Analyse: Östliche EU-Länder haben noch viel aufzuholen

Wirtschaftsinstitut über östliche europäische Staaten

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) veröffentlichte vergangene Woche neue Konjunkturprognosen für die Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (MOSOEL). Über die Erwartungen des Instituts zur Entwicklung der russischen Wirtschaft berichtete Ostexperte.de bereits in der letzten Woche. Im folgenden Beitrag stehen die Analysen des wiiw zur Entwicklung der mittel- und osteuropäischen EU-Länder im Mittelpunkt.

Die Beitrittsländer haben gegenüber dem „reichen Westen“ zwar aufgeholt…

Im letzten Jahr haben die elf mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer (Ländergruppe „EU-MOE11“ oder „CEE11“) ihre gesamtwirtschaftliche Produktion kräftig um 4,3 Prozent steigern können. Insgesamt ist die Wirtschaft der EU nur knapp halb so stark um 2,0 Prozent gewachsen.

Dank ihres überdurchschnittlich starken Wachstums näherte sich das Wohlstandsniveau in den Beitrittsländern dem Niveau in den westlichen EU-Staaten weiter. Das wiiw hat anlässlich des Falls der Berliner Mauer vor 30 Jahren eine Zwischenbilanz des bisherigen Aufholprozesses gezogen.

Als Indikator für den Wohlstandsvergleich verwendet das wiiw das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Kaufkraftparitäten. Im Vergleich mit Österreich zeigt sich folgendes Bild:

Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, wiiw: Sommerprognose 2019; Osteuropa trotzt dem globalen Gegenwind; Chart aus der Präsentation, S. 14; 04.07.2019

…die Wohlstandskluft zum Westen ist aber immer noch tief

Mit Ausnahme von Kroatien (HR) holten zwar alle CEE11-Länder  in den letzten drei Jahrzehnten gegenüber Österreich deutlich auf. Auch die bevölkerungsreichen Länder Polen (PL; 38,4 Millionen Einwohner), Rumänien (RO; 19,5 Mio. E.), Tschechien (CZ; 10,6 Mio. E.) und Slowakei (SK; 5,4 Mio. E.) verkürzten ihren Rückstand gegenüber Österreich um mehr als 20 Prozentpunkte. Das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner ist in Österreich jedoch weiterhin viel höher als in den Beitrittsländern. Selbst das benachbarte Tschechien, das „reichste“ Beitrittsland, liegt noch rund 30 Prozent unter dem österreichischen Niveau.

Erkennen lässt sich aus der Abbildung, dass das durchschnittliche Wohlstandsniveau in den 11 Beitrittsländern noch rund 45 Prozent niedriger als in Österreich sein dürfte. Aus der Perspektive der Beitrittsländer ist das Wohlstandsniveau in Österreich also rund 80 Prozent höher.

Entsprechend stark ist in den Beitrittsländern der Wunsch, längere Zeit in Österreich, Deutschland oder einem anderen westlichen EU-Land zu arbeiten oder sogar dorthin auszuwandern. Laut wiiw-Forschungsbericht ist so in Österreich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse mit Personen aus den 23 Staaten der MOSOE-Region in den letzten zehn Jahren um rund die Hälfte von 8,9 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse auf 14,3 Prozent im letzten Jahr gestiegen (siehe Tabelle S. 80).

Das kleine Estland war der „Renner“ im Aufholprozess

Estland (EE), das kleinste Beitrittsland (1,3 Millionen Einwohner), holte am schnellsten gegenüber Österreich auf. Sein BIP pro Kopf zu Kaufkraftparitäten lag im Jahr 1990/91 nur bei 28% des österreichischen Niveaus. 2018 überstieg es 60%. Litauen (LT) wuchs zwar schwächer, liegt aber in der Wohlstandsrangliste noch knapp vor Estland.

Weniger stark, um rund 10 bis 15 Prozentpunkte, aufgeholt haben Lettland (LV), Ungarn (HU), Bulgarien (BG) und Slowenien (SI).

Im Fall Sloweniens (Nachbar von Österreich und Italien) war allerdings das Anfangsniveau mit 56% des österreichischen Niveaus bereits relativ hoch. Slowenien verlor seinen Platz an der Spitze der Wohlstandsrangliste der Beitrittsländer damit an Tschechien.

Lettland wurde von den beiden anderen baltischen Staaten Estland und Litauen erstaunlich deutlich „abgehängt“.

Ungarn wurde von Polen überholt, die Slowakei näherte sich Tschechien

Die beiden bevölkerungsreichen Beitrittsländer Polen (PL; 38,4 Millionen Einwohner) und Ungarn (HU; 9,8 Millionen Einwohner) belegen auf der Wohlstandsrangliste der elf Beitrittsländer die Plätze 6 und 7 im hinteren Mittelfeld. Vor 30 Jahren lag Ungarn noch vor Polen. Polen konnte sein Pro-Kopf-Einkommen deutlich stärker steigern als Ungarn.

Interessant ist auch der Vergleich der Slowakischen Republik mit der Tschechischen Republik, die bis 1992 in der Tschechoslowakischen Republik einen gemeinsamen Staat bildeten. Das „reichere“ Tschechien hat zwar rund 20 Prozentpunkte gegenüber Österreich aufgeholt. Die „ärmere“ Slowakei legte aber noch etwas stärker zu (wohl dank des Aufbaus einer starken Automobilindustrie).

Das „Armenhaus“ bleibt Südost-Europa

Bulgarien als ärmstes Beitrittsland unterschritt auch im letzten Jahr das österreichische Niveau noch um gut 60 Prozent. Die beiden anderen südosteuropäischen Beitrittsländer Kroatien und Rumänien erreichen nur rund die Hälfte des österreichischen Niveaus. Sie liegen damit mit Bulgarien am Ende der Wohlstandsrangliste der Beitrittsländer.

Kroatien, das wesentlich später als andere EU-MOE-Länder der EU beigetreten ist und dessen Wirtschaft in den 1990er Jahren unter dem Krieg gelitten hat, konnte sich dem österreichischen Wohlstandsniveau in den letzten 3 Jahrzehnten überhaupt nicht nähern. Wie 1989 liegt sein BIP pro Einwohner noch bei rund 50 Prozent des österreichischen Niveaus.

Rumänien, das rund 20 Prozentpunkte gegenüber Österreich aufholte, hat im letzten Jahr deswegen ein etwas höheres Wohlstandsniveau als Kroatien erreicht. Merklich niedriger ist der Wohlstand im Kreis der Beitrittsländen aber dennoch nur im dritten südosteuropäischen Beitrittsland Bulgarien.

Moldau und Ukraine sind die ärmsten Länder Europas

Noch niedriger als in den südosteuropäischen EU-Beitrittsländern ist das Pro-Kopf-BIP zu Kaufkraftparitäten in den 6 sogenannten „Westbalkan-Staaten“ (mittlere Ländergruppe in der Abbildung) mit dem Kosovo (XK) als „Schlusslicht“. „Ärmer“ sind in Europa nur die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine (UA; 42,3 Millionen Einwohner) und Moldau (MK; 3,5 Mio. E.). Bei ihnen kommt hinzu, dass sich ihr Bruttoinlandsprodukt je Kopf zu Kaufkraftparitäten in den letzten 3 Jahrzehnten gegenüber Österreich nicht erhöht, sondern beträchtlich verringert hat.

Das wiiw schreibt dazu:

„Beide Länder haben, nicht zuletzt infolge interner Konflikte und der ständigen geopolitischen Rivalität zwischen Russland und der EU, einen wichtigen Teil ihrer wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland verloren, der nur zum Teil durch die neu entstandenen Exportmöglichkeiten in die EU wettgemacht wurde. Mit 13% bzw. 16% des österreichischen Niveaus bei ihrem BIP pro Kopf sind Moldau und die Ukraine derzeit die ärmsten Länder Europas.“

Der Wohlstandseinbruch in der Ukraine erscheint im Vergleich mit dem Aufschwung im Nachbarland Polen besonders eklatant. Vor 30 Jahren war das Wohlstandsniveau der Ukraine noch kaum niedriger als das in Polen. 2018 ist es unter ein Drittel des polnischen Niveaus gefallen.

Wachstumsvorsprung der EU-MOE-Länder steigt heuer leicht

Das wiiw sieht gute Voraussetzungen, dass die östlichen EU-Beitrittsländer ihren Wohlstandsrückstand gegenüber den westlichen EU-Ländern in den nächsten Jahren weiter verringern können. Das Institut schreibt in seiner Presseerklärung:

„Die Wirtschaft der EU-MOE-Länder profitiert nach wie vor von mehreren Faktoren, wie dem robusten Lohnwachstum, reger Investitionsdynamik (dank niedriger Zinsen und in vielen Fällen hoher EU-Transfers) und solider Exportperformance; ihr Wachstumsvorsprung gegenüber dem Euro-Raum dürfte heuer sogar leicht steigen.“

Laut wiiw-Prognose wird das Wachstum der Beitrittsländer 2019 mit 3,9 Prozent reichlich doppelt so hoch sein wie das Wachstum in der gesamten Europäischen Union (EU28: +1,6 Prozent) und im Euro-Raum (+ 1,4 Prozent).

Das Institut stellt fest, das BIP-Wachstum in den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten habe sich vom konjunkturellen Abschwung im Euro-Raum bislang abgekoppelt. Die Binnennachfrage in den Beitrittsländern könne sich, nicht zuletzt infolge des zunehmenden Arbeitskräftemangels, auf ein robustes Lohnwachstum und die Zuflüsse von EU-Transfers stützen.

Starke Lohnsteigerungen treiben Konsum

Der „Kurier“ berichtet von der wiiw-Pressekonferenz zur Abkoppelung vom Abschwung im Euro-Raum:

„Überraschend kommt das, weil die meisten Länder – so wie Österreich – kleine Volkswirtschaften sind, die stark vom Export abhängen und deren Industrieproduktion sich meist in Deutschlands Schlepptau befindet.

Im Moment segeln die Länder aber selbst mit Rückenwind. Der Anschub kommt von kräftig steigenden Löhnen. Weil die Arbeitsmärkte fast leer gefegt sind, dürfen sich die Beschäftigten in Polen und Tschechien über Einkommenssteigerungen von rund sechs Prozent, in Ungarn und Rumänien sogar von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr freuen. Das kurbelt den Konsum an.“

In Rumänien, Ungarn, Polen und Bulgarien mehren sich laut wiiw inzwischen zwar die Anzeichen einer Überhitzung. Das Institut meint aber, nur im Falle Rumäniens gebe es Anlass zur Sorge, weil dort außenwirtschaftliche Ungleichgewichte entstanden seien.

Wachstum in den Beitrittsländern bleibt im EU-Vergleich weit überdurchschnittlich

Insgesamt erwartet das wiiw in den nächsten beiden Jahren einen moderaten Rückgang des Wachstums in den CEE11-Ländern auf 3,3 und 3,1 Prozent. Das Wachstum in der gesamten EU dürfte nur gut halb so hoch sein (2020: 1,8 Prozent; 2021: 1,6 Prozent).

Als „Abwärtsrisiko“ für die Konjunktur in den Beitrittsländern nennt das wiiw eine „weitere Verschlechterung des externen Umfelds“. Insbesondere ein zunehmender Protektionismus (Erhöhung von US-Zöllen auf PKW-Einfuhren) oder die Folgen des Brexit könnten in den kommenden Jahren eine deutliche Wachstumsverlangsamung in den Beitrittsländern zur Folge haben. Am meisten wären davon die kleinen und offenen Wirtschaften in Mitteleuropa betroffen.

wiiw-Experte Vasily Astrov hat diese Einschätzungen und die folgenden Prognosen auch in einem Video erläutert.

Vasily Astrov, Julia Grübler (wiiw Wien): Osteuropa trotzt dem globalen Gegenwind; Wirtschaftsanalyse und Ausblick für Mittel-, Ost- und Südosteuropa und Österreichs Beziehungen zur Region; wiiw Forschungsbericht 14, Juli 2019; siehe auch Präsentation und Video mit Vasily Astrov; 04.07.2019
Titelbild
Titelbild: Kulturpalast in Warschau. Foto: bondvit / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps:

WIIW-Sommerprognose

Sonstige Berichte zur Konjunktur in Mittel- und Osteuropa