Aserbaidschan: 104 Jahre Unabhängigkeit und neue Perspektiven

Aserbaidschan feierte am Samstag den 104. Geburtstag seiner Unabhängigkeit. Nach dem Bergkarabach-Krieg und der Corona-Pandemie steht die demokratische Republik nun vor neuen Herausforderungen. Eine Bestandsaufnahme.

Von Urs Unkauf

Am 28. Mai 1918 erfolgte mit der Gründung der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik die erste republikanisch verfasste Staatsgründung in der muslimischen Welt. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion im Jahr 1991 blickt das bevölkerungsreichste Land im Südkaukasus heute trotz verschiedener Herausforderungen auf eine beachtliche wirtschaftliche wie gesellschaftliche Entwicklung zurück. Neben den globalen Herausforderungen der Covid 19-Pandemie und der Bekämpfung des Klimawandels war Aserbaidschan bis zur Wiederherstellung seiner territorialen Integrität im Jahr 2020 mit der Besetzung der Karabach-Region sowie den umliegenden Territorien durch das Nachbarland Armenien konfrontiert, die etwa 20 % des Staatsgebietes darstellen. Nach der Reintegration der Territorien und der auf russische Vermittlung hin erfolgten Beendigung der Kampfhandlungen steht Aserbaidschan nun vor völlig neuen Entwicklungsperspektiven.

Zum Beispiel innenpolitisch. Mit zahlreichen Strategien und der aktiven Mitwirkung der Bevölkerung bekam der Staat die Coronapandemie weitgehend unter Kontrolle. Wenngleich diese noch nicht vollständig überwunden ist, konnten zahlreiche zum Zweck der Pandemieeindämmung erlassenen Maßnahmen inzwischen aufgehoben werden. Die aserbaidschanische Volkswirtschaft befindet sich aktuell im Aufschwung und die staatliche deutsche Außenwirtschaftsförderungsgesellschaft Germany Trade & Invest (GTAI) rechnet für 2022 mit einem Wirtschaftswachstum von 4-5 Prozent. Dieses beruht nach Einschätzungen von GTAI nicht mehr ausschließlich auf dem Export der fossilen Energieträger Erdöl und Erdgas, wenngleich diese weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Die Entwicklung des Konsum- und Dienstleistungssektors, der Landwirtschaft, der sukzessive Aufbau eines unternehmerischen Mittelstandes sowie nicht zuletzt verstärkte ausländische Direktinvestitionen spielen hierfür ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Entwicklung der Sonderwirtschaftszone in Alat (Alat Free Economic Zone, AFEZ) unweit des Hafens von Baku in strategisch günstiger Lage verspricht zudem ein großer Impuls zu werden für die Entwicklung der Industrieproduktion und der Fertigung hochwertiger Produkte im Land, welche in die gesamte Region exportiert werden können.

Wiederaufbau und Integration

Beim Wiederaufbau der Region Karabach und der umliegenden Provinzen wurden mit der Fertigstellung des internationalen Flughafens Füzuli sowie dem Wiederaufbau der aserbaidschanischen Kulturhauptstadt Shusha bereits erste Meilensteine gesetzt. Im April 2022 fand eine hochkarätig besetzte internationale Konferenz in Shusha statt, die sich den Perspektiven des wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Wiederaufbaus von Karabach widmete. Die Region soll zu einem Modellprojekt für nachhaltige Entwicklung und den Aufbau regenerativer Energien in Aserbaidschan gestaltet werden. Baufällige und von den Kampfhandlungen beschädigte Gebäude werden abgerissen und durch moderne, energetisch sanierte Bauten ersetzt. Die klimatischen Konditionen in Karabach ermöglichen die Nutzung der Potentiale von Wind- und Solarenergie zur Selbstversorgung der aserbaidschanischen Bevölkerung. Die infolge der armenischen Besetzung etwa 800.000 Binnenvertriebenen sollen sukzessive in ihre Heimat zurückkehren können. Als Nation mit einer historischen Tradition des Multikulturalismus und des toleranten Zusammenlebens verschiedener Ethnien und Glaubensbekenntnisse wird sich Aserbaidschan ebenfalls daran messen lassen müssen, inwiefern die Wahrung der Minderheitenrechte der aserbaidschanischen Staatsbürger armenischer Herkunft gelingen wird. Die Indikatoren der Entwicklung Aserbaidschans in den letzten 30 Jahren sowie die von staatlicher Seite betriebene, aktive Förderung des friedlichen multikulturellen Zusammenlebens lassen hierbei auf eine Entwicklung hoffen, die allen Interessen angemessen Rechnung trägt.

Dialog mit der EU

In der Außenpolitik sind die Stabilisierung des Südkaukasus als Region sowie die Einleitung eines Aussöhnungs- und Friedensprozesses mit dem Nachbarland Armenien die gegenwärtigen Prioritäten der aserbaidschanischen Regierung. Die Europäische Union leistet hierzu durch die Mediation auf höchster Ebene einen wichtigen Beitrag. Auf Initiative des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, fanden im April und Mai 2022 das zweite bzw. dritte trilaterale Treffen zwischen dem Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Aliyev, und dem Premierminister Armeniens, Nikol Paschinyan, in Brüssel statt. Die Spitzenpolitiker erörterten die in letzter Zeit aufgetretenen Spannungen und bekräftigten die Notwendigkeit, die Bestimmungen der trilateralen Erklärung von November 2020 vollständig einzuhalten. Lob gab es für das Treffen hochrangiger Vertreter Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirmherrschaft der EU in Brüssel. Zentrale Ergebnisse dieser jüngsten Gespräche waren die Zusage einer weiteren Unterstützung der EU beim bilateralen Annäherungsprozess, die Zusage der Wahrung der Unverletzlichkeit der völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen sowie die Gewährleistung einer stabilen Sicherheitslage entlang derselben.

Daran anknüpfend fand am 24. Mai das erste Treffen der neu eingerichteten Grenzkommissionen von Aserbaidschan und Armenien an der zwischenstaatlichen Grenze statt. Der stellvertretende aserbaidschanische Ministerpräsident Shahin Mustafayev, der den Vorsitz der Kommission innehat, und sein armenischer Amtskollege, der stellvertretende Ministerpräsident Mher Grigoryan, bekräftigten bei dem Treffen ihre Bereitschaft, an der Grenzziehung und anderen Fragen im Einklang mit den endgültigen Zielen der Kommissionen zu arbeiten. Hierfür seien bereits weitere Treffen in Moskau und Brüssel geplant. Der Aussöhnungsprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan wird zweifellos eine Generationenaufgabe sein, zu dem der Aufbau von Gesprächsformaten in Wissenschaft und Zivilgesellschaft zwischen beiden Ländern einen fundamentalen Beitrag leisten muss.

Der Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen infolge des Krieges in der Ukraine zeigt zudem, dass die Kaspische Region insgesamt an strategischer Bedeutung für Europa und Deutschland gewinnen wird. Die Rolle Aserbaidschans in diesem Prozess wird sich einerseits über die bewährte Zusammenarbeit im energiepolitischen Bereich wiederfinden. Von zentraler Bedeutung für den europäischen Energiemarkt wird dabei die Entwicklung des Südlichen Erdgaskorridors sein. In Zukunft wird diese Dimension um die Kooperation in zahlreichen weiteren Wirtschaftssektoren im Zuge der Diversifizierung der aserbaidschanischen Volkswirtschaft ebenso eine Rolle spielen, wie bei dem gemeinsamen politischen Bestreben um die Stabilisierung der europäischen Nachbarschaft und dem Aufbau neuer Dialogformate für Förderung der zwischengesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen.

Der Beitrag gibt die individuellen Ansichten des Autors wider.

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