdings die russische Wirtschaft – sagen wir mal – in fünf Jahren, in vier Jahren oder in sieben Jahren diesen Druck nicht mehr aushalten kann, ist eine etwas offene Frage.“

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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