Tradition und Demokratie in Aserbaidschan
Ein autoritär regiertes Land, was den demokratischen Wandel nicht schafft: Das Bild Aserbaidschans in den Medien ist meist eindeutig. Doch weshalb glückte die politische Transformation nach der Erlangung der Unabhängigkeit nicht – und warum wird der Staat im Südkaukasus weiter als Beispiel für eine gescheiterte Demokratie gesehen?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärten sich 15 ehemalige Sowjetrepubliken unabhängig, wobei jedes neugegründete Land vorerst als Maskerade ein demokratisches politisches System auswählte. Doch gelang es nicht jeder Republik, den Transformationsprozess von einem totalitären Regime hin zu einer Demokratie zu bestehen. Während sich die baltischen Länder nach der Demokratisierung in die Europäische Union integrierten, blieben die restlichen elf Republiken unter dem Einfluss Russlands. Moskau versuchte in der Regel, die zum Kreml loyalen Politiker in den jeweiligen Ländern an die Macht zu bringen – oder bestehende Bündnisse zu fördern. Aserbaidschan gehörte beispielsweise zu diesen Ländern, in denen einige Minister sogar inoffiziell von Moskau genehmigt wurden. Baku sollte seine Außenpolitik grundsätzlich mit Moskau abstimmen, während die innenpolitischen Prozesse selbst kontrolliert werden konnten.
Es gibt allerdings noch weitere Indizien, die der demokratischen Transformation Aserbaidschans im Wege standen: Hier ist vor allem der Einfluss der Traditionen zu nennen. Bevor man eine mögliche Demokratie in Aserbaidschan überhaupt ansprechen kann, sollte man sich zunächst mit den vorherrschenden Traditionen in diesem Land auseinandersetzen. Es ist wohl kein Zufall, dass der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew während einer Rede anlässlich der Hundertjahrfeier der Staatlichen Universität Baku Europa kritisierte, indem er sagte: „Aserbaidschan muss ein traditionelles Land bleiben und kann sich nicht in ein Europa integrieren, das sich in der Krise befindet, den Islam unterdrückt und keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen macht.“ Er sprach damit genau das aus, was die Mehrheit der aserbaidschanischen Gesellschaft hören wollte. Generell lässt sich ein Land mit derart ausgeprägten Traditionen und verfestigten Meinungsbildern wie Aserbaidschan vom Zentrum aus einfacher regieren.
Patriarchale Strukturen
Obwohl Aserbaidschan ein weltliches Land ist, in dem die Religion kaum eine Rolle spielt, konnten dennoch einige vorzeitliche Traditionen überleben. Während wenige Aserbaidschaner eine bestimmte Person öffentlich wegen Korruption kritisieren würden, ist es beispielsweise immer noch üblich, einen Mann im öffentlichen Nahverkehr zu ermahnen, sollte dieser einer Frau oder einem Mädchen nicht freiwillig seinen Platz anbieten. In den ländlichen Teilen Aserbaidschans fühlen sich die Älteren männlichen Personen („Ağsaqqal”) hingegen sehr geehrt, wenn man für sie, sobald sie einen Raum betreten, aufsteht und aufmerksam deren Aussagen und Meinung folgt, ganz gleich, ob sie richtig oder falsch sind. Daher gibt es in Aserbaidschan auch noch einen Ältestenrat, der vom Staat unterstützt wird.
Der Mann spielt in vielen aserbaidschanischen Familien eine bedeutsame Rolle, denn er kümmert sich um den finanziellen Wohlstand der Familienmitglieder und übt dementsprechend mehr Macht aus. In solchen patriarchalen Familien ist es üblich, dass sich die anderen Mitglieder in der Regel mit der Meinung des männlichen Familienoberhaupts abfinden. Auch Ilcham Alijew ist für seine Bevölkerung ein erfolgreicher Familienmensch, der sein Land zielgerichtet führt. Er gilt daher als Vorbild für viele traditionelle aserbaidschanische Familien. Für derartige Anhänger haben demokratische Werte oder Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern allerdings kaum Bedeutung.
Tradition vor Rechtsstaat?
Vor Kurzem kursierte bei Facebook ein Video aus Aserbaidschan, auf dem ersichtlich war, wie Polizisten einen betrunkenen Fahrer anhielten – in der Beschreibung des Videos stand, dass der Fahrer aufgrund der Denunziation eines Restaurantmitarbeiters gestoppt wurde. In diesem Zusammenhang wurde dann empfohlen, das betroffene Restaurant nicht zu besuchen. Die Kommentare der Facebook-Nutzer zu diesem Post waren ziemlich angespannt: Die Mehrheit beschimpfte die Polizisten, bezeichnete die Restaurantmitarbeiter wiederum als Verräter und sprach sich schließlich für den Fahrer aus, dem sie zudem Erfolg wünschten. Leider gibt es in Aserbaidschan hunderte solche Fälle, in denen Personen, die eindeutig das Rechtssystem missachten und feststehende Regeln brechen, noch beklatscht werden, weil sie in den Augen der Öffentlichkeit cool wirken, da sie sich gegen den Staat und seine Bediensteten auflehnen.
Als Hoffnungsträger der Kaukasusrepublik galten immer die jungen Aserbaidschaner, die im Ausland studierten und ihren eigenen Beitrag zur Demokratisierung nach deren Rückkehr leisten sollten. Allerdings verschmelzen sie nach ihrer Heimkehr entweder erneut mit der traditionell ausgeprägten Gesellschaft oder sie werden vom Rest abgeschottet, sodass sie fortan zu den „nicht unterdrückten Personen“ gezählt werden. Diejenigen, die im Ausland studiert haben und der aserbaidschanischen Regierung nach ihrer Rückkehr immer noch treu ergeben sind, werden hingegen vermehrt bei staatlichen Behörden, Ministerien oder entsprechenden Institutionen angestellt. Sie dürfen dann allerdings weder den Präsidenten noch die amtierende Regierung pauschal kritisieren, selbst wenn sie kurz vor der Heimkehr aus dem Ausland möglicherweise noch Regierungskritiker waren, beziehungsweise Kritik an der aserbaidschanischen Regierung übten. Die besonders kritischen Absolventen, die nach Baku zurückkehren und das vorhandene System infrage stellen, werden ziemlich stark stigmatisiert, da sie allein für internationale Firmen arbeiten können oder sich selbstständig machen müssen, ohne die Chance darauf, in traditionellen hiesigen Unternehmen Arbeit zu finden: Dieser Weg bleibt den sogenannten „Freidenkern“ dann schlichtweg verwehrt.
Die Kritik, die im Ausland gegenüber der aserbaidschanischen Regierung geäußert wird, betrifft offensichtlich nur ganz grob die Spitze des Eisberges, während der große Teil noch unter dem Wasser verborgen bleibt.
Die tiefsitzende Tradition ist lediglich einer von vielen Faktoren, die ein Hindernis auf dem Weg zur Demokratisierung Aserbaidschans darstellen. Die Prioritäten scheinen einfach andere zu sein: Ein Durchbruch hin zu einem umfassenden demokratischen System in der Kaukasusrepublik scheint daher auch in näherer Zukunft schwer umsetzbar, denn die aserbaidschanische Gesellschaft neigt eher dazu, in einem politischen System zu leben, das von Traditionen geprägt ist, anstatt in einem demokratischen Rechtsstaat.